Mensch vs. KI – dieser Battle findet mittlerweile überall statt, auch beim Bikefitting. Aktuell lassen sich nicht mehr nur Bikefitter über Google oder durch Empfehlungen finden, sondern auch Bikefitting-Apps und Webanwendungen. Ein Fitting aus der digitalen Welt bietet einfachen Zugang zur gesamten Thematik, bei einem vergleichsweise günstigen Preis. Aber ist auch das Ergebnis vergleichbar?

Radfahren ist mit großer Gewissheit nicht das günstigste Hobby. Viele (wir eingeschlossen) geben unglaublich viel Kohle für Bikes, Laufräder und Marginal-Gain-Produkte aus. Ohne die richtige Anpassung des Bikes an die Proportionen des eigenen Körpers kann es trotz High-End-Bike und hochwertigem Equipment aber sein, dass es im Knie oder der Rücken schmerzt, obwohl ein hoher 5-stelliger Betrag in die Leidenschaft investiert wurde. Ein riesiger Performance-Gewinn liegt meistens nicht im Keramiktretlager, sondern in der optimalen Biomechanik, aka. Sitzposition. Nach wie vor machen aber nur relativ wenige Rider ein Bikefitting. Fehlt das Wissen über die Vorteile? Ist es zu teuer? Oder zu aufwendig?

Eigentlich verrückt, wenn man bedenkt, dass das Bikefitting oft nur ein Bruchteil des gesamten Equipments kostet und, sofern das Bike nicht gewechselt wird, lange hilft. Viele stehen beim Thema Bikefitting vor einer Hürde. Mal fällt die Auswahl eines Fitters nicht ganz leicht, mal ist keiner in der Nähe und es fallen mehr als 3 Stunden Fahrzeit an. Und manchmal übersteigen die Kosten beim Fitter die Zahlungsbereitschaft. Denn ist das Ergebnis am Ende auch wirklich gut? Mit neuen, auf KI basierenden Anwendungen ist ein Fitting auch wesentlich günstiger und einfacher möglich. Kann KI einen Bikefitter ersetzen? Führt ein Fitting beim Fitter oder einer digitalen Anwendung mit Sicherheit zum perfekten Fit, oder ist das auch Glückssache? Wir gehen all diesen Fragen auf den Grund und haben dazu das neue Bike von unserem Redakteur Martin einstellen lassen: zum einen durch zwei verschiedene digitale Anwendungen, zum anderen von zwei Bikefittern. Den Fitting-Prozess und die Ergebnisse haben wir für euch verglichen.

Theorie – FAQ zum Thema Bikefitting

Um die Grundlagen des Themenkomplexes Bikefitting zu verstehen, haben wir unsere Fitter gefragt, was Bikefitting eigentlich ist, wer davon profitiert, an welcher Stellschraube am meisten gedreht wird und einiges mehr.

Was bedeutet Bikefitting?

Bikefitting beschreibt im Wesentlichen das Einstellen des Bikes nach der Zielsetzung und den physischen Gegebenheiten des Riders. Im Vordergrund stehen ergonomische Gesichtspunkte und die optimale Kraftübertragung. Die Anpassungen betreffen alle Stellschrauben am Bike, von der Sattelhöhe über Lenker-Winkel bis hin zur Cleat-Positionierung an den Schuhen. Dabei werden sowohl objektive Gesichtspunkte wie Streckungen und Gelenkwinkel betrachtet als auch das subjektive Empfinden der gefitteten Person.

Was bringt ein Bikefitting?

Im Wesentlichen zielt ein Bikefitting auf die Komponenten Komfort und Performance ab. Beide Aspekte sollen durch ein Fitting optimiert werden. Im besten Fall kann man nach einem Bikefitting lange Zeit ohne Schmerzen auf dem Rad sitzen und erlebt einen Performance-Boost durch eine verbesserte Kraftübertragung.

Wann sollte man ein Bikefitting machen?

Entweder vor oder nach dem Kauf eines Bikes. Also, um den idealen Rahmen beziehungsweise die passende Größe zu finden oder um das eigene Bike ideal einzustellen. Auch wer immer mehr und länger fahren möchte, profitiert von einem Bikefitting. Vor allem ist es dann relevant und wichtig, wenn es beim Radfahren zu Schmerzen, Taubheitsgefühlen oder ähnlichen Ausfallerscheinungen kommt.

