Ist man beim Ötztaler Radmarathon schneller, wenn man mit Profi-Material startet? Muss man verrückt sein, um dieses Rennen in Angriff zu nehmen? Und kommt es am Ende überhaupt auf die Zeit an, die auf der Uhr steht? Um das herauszufinden, hat sich unser Redakteur Tobi den Herausforderungen des berühmtesten Radmarathons gestellt.

238 km und 5.500 hm – die Eckpunkte des Ötztaler Radmarathons triggern bei Menschen, die nichts mit Rennrädern am Hut haben, meist eine der folgenden Reaktionen: „Du bist doch wahnsinnig!“ oder „In wie vielen Tagen machst du das?“ Ja, in gewisser Weise muss man ein bisschen wahnsinnig sein, um beim Ötztaler zu starten. Doch sind wir, die wir uns täglich mit Dropbar und schmalen Reifen in den Verkehr stürzen oder unendliche Trainingskilometer sammeln, das nicht alle?

Am Wahnsinn sollte es also nicht scheitern, als Trek fragte, ob ich Lust hätte, den Ötztaler zu fahren. Highend-Rennrad, Leistungsanalyse und Trainingssteuerung, maßgefertigte Einlegesohlen und ein Start aus dem ersten Startblock inklusive. Ja, ich hatte Bock! Wann hat man schon mal solche Voraussetzungen für den Ötztaler? Und zur Eingangsfrage, in wie vielen Tagen ich das mache? An einem. In unter acht Stunden. So zumindest der Plan.

Material, Training, Betreuung – Plötzlich Profi?

Letztes Jahr hatte ich noch knapp 20.000 Trainingskilometer vorzuweisen – seit ich Anfang des Jahres bei GRAN FONDO angefangen habe, wurden es paradoxerweise deutlich weniger … aber das ist eine andere Geschichte. Doch den Ötztaler kann fast jeder fahren – die Frage ist nur, wie lange es dauert. Dabei braucht der letzte gewertete Finisher in der Regel knapp doppelt so lang wie der Sieger. Unter 7 vs. über 13 Stunden. Dazwischen liegen Welten. Hinten: Weekend-Warriors, Neulinge, Workaholics. Es gibt endlose Gründe dafür, langsam zu sein, und manche machen es sogar absichtlich, um das Event in vollen Zügen genießen zu können. Vorne geht’s anders zu: Wer auf Sieg fährt, muss über Jahre hinweg trainieren wie ein Profi.

Den Ötztaler kann jeder fahren – für manche reicht nur ein Tag nicht aus …

Ich liege grundsätzlich zwischen den beiden Extremen. In Sachen Material und Betreuung stand ich bei diesem Rennen aber auf der Seite der Profis: Von Trek bekam ich für den Ötztaler das Émonda SLR 9 eTap zur Verfügung gestellt, exakt dasselbe Bike aus unserem letzten Vergleichstest. Für das richtige Training in den letzten zwei Monaten vorm Rennen sollten eine Leistungsanalyse von TRAINALYZED und ein darauf aufgebauter Trainingsplan sorgen. Mit dieser Kombi werden schließlich auch die Profis vom TREK VAUDE Mountainbike Team fit gemacht. Für den letzten Feinschliff und die perfekte Kraftübertragung gab es ein Paar Winsole-Carbon-Maßsohlen in meine Schuhe. Sie sollen das Fußgewölbe stützen, dadurch die maximale Kraftübertragung gewährleisten und verhelfen einigen Profis zu Rennsiegen. Was mir das alles bringt? Sehr viel Freude – und die bittere Gewissheit: Material und Vorbereitung können jetzt nicht mehr als Ausrede für mangelnden Bumms in den Beinen herhalten.

Trek Émonda SLR 9 eTap Project One

14.299 €

Ausstattung

Sattelstütze Bontrager Carbon Seat Mast Cap, lang individuell 20 mm
Bremsen SRAM RED eTap AXS HRD 160/160 mm
Schaltung SRAM RED eTap AXS 2 x 12
Kettenblatt 48/35
Vorbau Bontrager Aeolus RSL 100 mm
Lenker Bontrager Aeolus RSL 420 mm
Laufräder Bontrager Aelous RSL 37 12 x 100/12 x 142 mm Steckachse

Technische Daten

Größe 47 50 52 54 56 58 60 62
Gewicht 6,86 kg

Besonderheiten

einteiliges Bontrager Aeolus RSL-Cockpit
beidseitiger Powermeter
integrierter Sitzdom
Bontrager DuoTrap Sensor vorbereitet

Schlechte Vorzeichen

Große Pläne und Profimaterial, das waren die Vorzeichen für meinen Ötztaler Radmarathon 2021. Damit wollte ich die 8 Stunden knacken. Aberglaube hin oder her: Mit dem Profimaterial war es am Freitag, den 13., erst mal vorbei. Eine schwarze Katze lief von rechts über die Straße – in Form eines süßen Fiat 500, der mich elegant über seine Motorhaube rutschen ließ. Kleiner Impact, große Wirkung: Das Trek Émonda war ein Totalschaden. Und das nur zwei Wochen vor dem Rennen.

Zwar haben mir die Jungs von Ridelust für das Rennen ein anderes Émonda SLR 9 eTap klargemacht, auf dem saß ich aber am Renntag zum ersten Mal. Ein unbekanntes Bike im Startgetümmel hinunter nach Ötz oder bei knapp 100 Sachen auf den Abfahrten von Kühtai und Timmelsjoch? Das ist selbst für einen erfahrenen Tester wie mich, der Bikes häufiger wechselt als seine Unterhose, nicht das beste Gefühl. Und die Vorzeichen für mein 8-Stunden-Ziel verschlechterten sich weiter.

