Was sind die heißesten Gravel-Trends 2022/2023? Welche Rolle spielt die richtige Wahl der Reifen und warum ist die Allroundfähigkeit eines Bikes zugleich Fluch und Segen? Nach dem Test von 19 Gravel-Bikes haben wir 5 wichtige Erkenntnisse gewonnen und hier für euch gesammelt.

Gravel-Bikes sind bereits seit mehreren Jahren das Hype-Thema Nummer 1 unter den Rädern mit Rennlenker. Über die letzten Monate haben wir für euch die spannendsten Modelle der Saison auf Herz und Nieren getestet und dabei wichtige Erkenntnisse gesammelt, Trends identifiziert und Schlüsse für die Zukunft gezogen. Nun ziehen wir das Resümee und machen einen Strich unter unseren Vergleichstest. Die Essenz dessen, was dort steht, findet ihr hier.

1. Die Gravel-Gemeinde ist divers – DEN Gravel-Fan gibt es nicht

Noch nie in der Geschichte des Rennlenkers hat sich ein Markt für eine gewisse Art von Bike so schnell entwickelt und in so kurzer Zeit derart radikal verwandelt. Anbieter von Gravel-Bikes finden heute eine komplett andere Nachfragesituation vor, als es noch vor zwei Jahren der Fall war. Wir wollen hier nicht diskutieren, wer nun das Gravel-Bike erfunden hat und was der Grundgedanke dahinter war. Uns geht es darum, dass ein überwiegender Teil der Gravel-Bikes der ersten Stunde auf die eine oder andere Art eine Kreuzung war aus Rennrädern und Cross-Bikes – durchaus mit Einflüssen aus anderen Gattungen, aber mit dem größten Gewicht auf den Road-Bike-Genen. Doch der Gravel-Bike-Markt hat sich von diesem starken Roadie-Fokus weitestgehend emanzipiert und spricht jetzt eine eigenständige Käuferschicht aus allen Bereichen des Radsports an. „Der Gravel-Kunde“ kann folglich aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommen. Zu behaupten, es gäbe DIE Gravel-Kundschaft, ergibt genauso viel Sinn als würde man sagen, dass es DIE Musikfans oder DIE Weingenießer gibt. Natürlich fühlen wir uns alle gerne einer Crew mit einem gewissermaßen pauschalisierten Oberbegriff zugehörig. Um den Gravel-Markt und all seine Akteure realistisch zu beschreiben, reicht eine solche Sichtweise jedoch einfach nicht mehr aus. Denn künftig werden sich die Bedürfnisse innerhalb der Gravel-Gemeinde noch stärker unterscheiden und das hat einen immensen Einfluss auf kommende Gravel-Bike-Entwicklungen. Aber welchen jetzt genau?

2. Allround-Gravel-Bikes sind out

Ein Roadie, der weg von den nervigen Autofahrern will, oder ein Mountainbiker, der auf den Geschmack der Geschwindigkeit gekommen ist – so unterschiedlich die Richtungen sind, aus denen die Gravel-Fans mittlerweile kommen, so unterschiedlich sind auch die Anforderungen, die sie an ihr perfektes Gravel-Bike stellen. Viele Hersteller setzen trotzdem noch darauf, mit einem oder maximal zwei verschiedenen Gravel-Modellen die ganze Bandbreite der möglichen Einsatzszenarien abzudecken und damit den Großteil der Gravel-Fans glücklich zu machen. Die Aufgabe solcher Allround-Gravel-Bikes ist dabei keine leichte: Sie sollen nicht nur ein möglichst breites Gebiet abdecken – sie sollen in einem möglichst breiten Gebiet glänzen. Schließlich will man nicht den Vergleich mit den Spezialisten scheuen müssen. Das Problem dabei ist, dass die Spezialisierung im Gravel-Segment schon begonnen hat und die Spezialisten immer besser werden in dem, was sie tun – auf Seite der Bikes und der Fahrer. Für Allround-Gravel-Bikes wird es daher zunehmend schwerer, alle Einsatzzwecke ausreichend abzudecken. Was das für Gravel-Fans bedeutet? Sie sollten sich möglichst genau überlegen, was sie mit ihrem Gravel-Bike vorhaben. Mit diesem Wissen können sie sich dann einen Spezialisten in die Garage stellen, mit dem sie für ihre Art des Gravelns die maximale Spaßausbeute erzielen. Allrounder bleiben dabei eine gute Wahl für Einsteiger, die noch nicht genau wissen, was sie wollen, oder für die Gelegenheits-Gravel-Genussmenschen, die sich nie am Limit bewegen und einfach sorglos dahinrollen wollen.
Trotz unserer Kritik am Konzept der Allround-Gravel-Bikes bleibt es eine Tatsache, dass der Markt bisher noch immer seinen Fokus auf sie legt. Und viele wollen auch nach wie vor Allround-Gravel-Bikes kaufen. Dabei wollen wir euch zur Seite stehen und haben in unserem Vergleichstest deshalb doch noch mal den besten Allrounder gesucht – und mit dem Canyon Grizl CF SLX 8 eTap Suspension auch einen würdigen Gewinner gekürt.
Mit dem restlichen Test tragen wir der Individualität und Kompromissbereitschaft der Bikes Rechnung: Wir stellen die Stärken und Schwächen jedes einzelnen Modells heraus und tragen damit zur fundierten Meinungsbildung bei der Kaufentscheidung bei. Denn die anderen Bikes in diesem Vergleichstest sind nicht automatisch Verlierer – sie eignen sich teilweise nur eher für spezifische Fahrertypen. Ultimativ wollen wir euch mit unseren Texten das nötige Know-how an die Hand geben, damit ihr die Entscheidungen trefft, die für euch richtig sind.