Was sind die typischen Vorbehalte gegenüber Bikefitting?

Oft scheint eine Grundskepsis gegenüber dem Bikefitting zu bestehen. Das reicht von dem Gefühl „die wollen mir nur was verkaufen“ bis hin zu „so was brauchen nur Profis“. Bei einigen steht aber auch die Grundeinstellung „bisschen Schmerzen gehört halt zum Fahrradfahren dazu“ im Weg. Wieder andere denken, dass sie es auch alleine oder mit YouTube schaffen. Manchmal fehlt auch das Vertrauen in das Handwerk.

Wer braucht kein Fitting?

Alle können von einem Bikefitting profitieren! Ob es jemand wirklich braucht, hängt von der eigenen Zielsetzung ab. Aber mal in Relation gesetzt: Wer braucht Keramiklager für 600 €?

Wo liegen die meisten Beschwerden der Fahrer?

Allen voran gibt es Probleme in der Schambeinregion. Die Top 1 beim Fitting liegt demnach definitiv im Sattelbereich. Auch Nacken und Knie sind oft Schwachpunkte, gerade bei langen Fahrten, und können viele Beschwerden verursachen.

An welcher Stellschraube wird am meisten gestellt?

Fast immer wird an der Sattelhöhe optimiert.

Gibt es „unlösbare“ Fälle?

Naja, es gibt manchmal eine Lösung, die wir nicht parat haben. Das heißt, manchmal dauert die Suche einfach viel länger als nur über ein Bikefitting. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn die neue Sitzposition sich nicht richtig anfühlt.

Wie viel Arbeit eines Bikefitters ist heute noch manuell/persönlich und wie viel wird vom System/Computer erledigt?

Ohne den kommunikativen Austausch ist ein ideales Fitting kaum möglich. Die technischen Hilfsmittel tragen zwar viel bei, aber ohne ein Feedback des Sportlers ist das nur wenig wert. Das Verhältnis von 60/40 (Mensch/Maschine) scheint realistisch.

Praxis – 4 Bikefittings, 1 Setting

Um herauszufinden, wie objektiv Bikefitter sind und ob Bikefitting-Apps ihnen das Wasser reichen können, haben wir unseren Redakteur Martin als Tester auserkoren. Sein neues Bike, ein Fairlight Strael, und sein Vorhaben, das zu finnischen, bilden die Eckpfeiler aller Fittings. Dementsprechend ist die Zielstellung, das neue Bike vor allem komfortabel, aber auch performant einzustellen. Daneben soll das neue Setup aber auch für Bikepacking-Trips, Brevets und diverse Langstreckenfahrten taugen. Martin hat 4 Bikefittings mit dem gleichen Bike gemacht, zwei davon mit Apps und zwei mit Bikefittern. Nach jedem Fitting wird die Ausgangsposition wiederhergestellt. Diese ist nicht zu 100 % original: Nach 300 Kilometern mit dem neuen Bike hatte Martin bereits den Vorbau von 110 auf 80 mm verkürzt, da sein Rücken die Streckung nicht so gut verkraftete. Den Rest hatte er nach Gefühl eingestellt – diese Einstellung diente dann als Ausgangslage für jedes Fitting.

Bikefitting-Apps

Das Angebot an Bikefitting-Apps ist überraschend übersichtlich. Vor allem, wenn man im direkten Vergleich die unzähligen lokalen Bikefitter und YouTube-Videos zum Thema Bikefitting heranzieht. Aktuell stehen im App Store von Apple sowie Android nur eine Handvoll Bikefitting-Apps zum Download bereit. Hinzu kommt die Plattform MyVeloFit, die nicht per App, sondern über den Browser funktioniert. Wir haben uns diese Anwendung und die App Apiir genauer angesehen. Ein wichtiger Hinweis: Für ein Bikefitting per App bzw. Software ist neben der Anwendung ein Rollentrainer und ein Stativ sowie ein Handyhalter nötig. Zudem ist ein gutes Verständnis der englischen Sprache vonnöten, inklusive Fahrrad-Vokabular. Wir konnten keine App in einer anderen Sprache finden. Ein paar technische Grundlagen für das Setup und zum Anpassen des Bikes sind natürlich auch notwendig.