Helm Bontrager Velocis MIPS | Brille Oakley Jawbreaker | Trikot MAAP Evade Pro Base | Bibs MAAP Team Bib Evo | Weste MAAP Draft Team Vest | Überschuhe VeloToze Road 2.0 long | Jacke POC Haven Rain Jacket

Ein Erdrutsch am Kühtai. Die Umleitung machte die Strecke etwas länger und sorgte für mehr Höhenmeter. Wenigstens entsprach jetzt beides den Werten, für die der Ötztaler berühmt ist, die er aber seit Jahren unterschreitet: 238 km und 5.500 hm über die vier Alpenpässe Kühtai, Brenner, Jaufenpass und Timmelsjoch, in genau dieser Reihenfolge. Ein unbekanntes Bike, eine Streckenverlängerung und eine Wettervorhersage, die schon am Vorabend für Schüttelfrost sorgte – innerlich hatte ich mich schon vor dem Start von meinem 8-Stunden-Ziel verabschiedet und beschlossen, mich einfach an meine Wattvorgaben zu halten und bergab nichts zu riskieren.

Der Mann mit dem Hammer

Wie viel Prozent meiner Schwellenleistung habe ich an den einzelnen Anstiegen getreten, wie viel Kohlenhydrate habe ich aufgenommen, wie viel Flüssigkeit zugeführt? Und wen interessiert das überhaupt? Ich verschone euch damit! Jedes Rennen ist anders. Jeder Körper ist anders. Man braucht einen Rennplan, der der eigenen Leistungsfähigkeit entspricht. Und Flexibilität, um auf Gegebenheiten am Renntag und das Drehbuch des Schicksals reagieren zu können. Große Ziele können in Sekunden zerstört sein. Dazu braucht es noch nicht mal einen Erdrutsch wie in meinem Fall – es reicht ein kleines Malheur, ein Plattfuß oder zu viel Motivation am ersten Anstieg. Warum? Wer hier zu viel investiert, bekommt spätestens am Timmelsjoch die Quittung in Form eines Leistungseinbruchs.

Am Kühtai fühlt man sich wie ein Gott – am Timmelsjoch wie ein gefallener Engel.

Der Ötztaler beginnt zwar in Sölden, richtig an die Substanz geht es aber erst ab dem Jaufenpass. Bis dahin heißt es, so wenig wie möglich zu investieren. Das bedeutet auch, dass man am eher flachen Anstieg zum Brenner die Nase nicht in den Wind streckt, sondern sich im Windschatten versteckt. Der Mann mit dem Hammer kommt früh genug – Wattvorgaben sind dann obsolet. Wenn man ihm bis zum Timmelsjoch entkommt, kann man glücklich sein. Doch spätestens dort findet das Rennen nicht mehr in den Beinen, sondern im Kopf statt. Wer ist stärker? Die Schmerzen in den Muskeln oder der Wille zur Selbstzerstörung? Tritt für Tritt schmuggelt man jetzt seine wimmernde Seele, die ständig nach dem Warum fragt, auf den höchsten Punkt des Ötztaler Radmarathons. Die letzte Abfahrt nach Sölden wirkt wie ein Schuss Serotonin und die Erlösung nach langem Leiden – pures Glück: Man hat es geschafft!

Die Frage ist nicht, ob wir unsere Ziele erreichen, sondern wie wir mit Rückschlägen umgehen.

In meinem Fall in 8 Stunden 55 Minuten statt der ursprünglich angestrebten 8 Stunden. Aber so ist es eben: Pläne und Ziele sind eine Orientierung. Das Leben hat oft einen anderen Plan. Egal wie das Ergebnis ist – wenn man alles gegeben hat, kann man am Ende stolz darauf sein. Beim Ötztaler reicht für manche selbst ihr Bestes nicht, um das Ziel zu sehen. Und auch das ist völlig in Ordnung. Denn am Ende geht es nicht um die Ziele selbst, sondern um den Weg dorthin: das Training, die Tüfteleien und Optimierungen am Bike, die Zeit mit Freunden auf dem Bike, die Auswirkungen auf Körper und Geist. Die Liste ist endlos … Wenn Pläne schief gehen und Ziele nicht erreicht werden – im Sport oder im Leben – gibt es drei Dinge zu tun: analysieren, woran es lag, abhaken und neue Ziele setzen! Wenn man dabei sein Bestes gibt, was nicht jeden Tag gleich und ohnehin für jeden unterschiedlich ist, dann wird es immer für etwas gut sein. Die Zeit wird zeigen, wofür.

Ötztaler Radmarathon – Traumhafter Wahnsinn

Man kann sich vor dem Rennen viele Fragen stellen und philosophieren, was gut, schlecht oder besser ist, um schnell oder überhaupt ins Ziel zu kommen. Doch nur wer es selbst versucht und sich der Herausforderung stellt, kann die Fragen wahrhaftig beantworten. Selbst wenn Pläne schief gehen und Träume platzen … that’s life. Dann bleiben immer noch atemberaubende Landschaften, ein traumhaft schmerzhafter Tag im Sattel und eine gute Anekdote. Muss man dazu ein bisschen wahnsinnig sein? Vielleicht!


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Text: Fotos: Ötztal Tourismus/Sportograf