3. Das perfekte Gravel-Bike schlechthin existiert nicht

Wie wir bereits festgestellt haben, haben die meisten Hersteller von Gravel-Bikes nur ein oder zwei Modelle im Portfolio und setzen daher eher auf Allrounder als auf Spezialisten. Irgendwo müssen daher immer Abstriche gemacht werden. Doch bedeutet das, dass es das perfekte Gravel-Bike nicht gibt? Nein, denn ein Gravel-Bike ist immer dann perfekt, wenn es genau zu seinem Besitzer und dessen subjektiven Bedürfnissen passt. Und da Gravel-Fans ein sehr heterogenes Feld bilden, wird es auch immer jemanden geben, zu dem die aktuell verfügbaren Bikes perfekt passen. Außerdm gibt es neben all den kompromissbereiten Allroundern auch schon sehr gute Spezialisten in Form von Aero-Gravel-Bikes und Bikepacking- oder Commuting-Bikes. Trotzdem versuchen noch immer zu viele Hersteller, zu unterschiedliche Attribute in ein und demselben Bike zu vereinen. Aero-Formen, Anschraubpunkte, Reifenfreiheit und Co.: Alle Bälle in der Luft zu halten ist genauso schwierig wie sinnlos. Denn allzu oft ist das Ergebnis eben keine eierlegende Wollmilchsau, sondern ein Bike, das nichts so richtig gut kann und daher niemanden so richtig glücklich macht. Wir würden hier in Zukunft gerne mehr Hersteller sehen, die ein klares Konzept verfolgen und das nötige Selbstbewusstsein haben, es auch umzusetzen. Jetzt ist die Zeit der Diversifikation im Gravel-Segment!

Das perfekte Gravel-Bike gibt es nicht. Aber für jeden von euch gibt es ein perfektes Gravel-Bike.

4. Auf die Reifen kommt es an

Reifen sind das beste und zugleich günstigste Tuning für euer Gravel-Bike! Sie sind optimal dazu geeignet, euer Bike an eure Bedürfnisse anzupassen. Ein Reifen mit guter Eigendämpfung, homogenem Abrollverhalten sowie hohem Grip und guter Traktion beim Be- und Entschleunigen kann den Charakter eines Bikes enorm beeinflussen. Anders als beim Mountainbike gibt es am Gravel-Bike – bei den allermeisten Modellen – kein einstellbares, aktives Fahrwerk. Hier übernimmt also der Reifen bzw. das Reifen-Laufrad-System einen Großteil der Aufgaben des Fahrwerks am Mountainbike. Voluminösere Reifen bieten dabei bei korrekt eingestelltem Luftdruck tendenziell bessere Dämpfungseigenschaften und sind daher in rauerem Gelände ein entscheidender Faktor für den Komfort eines Bikes. Das Reifenprofil ist ein weiterer Punkt, den es zu beachten gilt: Gröbere Profile mit stark ausgeprägten Seitenstollen sind für losen Untergrund besser geeignet, während Reifen mit einer glatten Lauffläche und geringer ausgeprägten Seitenstollen die bessere Wahl für Hardpack und Asphalt sind.