Apiir

Das Bikefitting läuft bei Apiir komplett über die App. Alle Eingaben, Videos und Auswertungen finden ausschließlich mit und auf dem Smartphone statt. Für einen Preis von 24,99 € gibt es sieben Tage unbeschränktes Fitting für ein Bike. Das heißt, innerhalb dieses Zeitraums können immer wieder Anpassungen am Bike vorgenommen und geprüft werden. Der Prozess beginnt mit der Anmeldung und der Eingabe verschiedener personenbezogener Daten. Im Anschluss wird mit einem Bodyscan der grobe Körperbau bestimmt. Der anschließende Mobilitätstest besteht lediglich aus einer Übung: Touch the toes – die Zehen mit durchgestreckten Beinen und Rücken berühren. Damit soll die Beweglichkeit der „Hamstrings“ überprüft werden. Das ist eine Gruppe von drei Muskeln an der Rückseite des Oberschenkels. Sie sind maßgeblich für die Beugung des Kniegelenks verantwortlich. Das Ergebnis wird anhand amerikanischer Schulnoten mitgeteilt: Grade A bis F.

Als nächstes wird das Bike-Profil erstellt und die Vorbaulänge angegeben. Außerdem lässt sich durch die drei Profile Comfort, Sport und Aero angeben, wie das grobe Nutzungsszenario aussieht. Es folgt die Fahrt auf dem Trainer, die auf Video aufgenommen wird. In sogenannten Schritten lassen sich verschiedene Videos aufnehmen. Jeder Schritt ist eine Analyse der eigenen verschiedenen Winkel an Knie, Hüfte, Schulter und Ellbogen, die mit einer Auswertung über Balkendiagramme und empfohlenen Veränderungen einhergehen. So gelangt man schrittweise zur idealen Sitzposition. Am Ende schließt man das Bikefitting ab, indem die Werte Seatback und Sattelhöhe eingetragen werden.

Alles in allem ist die App sehr übersichtlich und einfach gestaltet. Das reine Bikefitting mit leichten Veränderungen wie Sattelposition dauert um die 60 Minuten. Insgesamt bekommt man so ein solides Ergebnis, aber wenig Erläuterungen und Informationen. Mit dem neuesten App-Update möchte Apiir jedoch mehr Infos und Education integrieren. 7 Tage sind nicht besonders viel Zeit, wenn man die Einstellungen ausführlich testen möchte. Darum gilt es, diesen Zeitraum bewusst zu wählen.

MyVeloFit

Bei MyVeloFit läuft alles über die Website des Anbieters, vom Registrieren über das Einloggen bis zum Fitting. Drei verschiedene Preis-Optionen werden angeboten:

Starter: grobes Fitting für einen Fahrer und ein Bike: 0 $
Enthusiast: ein Bike, ein Fahrer, zwei Wochen komplettes Fitting und Analyse: 35 $
Pro: ein Fahrer, unbegrenzte Fittings, unbegrenzte Bikes, komplette Analyse für ein Jahr: 75 $

Zusätzlich wird eine Experten-Analyse durch Jesse Jarjour (Co-founder and CEO) für 75 $ angeboten. Neben Bikefitting bietet MyVeloFit auch die Möglichkeit, die passende Rahmengröße zu ermitteln. Das funktioniert über zwei Marker, die man drucken sowie am Körper des Riders anheften muss, und einen anschließenden Bodyscan.

Das Bikefitting läuft im Wesentlichen ähnlich wie bei Apiir: Profil erstellen, Angaben zur Person machen (Alter, Größe, Gewicht, Erfahrung in Jahren). Im Anschluss ist es notwendig, einen Mobilitätstest per Video aufzunehmen. Das geht entweder mit der Smartphone-Kamera oder in einer Beta-Version auch per Webcam im bzw. am Laptop. Für die untere Körperpartie müssen dabei drei Übungen am Stück vollzogen werden: tiefe Kniebeuge mit angehobenen Armen, „Touch the toes“ sowie Beine anwinkeln und dabei ausstrecken. Die Beweglichkeit des Oberkörpers wird via Schultermobilitäts-Test ermittelt, bei dem die Arme hinter dem Rücken zusammengeführt werden sollen. Im Anschluss werden die Videos auf der Website hochgeladen. Die Einschätzung über die Beweglichkeit wird über eine Smiley-Skala mit drei Werten vermittelt. Ein Beispiel:

Hamstring Mobility: 🙂 Great
Hip Mobility: 😐 Neutral
Lower Back Mobility: 😐 Neutral
Shoulder Mobility: ☹️ Limited

Im Anschluss startet man eine „Fit Session“, bei der Name, Fit Goal (drei Optionen namens comfort, comfort/performance und performance) und Bike-Name sowie -Typ festgelegt werden. Im Anschluss findet das Fitting auch hier über die Videoanalyse statt. Dazu gibt es eine genaue Anleitung inklusive Tipps und Tricks, wie das Ergebnis am besten wird. Die Videoaufnahme wird auf der Website hochgeladen. Das Video muss dafür vorher auf den Rechner übertragen oder direkt auf dem Handy-Browser hochgeladen werden. Anschließend erhält man zuerst Vorschläge für Veränderungen sowie eine durch Balken dargestellte Analyse, ob man sich im Optimum oder daneben befindet. Darunter gibt es eine sehr ausführliche Analyse der verschiedenen Winkel innerhalb der verschiedenen Pedalpositionen während der Pedalumdrehung. Auch hier sind etwa 60 Minuten für die gesamte Prozedur notwendig.

Bei MyVeloFit fühlt man sich durch den relativ umfangreichen und aussagekräftigen Mobilitätstest umfassender analysiert und auch die Auswertung geht tiefer verglichen zur Apiir-App. Trotzdem haben wir dieselben Ergebnisse und Handlungsempfehlungen wie bei der Bikefitting-App erhalten. Durch die Bewertung der verschiedenen Mobilitätsbereiche ergeben sich auch Handlungsmöglichkeiten hinsichtlich Übungen zur Beweglichkeit, aber keine Anweisungen. Auch die Beispielvideos und „Tipps und Tricks“ geben einem das Gefühl, alles richtig zu machen. Die Oberfläche der Website wirkt eher funktionell, aber dafür auch übersichtlich.

Zwischenfazit – Bikefitting-App bzw. -Anwendung

Im Wesentlichen haben die Bikefitting-Apps bzw. Anwendungen das gleiche Vorgehen. Anhand einer Video-Analyse von Bike und Rider werden Untersuchungen zu verschiedenen Faktoren durchgeführt. Anhand dieser Datengrundlage werden Empfehlungen zur Sitzposition und Handlungsmöglichkeiten ausgegeben. Das kann zum Beispiel bedeuten, den Sattel weiter vor- bzw. zurückzuschieben oder die Vorbaulänge anzupassen. Der Zeitaufwand ist sehr überschaubar und die Ergebnisse geben eine grundlegende Übersicht über die eigene Sitzposition auf dem Bike. Keine Beachtung finden die Cleats, Lenkerbreite und Winkel der Hoods. Auch die Winkel der Hand- sowie Fußgelenke werden nicht berücksichtigt. Für den Preis von 25 € bei Apiir bzw. 75 $ bei der MyVeloFit Pro-Version ist das sicher in Ordnung. Vor allem MyVeloFit kann sich hier lohnen, wenn mehrere verschiedene Bikes in der Garage stehen.

Bikefitting in Persona

MotionLab Leipzig

MotionLab ist ein auf Bewegungsanalyse spezialisiertes Unternehmen mit den Standorten Leipzig und Magdeburg. Neben Bikefitting bieten die Fitting-Experten unter anderem auch Laufanalysen, Leistungsdiagnostik und Trainingssteuerung an. Sie arbeiten dabei mit verschiedenen Techniken und Herangehensweisen, unter anderem gebioMized. Ein Schwerpunkt liegt auf der Betrachtung der Physis durch die Analyse der Beweglichkeit und das Herausstellen von Instabilitäten. Unser Fitter Tom Hoffmann arbeitet hier in Leipzig schon seit über 9 Jahren. MotionLab bietet drei Bikefitting-Pakete an: Basic, Pro und Premium. Der Kostenpunkt liegt dementsprechend zwischen 159 bis 299 Euro für etwa 75 bis 180 Minuten Bikefitting. Beim Basic Paket für 159 € gibt es neben einer Funktionsdiagnostik nur eine seitliche Videoanalyse. Beim Paket Pro (das wir bekamen) gibt es für 219 € dazu noch die Satteldruck- oder Innenschuhdruckmessung und eine frontale Videoanalyse. Beim Premium-Paket sind in den 299 € Satteldruck- und Innenschuhdruckmessung beinhaltet.

