Keine Frage: Mortirolo, Alpe d’Huez oder die Strade Bianche stehen auf der Wunschliste vieler Rennradfahrer. Aber machen sie wirklich glücklich?

Wir haben das Glück in unserem Leben, durch die Arbeit für das GRAN FONDO Magazin viele der berühmtesten Pässe und Strecken der Rennrad-Geschichte zu befahren und auch neue Orte zu erkunden: Egal ob Kasachstan, Mexiko oder Taiwan – an jedem dieser Orte haben wir inspirierende Menschen getroffen und unvergessliche Erlebnisse auf dem Rennrad erlebt. Aber muss man wirklich so weit reisen? Was macht das Rennradfahren wirklich aus?

Brütende Hitze, 32 °C im Schatten, kein Wind. Im GRAN FONDO HQ in Leonberg bei Stuttgart wird das Eisfach geplündert. Es ist kurz vor Redaktionsschluss für diese Ausgabe, die Laptop-Tastaturen glühen wie unsere Köpfe, wir wollen nicht verheimlichen, dass das gerade eine intensive Zeit ist: Unser großer Elektro-Rennrad-Vergleichstest will noch geschrieben werden, der Reifen-Vergleichstest möchte noch seinen letzten Schliff erhalten und in den letzten zwei Wochen wurden über 10 Bikes gelauncht, welche die Desktop-Arbeit für die neue Ausgabe immer wieder kurz unterbrachen.

Nach Feierabend – in diesem Falle um 21 Uhr – packen wir unsere Siebensachen und schwingen uns in Flipflops und Birkenstocks aufs Rennrad. Wir haben noch eine halbe Stunde bis die Sonne untergeht. Unser Ziel: zu meiner Oma ins Nachbardorf, um dort den Schlüssel für ihren Garten zu holen, wo wir für die Nacht unser Zelt aufschlagen wollen.

Zwischenstopp beim Rewe. Zum Abendessen gibt es das, was uns in die Augen springt: Mett-Wurst, Antipasti und Nussbrot – typische Roadie-Nahrung, nicht wahr?

Wir können es selbst kaum glauben, was wir da gerade durchziehen, als wir auf den Rädern dem Sonnenuntergang entgegen cruisen: Nina, Bens Freundin, hat die Ikea-Tüte mit Monster-Schlafsack umgeschnallt, Robin ist auch extrem dilettantisch unterwegs und Ben … ja Ben hat natürlich die professionelle Overnighter-Ausstattung mit minimalistischem Rapha-Schlafsack und Mini-Isomatte dabei. Das erwähnte Zelt hat natürlich keiner dabei.

Die Jagd nach Sekunden, 40 km/h in der Ebene, Belgischer Kreisel und Laktat in den Beinen – all das kann uns heute gestohlen bleiben, denn wir wissen: Die beste Zeit ist eine gute Zeit!

Abendröte am Himmel, unsere Freiläufe surren, die Hemden flattern im Wind – ja es klingt ein bisschen kitschig, aber so fühlt sich wahre Freiheit an. Wir haben die Regeln gebrochen, heute sind wir die Outlaws. An diesem Abend brauchen wir kein Social Approval, keinen Dresscode oder Roadie-Etikette – adieu Gesellschaftszwang, Goodbye Velominati-Rules. Wir spielen unser Spiel. Und das macht verdammt viel Spaß. Wir sind einfach ein paar schräge Typen, mit einer random zusammengewürfelten Ausrüstung, die erst einmal befremdlich wirkt. Aber seien wir mal ehrlich: Wer braucht schon eine atmungsaktive, winddichte 500 €-Jacke mit super innovativer Awesome-Technologie für die 3 Minuten Fußweg zum Bäcker? Ihr wisst, wir stehen auf geilen Scheiß und Craftsmanship, aber dennoch müssen wir uns nichts vormachen: Denn mit weniger hat man meistens mehr Spaß, kann kreativer werden und sich selbst behaupten. Und genau das hat dieser Trip bewiesen!

Welcher ernsthafte Rennradfahrer würde uns nicht für bescheuert halten, wenn wir ihm sagen würden: Diese 10-km-Tour war eine der besten Touren, die wir je auf dem Rennrad gemacht haben!

4,9 Kilometer von zu Hause entfernt haben wir unser Lager aufgeschlagen, Geschichten erzählt, gelacht, unter den Sternen geschlafen, geschnarcht, die Morgenröte und den Sonnenaufgang bestaunt, Kaffee gemacht, Porridge mit frisch gepflückten Kirschen und Beeren aus Omas Garten gesnackt und uns dann wieder auf den Weg zurück ins Büro gemacht.

Beim Rennradfahren geht es nicht ums Rennradfahren. Strava-Segmente, das neue Jersey oder der neue Laufradsatz mögen unser aller Ego boosten und für eine kurze Zeit zufrieden stellen, aber nicht unsere Seelen. Wenn man durch die Zeit, die man alleine oder in guter Gesellschaft verbringt, runter kommt und die große Bedeutung der kleinen Dinge erkennt, dann ist man glücklich. Egal ob Mortirolo, Alpe d’Huez oder im kleinen Garten in der Nähe von Leonberg.

Unsere 10 Erkenntnisse

  • Kilometerfressen kann jeder, locker bleiben und Spaß auch – man muss es nur machen.
  • Carbon-Sättel ohne Bib sind selbst auf 10 km eher unbequem.
  • Wer lange plant, baut viele Erwartungen auf. Und diese Erwartungen führen zu Enttäuschungen und Stress, wenn die Dinge nicht so werden, wie man sie sich vorgestellt hat. Und da keiner die Zukunft vorhersagen kann, werden die Dinge selten genau so, wie wir sie uns vorstellen. Deshalb nimm dir Punkt 4 zu Herzen!
  • Relax und lass die Dinge auf dich zukommen: Hab einen Plan, ohne den Plan krampfhaft zu verfolgen.
  • Hör auf, zu diskutieren und abzuwägen.
  • Sei einfach ein bisschen bescheuert und folge deinem Instinkt und mach genau das, worauf du Lust hast.
  • Birkenstocks oder Flip-Flops passen doch nicht so gut auf Shimano SPD SL-Pedale.
  • Eine Tüte frischgebackener Brezeln für die Mannschaft im Office kommt nach einem Overnighter immer gut.
  • Wer muss schon in den Urlaub fahren, um etwas Neues zu erleben oder aus seiner Rolle auszubrechen? Mach doch einfach. Jetzt! Dieses Lied mag dabei helfen: Ich fühl mich einfach Disco – total bescheuert und doch irgendwie geil: youtube.com/watch?v=j8pfjXpSgEc
  • Rennradfahren ist das, was du daraus machst!

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Text: Robin Schmitt Fotos: Benjamin Topf, Robin Schmitt