MAHLE dürfte vor allem Automobil-affinen Radfahrern ein Begriff sein. Als einer der größten deutschen Automobil-Zulieferer haben sich die Stuttgarter mit ihrem Know-how einen Namen gemacht. In der Bike-Branche hingegen ist das Unternehmen trotz Partnern wie Specialized, SCOTT und ORBEA noch eher unbekannt – das soll sich ändern. Wie will MAHLE das erreichen? Und genügt die Auto-Expertise dafür? Ein Besuch im spanischen Palencia soll Antworten bringen.

Von der Automobil-Branche zum Big-Player im E-Bike-Business. Kommt euch bekannt vor? MAHLE strebt eine ähnliche Erfolgsgeschichte an. In der Heimatstadt des Unternehmens, Stuttgart, ist MAHLE als großer Arbeitgeber bekannt, fällt aber nach den drei Riesen Mercedes, Porsche und Bosch oft hinten runter. Letztgenannter hat es im E-BikeBereich schon zu großem Erfolg gebracht. MAHLE ist hier noch ein eher unbekannter Weggefährte, trotz großer Investitionen und ebenso großem Erfolg in diesem Segment. Mit den beiden Nabenmotoren X35 und X20 haben die Stuttgarter schon zwei Exemplare für die Hinterachse mit Potenzial im Portfolio, die in zahlreichen E-Rennrädern namhafter Hersteller verbaut sind und mit dem Design & Innovation Award ausgezeichnet wurden. In Sachen Mittelmotor hat MAHLE in Kooperation mit dem Premium-Hersteller Specialized ebenfalls bereits bewiesen, was sie drauf haben und will das Antriebskonzept bald für alle Hersteller zugänglich machen. Warum es die Stuttgarter dafür in den Norden Spaniens verschlagen hat, wie dort an neuen Motoren getüftelt wird und was MAHLE sonst noch plant, haben wir bei einem spannenden wie erkenntnisreichen Hausbesuch herausgefunden.

MAHLE – ¿Hablas español?

Warum sitzt die E-Bike-Sparte eines deutschen Traditionsunternehmens im spanischen Palencia? MAHLE hat über 70.000 Mitarbeiter und agiert international. Hier in Spanien war früher die Firma ebikemotion, die von MAHLE Ende 2018 samt Standort und Mitarbeitern akquiriert wurde. Die Region im Westen Spaniens bietet sich ideal für umfangreiche Tests von E-Bike Motoren an. Gelegen im kastilischen Hochland, sind Berge und Trails direkt vom Office aus zu erreichen und die Straßen fürs Roadbike-Testing kurvig und wenig befahren – das milde Klima garantiert außerdem fast ganzjährig ideale Testbedingungen. Alle Mitarbeiter können sich Bikes leihen und damit pendeln oder Testrunden fahren. Neben den – großteils Fahrrad-begeisterten Mitarbeitern – verfügt MAHLE auch über Testfahrer mit verschiedenen Skill-Levels. Die Daten der Testflotte werden aufgezeichnet und penibel ausgewertet, die Motoren regelmäßig zerlegt und auf Verschleiß geprüft. Die Realtests bringen wichtige Erkenntnisse parallel zu den zahlreichen Labortests. Um von der Expertise deutscher Mitarbeiter vor Ort zu profitieren, werden zum Teil Expats (ins Ausland entsandte Mitarbeiter) wie der Testchef Manuel Pal entsendet. Auch der Chef von SmartBike Systems, Jochen Sommer, kommt ursprünglich aus Stuttgart und hält die deutsche Unternehmenskultur vor Ort hoch.

Testchef Manuel Pal und …
… Jochen Sommer haben deutsche Wurzeln, aber im spanischen Palencia ein zweites Zuhause gefunden.

MAHLE – leichter Undercover-Erfolg, aber Flaute in der Öffentlichkeit?