Das Bikefitting bei MotionLab startet mit einem ausführlichen Anamnesegespräch und der anschließenden Untersuchung der körperlichen Gegebenheiten. Tom führt verschiedene Beweglichkeits- und Krafttests durch. Die Ergebnisse werden ausführlich besprochen. Im Wesentlichen ist die Mobilität bei Martin ausreichend, aber noch nicht auf einem hohen Niveau. Wichtigste Erkenntnis ist aber, dass verschiedene unterstützende Muskeln in den Beinen nicht genügend ausgeprägt sind. Um das wieder auszugleichen, hat Tom drei Stabi-Übungen parat, die regelmäßig durchgeführt werden sollen.

Danach folgt eine Video- und Satteldruckanalyse. Die Ergebnisse ermittelt Tom selbst, live am Computer. Das sind im Wesentlichen Winkel aller Gelenke und die Betrachtung des Nackens. Nach der Auswertung dieser Daten werden erste Anpassungen vorgenommen. Im Anschluss geht es an die Einstellungen der Cleats. Das passiert über den natürlichen Fußwinkel, der im Normalfall leicht nach außen rotiert. Dann sitzt man wieder auf dem Bike und die Video- und Satteldruckanalyse wird erneut durchgeführt. Zusätzlich wird noch die Winkel der Bremsschalthebel neu ausgerichtet und an Vorbaulänge und Lenkerhöhe geschraubt. Dieser Prozess wird so lange wiederholt, bis der Trade-off aus Gefühl und Analyse so nahe wie möglich am Ideal ist.

Der Austausch zwischen Fitter und Rider ist bei MotionLab zentral. Das heißt konkret, die technische Analyse und das individuelle Gefühl gehen Hand in Hand. Am Ende entscheidet aber immer die eigene Empfindung darüber, ob ein Setup so passt oder nicht. Das kann auch bedeuten, dass die Werte aus Winkeln und Satteldruck vielleicht nicht mehr oder noch nicht dem Optimum entsprechen. Das kann auch bedeuten, dass der Bikefitting-Prozess länger dauert als der Paketpreis es vorgibt. Bei unserem Vorgang sind es am Ende ziemlich genau 2,5 Stunden gewesen.

Torsten Hiekmann mit dem Retül-System

Torsten Hiekmann ist ehemaliger Radsportprofi und fuhr im Team Telekom und Team Gerolsteiner, unter anderem mit Erik Zabel. Heute arbeitet er als Coach und Bikefitter in Jena und Radebeul. Dafür nutzt Torsten seit mehr als 12 Jahren das Retül-System, das maßgeblich von Specialized entwickelt wurde. Durch das mobile Setting kann es fast überall, also standortunabhängig, aufgestellt werden. Wir haben uns für den Bikeshop Lucas Bikes in Blankenhain mitten in Thüringen entschieden. Torsten ist mit den Inhabern befreundet und das Ambiente für ein Bikefitting mehr als angemessen. Bei Torsten kostet jedes Bikefitting 250 €, egal wie lang es genau dauert.

Auch hier beginnt ein Bikefitting mit einer Bestandsaufnahme der körperlichen Gegebenheiten. Die Anamnese geht von den Fußsohlen bis zum Kopf und soll den Status quo aufzeigen. Bei Martin waren das vor allem Haltungsdefizite wie O-Beine und ein Schulterschiefstand. Zwei Übungen gab Torsten an die Hand, um das in den Griff zu bekommen. Torsten nutzt aber auch Tools, um den Sitzknochenabstand und Fuß(fehl)stellung zu ermitteln. Hier zeigt sich bei unserem Redakteur eine unterschiedliche Fußlänge um eine ganze Größe! Krass! Außerdem diagnostiziert der Ex-Radsportprofi einen Hohlfuß auf der rechten Seite. Auch krass! Schuhe also lieber eine halbe Nummer größer kaufen und spezielle Einlagen rein, check. Bei der bisher gewählten Sattelgröße hatte Martin den richtigen Riecher: Sie passt auf die ermittelten Ergebnisse. Zusätzlich stellt der Bikefitter noch die Cleats am Schuh ein.

