Als die Einladung der Gran Fondo World Tour zum Gran Fondo Kazakhstan Tour of Zhetysu auf unserem Tisch liegt, war schnell klar: diese Reise muss gereist werden. Schließlich war es eine grandiose Chance zur „kulturellen Lernung“, wie es Borat formulieren würde. Es folgt eine Story über Wodka zur Rehydration, Doping mit Stuten- und Kamelmilch, brennende Steppen, Karaoke und mehr.

Kulturelle Lernung Teil 1:

Oktoberfest, G-Klassen und sieben Gewässer – warum ist Borat überhaupt in die USA gegangen?

Man sagt, dass man auf einer Reise nur sich selbst begegnet. Auch wenn man auf neue, „andere“ Menschen und Orte trifft, so sucht man im Grunde nur die Bestätigung seiner Vorstellungen. Durch Stereotypen und Borat vorbelastet malte ich mir meine Reise aus: verfallene kommunistische Großbauten, Borats Schwester, Steppe, Disco Dance und von Eseln gezogene Autos. Also in etwa so, als würde man das erste Mal nach Deutschland reisen und nach Hendl, Dirndl und Lederhosen suchen. Oktoberfest – das ist Deutschland, richtig?

Die Kulturelle Lernung beginnt am Flughafen von Moskau. Dort treffe ich Dani Buyo, General Manager der Gran Fondo World Tour, von dem ich einen Crashkurs über Radsport in Kasachstan und das Land selbst erhalte. Als Event-Promoter betreut er zehn Events auf vier Kontinenten unter dem Schirm der Gran Fondo World Tour und lobt ein Preisgeld von jeweils 10.000 € für den Seriengewinner und die Seriengewinnerin aus. Insbesondere in Asien sieht Dani viel Potenzial für die Radsport-Entwicklung. Zu Kasachstan hat er dabei einen ganz besonderen Bezug. In Almaty, der größten Metropole Kasachstans und Ziel unseres Fluges, hat er für drei Jahre gelebt, um das größte Skigebiet Zentralasiens, Shymbulak, mit zu erschließen. So kommt es, dass Dani nicht nur die entscheidenden Kontakte besitzt, um mit den Lokals seit drei Jahren ein kasachisches Jedermann-Rennen zu veranstalten, sondern auch dafür sorgt, dass Amateurradsport in Kasachstan wurzelt. Denn einen Amateurradsport, wie wir ihn in vielen europäischen Ländern kennen, hatte es bis dahin so gut wie nicht gegeben – entweder man war Profi oder Zuschauer.

Almaty City liegt im Süden an der Grenze zu China und gilt als kulturelles und wirtschaftliches Zentrum des Landes. Wer eine von der westlichen Welt abgeschottete Großstadt erwartet, irrt. Hier fahren mehr – und meist getunte – Mercedes G-Klassen durch die Gegend als in unserer Heimatstadt Stuttgart, dem Sitz des Herstellers. Ein gemütliches Stadtzentrum, die von Straßenkünstlern und jungen Musikern bevölkerte Fußgängerzone lädt zum Schlendern ein. Mit vielen italienischen und europäisch angehauchten Restaurants wird hier die westliche Kultur zelebriert. Nicht zu vergessen die Fast-Food-Ketten, die das Klientel der Gucci- und Prada-Tempel abgreifen: Luxus und Fast-Food scheint hier eine begehrenswerte Kombination. Nebenan gliedert sich das Ritz-Carlton Hotel an, wo Oligarchen, Business People und ja, auch wir mit grandiosem Ausblick über die Stadt zu Mittag speisen. Schneebedeckte Berge im Süden, Steppen und riesige Seen im Norden machen Almaty City auch zu einem beliebten Ausgangspunkt für Outdoor-Enthusiasten in der gleichnamigen Region Almaty. Übrigens: Der Name des Radrennens, Tour of Zhetysu, rührt von der historischen Bezeichnung für die Region Almaty her und heißt wörtlich übersetzt „sieben Gewässer“. Outdoor gibt es hier hautnah: Cowboys und Wildpferde in der Steppe, Schneeleoparden im Gebirge, Eidechsen in den Canyons und Steinadler auf den Armen der Nomaden – man könnte meinen, man wäre im Wilden Westen von US and A… . Da hätte Borat gar nicht so weit reisen müssen.