MAHLE ist als Automobilteilezulieferer für Verbrennungsmotoren bekannt, der sich zunehmend neue Geschäftsfelder im Bereich der Elektromobilität erschließt. Im E-Bike-Segment hat das Unternehmen bisher eher auf kleiner Flamme gekocht, will aber in Zukunft den Hahn voll aufdrehen. Immerhin zeigt MAHLE sich für das erste Light-E-Mountainbike mit Mittelmotor mitverantwortlich: das Specialized Levo SL und das später erschienene Kenevo SL, die den Specialized SL1.1-Motor (ein ungebrandeter MAHLE-Motor mit nur 1,95 kg) mit 35 Nm in einem extrem leichten und potenten E-Bike mit einem 320 Wh großen Akku verknüpft haben. Die beiden Pionier-Bikes haben einige Auszeichnungen gewonnen, darunter den renommierten Design & Innovation Award (zum Specialized Kenevo SL Award). Trotzdem hat MAHLE vom Ruhm der Specilized-Bikes nicht viel abbekommen. Es gibt Gerüchte, dass Specialized und MAHLE die Kooperation weiter aufrechterhalten oder sogar ausbauen wollen, aber es ist unklar, wie viel davon wahr ist. Im Bereich der Nabenmotoren hat MAHLE mit dem X20 Erfolge in sportlichen E-Roadbikes wie dem SCOTT Addic eRIDE und dem BMC Roadmachine AMP One gefeiert. Aber auch hier war der Erfolg eher unauffälliger Natur – trotz klarer Bekenntnis der Bike-Brands zum Motorenhersteller MAHLE. Der X20-Motor ist kompakt hinter dem Ritzelpaket versteckt und somit von der Seite kaum sichtbar. Ein Mini-LED-Display auf dem Oberrohr leuchtet in verschiedenen Farben, aber der einzige wirklich sichtbar gebrandete Teil ist der Knopf. Dieses Understatement entspricht nicht der Performance der Produkte und es könnte sein, dass MAHLE mit einem offensichtlicheren Marketing und neuen Produkten mehr Erfolg im Bike-Markt haben würde, was auf jeden Fall zur intensiven Entwicklungsarbeit und Qualität von MAHLE passt – wie wir vor Ort sehen konnten.

Leiter von Forschung und Entwicklung ist unter anderem Jaume Jumbert.
Head of Strategy & Business Development ist Marco de la Serna.
Diego Rodriguez ist Global Marketing Manager von MAHLE SmartBike Systems.

Die 3 Säulen zum Erfolg – Digitalisierung, Digitalisierung, Digitalisierung

MAHLE ist nicht nur in der Hardware, sondern auch in Software-Themen sehr stark: insbesondere im Bereich Big Data. Die MAHLE My SmartBike App ermöglicht es, reale Markt- und Nutzungsdaten zu analysieren und trägt so massiv zur Optimierung der Produkte bei. Keine Sorge, es herrschen keine Orwell’schen Zustände – niemand wird aufzeichnen, wenn du dich nachts nochmal heimlich rausschleichst, um weiter zu trainieren, Trails zu ballern oder eben zur Geliebten fährst. Stattdessen werden sinnvolle Daten wie die Entfernung, der Fahrmodus, die Fahrtdauer und die Höhenmeter gesammelt. Auch Schnittstellen innerhalb der Daten werden gesucht, z. B. bei welcher Steigung der Modus gewechselt wird. Mit freiwilligen Daten wie Alter, Gewicht und Größe werden die Datensätze noch wertvoller für die Entwickler: So kann die Fitness des durchschnittlichen E-Bike-Nutzers eingeschätzt werden, um Motoren, Leistung und Unterstützungsstufen optimal anzupassen und weiter zu entwickeln. Das allgegenwärtige Ziel der großen Datensätze ist es, den optimalen Motor für den größtmöglichen passenden Nutzerkreis zu schaffen. Gleichzeitig können die Hersteller und Nutzer, die nicht ins Standard-Profil fallen, über die App Anpassungen vornehmen und den Motor und das Bike dadurch ideal für sich individualisieren. MAHLE schlägt so außerdem die Brücke vom Kunden direkt zum OEM, sprich Bike-Hersteller, der mit dem Zugriff auf die Daten seine Bikes besser an den prognostizierten Fahrertyp anpassen kann.