Torsten gibt dann alle Daten inklusive Alter, Größe etc. in eine Retül-Maske ein. Hier wird auch die Zielsetzung des Riders diskutiert. Danach geht es aufs Rad, auf dem man verschiedene Messpunkte angeklebt bekommt, die im Anschluss verkabelt werden. Nach kurzem Einfahren beginnt die Analyse durch das Retül-System. Es erfasst im Wesentlichen alle Winkel der verschiedenen Extremitäten. Anschließend interpretiert der Ex-Rennradprofi die Ergebnisse. Es gibt, ähnlich wie bei den Apps, eine Range von Winkel X bis Winkel Y, die ideal sind. Danach werden Anpassungen vorgenommen und auf die Veränderung der Werte geschaut. Torsten checkt dabei aber auch selbst nochmal, ob er Auffälligkeiten feststellen kann und nimmt bei Bedarf nochmals Veränderungen vor.

Da es bei Martin nur wenig anzupassen gibt, hat unsere Bikefitting-Session knapp über zwei Stunden gedauert. Genau wie bei MotionLab bekommt man hier eine umfassende, sympathische und freundschaftliche Betreuung. Man merkt Torsten die vielen Jahre des aktiven Radsports an. Seine Expertise geht weit über das reine Fitting und vor allem über das Retül-System hinaus. Denn das letzte Wort hat bei ihm nicht Retül, sondern seine Beurteilung.

Die Ergebnisse

Martin hatte sich das Bike vor den Fittings nach Gefühl eingestellt. Das war irgendetwas zwischen einer entspannt aufrechten und wenig gestreckten Sitzposition. Daher ist das wichtigste Ergebnis vorweg: Wer schon ein paar Jahre und viele Tausende Kilometer im Sattel sitzt, hat eine grobe Vorstellung, ob und wie ein Bike passt. Eine gesunde Selbsteinschätzung, vorausgesetzt.

Zweite wichtige Erkenntnis: Bikefitter und Apps nutzen im Wesentlichen dieselben Parameter, nämlich Gelenkwinkel und das Verhältnis derer im Bewegungsablauf dazu. Dazu kommen die physischen Gegebenheiten und Bewegungsmuster, die der Rider mitbringt. Ein Fitter nutzt aber viel mehr als nur ein paar Mobilitätstests. Die Bewegungsmuster, Beschwerdebilder und gegebenenfalls Krankengeschichte spielen eine ebenso entscheidende Rolle wie Fehlhaltungen. Dazu kommen noch die Cleats der Schuhe, die einen wesentlichen Bestandteil an Kraftübertragung und Komfort haben, die bei keiner getesteten Bikefitting-App betrachtet wurden. Alles, was über die eindimensionale Betrachtung des Bikes von der Seite hinausgeht, wird aktuell von Bikefitting-Apps nicht bewertet.

Ein weiteres Ergebnis, speziell beim Vergleich der Fitter: Beide haben unterschiedliche Schwerpunkte und Ansätze. Beide konnten unterschiedliche, aber dafür wichtige Impulse setzen. Bei Torsten waren es beispielsweise die empfohlenen Einlegesohlen, bei Tom das Training der Stützmuskulatur und die richtige Winkeleinstellung der Bremsschalthebel. Darüber hinaus ist die Erfahrung eines einzelnen Bikefittings sehr prägend und nachhaltig. Wer einmal fühlt, wie sich die ideale Sitzposition anfühlt, kann das auch auf andere Bikes übertragen. Das trifft zu großen Teilen auch auf die digitalen Anwendungen zu.

Eine sehr wichtige und zentrale Erkenntnis bei allen durchgeführten Fittings und ein Ansatz, der sicher bei vielen von uns wenig Beachtung findet, ist die Wichtigkeit der Mobilität. Biken und Trainieren heißt nicht nur, stundenlang in die Pedale zu treten, sondern auch seine Hausaufgaben in Form von Mobility-Routinen, aka Dehnübungen, zu machen. Die Beweglichkeit hat offensichtlich einen maßgeblichen Einfluss auf die Sitzposition sowie die Performance. Aber auch die passive Muskulatur, also alle Muskeln, die nicht direkt an der Kraftübertragung beteiligt sind, müssen Beachtung finden und gefüttert werden.