Unsere klare Message daher: Wer die Performance seines Bikes verbessern will, sollte sich unbedingt im Detail mit dem Thema Reifen auseinandersetzen. Einen sinnvollen Ausgangspunkt bietet dazu unser Gravel-Reifen-Vergleichstest. Viele Bike-Hersteller scheinen ihn auch gelesen zu haben. Denn der Testsieger-Pneu Vittoria Terreno Dry – unserer Meinung nach der beste Allrounder – kommt an 5 von 19 Bikes in unserem Testfeld zum Einsatz.

5. Man muss die richtige Balance finden zwischen Bandbreite und Gangsprüngen

Wenn es um Schaltungen geht, gibt es zwei zentrale Gegenspieler: die Bandbreite und die Gangsprünge. Sie definieren die Übersetzung und damit auch, wo das Bike am besten eingesetzt werden kann. Im Allgemeinen muss man größere Gangsprünge in Kauf nehmen, wenn man viel Bandbreite haben will. Andersrum bedeutet das auch, dass die Bandbreite geringer wird, wenn man es auf möglichst kleine Gangsprünge abgesehen hat. Für beide Fälle gilt: Man muss seinen Einsatzbereich kennen, um zu entscheiden, auf was man seinen Fokus legt.
Wer hauptsächlich im flachen Terrain fährt, für den sind kleinere Gangsprünge wertvoller als eine maximale Bandbreite. Denn so hat man eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, im eigenen Kadenz-Wohlfühlbereich zu fahren. Wer jedoch viel in steilem Gelände – oder gerne auch mit Gepäck – unterwegs ist, für den sind mehr Bandbreite und ein sehr leichter Gang als Reserve wichtiger als eine immens feine Gangabstufung. Das gilt ebenso für Einsteiger und alle Gravel-Fans, die nicht mit der besten Fitness gesegnet sind, weil das echte Leben einfach schon anspruchsvoll genug ist.

Eine größere Bandbreite bedeutet auch größere Gangsprünge und das wiederum bedingt, dass man im Zweifel seine Geschwindigkeit anpassen muss, um in der eigenen Wohlfühlfrequenz zu pedalieren. Kämpft man nicht gegen die Uhr, schaltet man also einfach einen Gang runter und genießt den Ride! Und hat man es doch mal auf einen Kampf gegen die Uhr oder sich selbst abgesehen, dann tritt man eben in den größeren Gang, was das Zeug hält, solange es die Beine hergeben.
Auch für die Übersetzung gilt also: Man muss sich im Vorfeld genau überlegen, was man mit dem Bike vorhat. Für das beste Allround-Gravel-Bike, das wir in diesem Vergleichstest gesucht haben, haben wir aber die Bandbreite höher gehängt als minimale Gangsprünge. Bei einem Allrounder weiß man nie so genau, was kommt, und ist deshalb mit möglichst viel Bandbreite am besten aufgestellt. In der Ebene etwas zu schnell oder zu langsam treten zu müssen ist nämlich weit weniger schlimm als bergauf festzustellen, dass einem der letzte Gang fehlt, um es nach oben zu schaffen. In diesem Zusammenhang haben uns im Vergleichstest besonders 1-fach-Schaltungen im Mullet-Setup gefallen, das heißt die Kombination aus einem Kettenblatt mit einer deutlich größeren Kassette. 2-fach-Antriebe kommen zwar teilweise zu einer ähnlichen Bandbreite bei kleineren Gangsprüngen. Sie haben aber viele Überschneidungen zwischen großem und kleinem Kettenblatt und die Schaltlogik fällt weniger intuitiv aus. Mittlerweile ist das Angebot für 1-fach-Antriebe so groß, dass jeder die für sich passende Kassettengröße (=Bandbreite) finden kann. Wir rechnen damit, dass Lösungen wie beispielsweise die Classified-Nabe (zum Test) zukünftig noch öfter nahtlos in bestehende Optionen integriert werden. Einfache Antworten auf die Frage „Was ist denn der beste Antriebsstrang?“ wird man damit zwar noch schwerer finden. Dafür kann man sie in Zukunft aber vermutlich besser im Detail beantworten.


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Text: Benjamin Topf, Tobias Hörsch Fotos: Benjamin Topf, Peter Walker