Wachstum und was die Zukunft von MAHLE noch so bringt

Es ist klar, in welche Richtung MAHLE wächst: nach oben. Das MAHLE SmartBike Systems bestand früher aus 20 Leuten, heute sind es 106, und der Anbau neben dem Komplex im spanischen Palencia macht deutlich: Es wird noch mehr. Aber es geht nicht nur um mehr Personal, sondern auch um mehr digitales Know-how und das Ökosystem drum herum. Der Motor soll verstehen, wer fährt, und sich an die Bedürfnisse und Vorlieben des Fahrers anpassen, bestenfalls in Echtzeit. Bis dahin haben OEMs durch die Datensammlung die Möglichkeit, ihre Bikes besser anpassen zu können. Auch in Richtung leichte E-Bike-Antriebskonzepte hat MAHLE ein klares Verständnis. Das Motor-Gewicht am E-Bike ist fix, aber das Gewicht des Akkus variiert je nach Kapazität und macht den größten Teil des Systemgewichts aus. Hier kann ein großer Datensatz helfen, die optimale Akkugröße zu ermitteln und damit das optimale Bike-Systemgewicht. Optional wäre es auch denkbar, dass der Hersteller mehrere leicht zu wechselnde Akkugrößen anbietet, um das perfekte Rad für jeden Endkunden zu schaffen. In diesem Zusammenhang steht auch der Range Extender von MAHLE, der neu gedacht wurde. Er dient nicht nur dazu, die Kapazität des Hauptakkus und damit die Reichweite zu erhöhen, sondern auch als große Powerbank, um mit dem Rad im Park den Laptop, die Boombox oder das Smartphone mit Strom zu versorgen – ein E-Bike-to-Device-Charger sozusagen. In Zeiten von Home-Office und flexiblen Arbeitszeiten ist das ideal. Auch im Bereich Marketing war MAHLE traditionell eher schwach, da es quasi nur Industriekunden gab. Seit gut einem halben Jahr hat MAHLE SmartBike Systems eine eigene Marketing-Abteilung, um die Bekanntheit zu steigern und für gute Kampagnen zu sorgen.

MAHLE Ride Out – Unterwegs mit dem X20-Nabenmotor

Natürlich waren wir mit dem MAHLE-Team auch in bester Gesellschaft auf dem Gravel-Bike unterwegs. Zur Auswahl standen ein 3T Exploro und ein Open-mold-Rahmen, den Mahle für seine Zwecke produzieren ließ – jeweils natürlich mit dem neuesten Hinterradnabenantrieb X20 ausgestattet. Zusammen mit dem R&D-Chef Jaume und seinen Entwicklungskollegen konnten wir den Motor mit völlig unterschiedlichen Setups ausgiebig testen und können sagen: Im Nabenmotor steckt noch viel Potenzial! Die Entwickler sind allesamt begeisterte Radfahrer mit einem umfangreichen Verständnis von dem, was sie tun und die Auswirkung davon aufs Motor- und Fahrverhalten. Beste Voraussetzungen für eine strahlende elektrifizierte Zukunft bei MAHLE.


MAHLE hat einen Plan: mithilfe großer Datensätze Motoren und Systeme an die Bedürfnisse der realen Nutzer anzupassen. Das ist sowohl für die Endkunden als auch für die Industrie von großem Mehrwert. Doch um dieses Credo zu verbreiten und gesehen zu werden, muss MAHLE aus der Nische herauskommen und mehr Bekanntheit, Reputation und Werte aufbauen. Das geht nicht von heute auf morgen, aber das spanische Tochterunternehmen aus Deutschland ist auf einem sehr guten Weg, dorthin zu gelangen.


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Text: Julian Schwede Fotos: Mike Hunger, Julian Schwede