Und wie fühlen sich die Ergebnisse am Ende an? Obwohl es bei all unseren Fittings – von den 1,8 cm Sattel-Absenkung bei Apiir mal abgesehen – keine sehr großen Änderungen gab, ließen sich schon durch die kleineren Änderungen spürbare Unterschiede erzielen. Sowohl im Wohlfühlfaktor als auch der Kraftübertragung gab es so ein paar Verbesserungen. Natürlich haben wir vorher insgeheim gehofft, dass nach einem Fitting einfach alles leichter, schneller und besser wird. Sodass auf einmal die Strava-Rekorde purzeln und die FTP-Schwelle um einiges steigt. Natürlich ein Wunschtraum. Aber sonst würden ja auch zu viele die Podiumsplätze von “Race around X” bis zu “Race across Y” stürmen;) Aber es gibt ja auch mehr als das Treppchen: Das gute Gefühl auf dem Bike während der gesamten Rides und Vorbeugung von Beschwerden. Und das können wir durch das Fitting erreichen. Man investiert für das gute Gefühl von Sicherheit. Ein wenig wie bei einer Versicherung. Danach bleiben nicht mehr die Fragen im Hinterkopf, ob Bike und Einstellungen so auch wirklich passen. Martin hat nun Gewissheit, dass sein Fairlight Strael und er optimal aufeinander eingestellt sind. Das ist wirklich eine große Erleichterung, für die sich die Investition an Zeit und Geld absolut lohnt.

Motion Lab Retül Apiir MyVeloFit
Vorbaulänge 10 mm länger bleibt bleibt bleibt
Lenkerhöhe 10 mm höher bleibt bleibt noch ok, könnte aber auch noch etwas höher sein
Lenkerbreite bleibt bleibt keine Messung und keine Angabe keine Messung und keine Angabe
Sattelposition 4 mm weiter vorne Sattel ist 7 mm nach vorn gewandert 3 mm nach vorn bleibt
Sattelhöhe bleibt 3 mm höher 1,8 cm senken bleibt
Cleats 6 mm nach vorn 8 mm nach vorn keine Messung und keine Angabe keine Messung und keine Angab
weitere Infos und Hinweise – verschiedene Ausgleichsübungen und Dehnungen für Stabilität notwendig
– Schalt-Bremshebel-Kombi wurden mehr nach außen gedreht
– Füße sind fast eine Nummer unterschiedlich groß
– rechter Fuß hat große Hohlfußneigung, Handlungsempfehlung -> Einlegesohlen
– viel Dehnen, vor allem Hüfte öffnen
– Schultermobilität ist nicht ausreichend

Für wen passt welches Bikefitting-Modell?

Für Einsteiger, die sich gerade an das Thema Dropbar-Bike herantasten und gerade ihr erstes Bike gekauft, aber wenig Erfahrung haben, ist die App Apiir gut geeignet. Sie bietet eine schnelle, relativ günstige und grundlegende Analyse, ob Bike und Rider zusammenpassen und was grundlegend angepasst werden kann. Wer schon länger auf dem Bike unterwegs ist und sogar verschiedene Fahrrad-Kategorien im Keller hat, der kann sich mit MyVeloFit ziemlich gut an die ideale Sitzposition herantasten. Alle, die ambitioniert biken und eine professionelle sowie umfangreiche Analyse zu ihrer Sitzposition wünschen, kommen an einem Bikefitting in Persona nicht vorbei. Die Nutzung von Bikefitting-Apps ist aktuell trotz schlauer KI noch nicht vergleichbar mit einem echten Bikefitting.

Fazit

Sowohl Mensch als auch Technik sind wichtige Faktoren für die ideale Sitzposition. Dabei bezieht sich die menschliche Komponente auf das Zusammenspiel von Rider und Fitter. KI und Bikefitting-Apps können zum Herantasten an eine solide Sitzposition helfen, bis dato ist aber keine tiefgreifende Analyse möglich. Auch Handlungsempfehlungen über die eindimensionale Betrachtung heraus können Apps nicht leisten. Fitter sind „auch nur“ Menschen und bringen daher ihre eigenen Einflüsse und Charaktereigenschaften mit ins Bikefitting ein. Komplett objektiv können sie nicht sein, sie interpretieren ja nur die gefühlten Fakten des Riders und setzen sie ins Verhältnis zu den messbaren Werten. Martin übernimmt neben dem guten Gefühl nach dem Fitting eine Kombination der Ergebnisse beider Bikefitter. Denn wir wissen, dass „die Glocke des Glücks nur dann erklingt, wenn man die Hälften geschickt zusammenbringt“.


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Text & Fotos: Martin Staffa