Doch zurück ins pulsierende Herz von Almaty City. Direkt nach unserer Ankunft begeben wir uns auf einen Welcome Ride mit Renn-Organisator Serik Turdaliyev. Der Start ist mitten im dichten Verkehr der Stadt, das Ziel ist das Tian-Shan-Gebirge im Süden: vorbei an Medeo, einem der bekanntesten Eislaufstadien der Welt, bis zum Bergdorf im Skigebiet Shymbulak, wo hochprozentige Anstiege (über 20%!) und Schnee auf uns warten. Um uns im Verkehr abzusichern, folgt uns Seriks Fahrer mit einem Pick-Up und Warnblinker. Per se scheinen die Autofahrer nicht übermäßig aggressiv zu sein. Leider gelten für manche Autofahrer andere, oder besser gesagt keine Regeln: Mit speziellen Kennzeichen, die angeblich direkt vom Präsidenten vergeben werden, haben manche Personen Narrenfreiheit und können die unglaublichsten Aktionen abliefern. Der Kontrast zwischen Arm und Reich ist in der 1,8 Mio Einwohner zählenden Metropole Almaty offensichtlich, aber es gibt kaum spürbare Feindlichkeiten. Dies liegt einerseits an dem generell recht hohen Lebensstandard des rohstoffreichen Landes, sowie der Tatsache, dass Almaty eine kulturell sehr reiche Metropole und ein Schmelztiegel der Kulturen und vieler Sprachen ist – über 120! Anders sieht es mit der aus dem Boden gestampften Hauptstadt Astana im Norden des Landes aus, die 1997 Almaty als Hauptstadt abgelöst hat. Dank des Astana Procycling Teams ist sie jedem Rennradfahrer ein Begriff, doch in Almaty ist man überzeugt: Da oben im Norden gibt es weniger Dolce Vita und deutlich weniger Lächeln in den Gesichtern. Doch genug des Sozialkundeunterrichts – let’s race, baby!

Kulturelle Lernung Teil 2:

Kaz Vegas, das Rennen und die Frage: „Wo ist Borat?“

Am Abend vor dem Rennen machen wir uns nach Taldyqorghan auf, wo die zweitägige Tour of Zhetysu stattfindet. Da die Veranstalter-Website auf Russisch und Kasachisch ist und meine Kenntnisse sehr begrenzt sind (die besten Tipps zur Blitzlektion Kasachisch für Anfänger folgen), bin ich noch immer im Unklaren, was mich erwarten wird.

Die Autofahrt zum Veranstaltungsort gestaltet sich äußerst spannend: Von Almaty City aus fahren wir in den Nordosten, wo Kaz Vegas auf uns wartet. Entlang des Highways reiht sich Casino an Casino, mit famosen Namen, die man aus der US-amerikanischen Sin-City kennt. Und auch generell fühlt sich die Fahrt ziemlich nach Wildem Westen an: schnurgerade, einsame Highways, endlose Weite, ein riesiger Stausee mit schneebedeckten Bergen im Hintergrund, Horden von Pferden in der Steppe, die von Cowboys zusammengepfercht werden… nur die neuen Toiletten-Häuschen fallen aus dem Bild heraus und sorgen mit ihren kryptischen Bezeichnungen für ein Fragezeichen auf der Stirn: Welches Klo ist für Männer, welches für Frauen? Das fragwürdige Zeichen gibt keinen Aufschluss und ein Blick hinter die nicht vorhandenen Türen zeigt: Beide Plumpsklos sind gleich scheiße – Luftanhalten dringendst empfohlen!

Die Wettervorhersage für den Renntag verspricht heiße Temperaturen – nichtsdestotrotz gönnen wir uns in der kasachischen Provinz als Pre-Warm-up noch einen Sauna-Aufguss am Vorabend.

Race Day. Nach einer halbstündigen Eröffnungszeremonie mit dem Bürgermeister, Ministern und weiteren Offiziellen wird es für die rund 300 Teilnehmer ernst. Um Punkt 14:30 startet das Rennen. Die Sonne steht auf 12 Uhr. Verdammt! Ja genau dann, wenn man in Spanien Siesta machen würde, weil die Sonne brütet.

Der Himmel ist klar, der Asphalt brennt, 30° im Schatten. Der Haken: Es gibt keinen Schatten! Lediglich unter dem Pepsi-Zelt im Startbereich, wo der Moderator zu feinstem Balkanpop für Stimmung sorgt. Als der Startschuss fällt, begibt sich ein Pulk unterschiedlichster Rennradfahrer auf den Kurs: Vom 10-jährigen Kid mit Mini-Rennrad und ohne Lenkerband bis hin zum 72-jährigen Veteranen ist alles vertreten – wo sonst nehmen Oligarchen und Schüler gleichsam an einem Event teil? Der signifikante Unterschied: Ersterer hat einen SUV als Begleitfahrzeug mit auf der Rennstrecke. Die Worte von Dani im Flieger ergeben Sinn: „Don’t expect the Nove Colli – Kazakhstan is different“.

Der Kursverlauf führt durch eine wunderschöne Steppe, doch er selbst gestaltet sich eher langweilig: 20 km hoch, 20 km auf der anderen Straßenseite hinab, danach das Ganze von vorn. Während sich meine Wasserreserven genauso wie meine Motivation dem Ende zuneigen, drängt sich eine Frage in mir auf: Bin ich nach Kasachstan gekommen, um viermal denselben Straßenabschnitt in sengender Hitze zu fahren? Meine optimistisches Ich beruhigt: Du bist gar nicht wegen des Rennens hier, sondern einzig aus dem Grund, Eindrücke von Kasachstan aufzusaugen. Also mach dich locker und lass dich treiben im Geschehen. Am Straßenrand finde ich tatsächlich etwas, das ich sofort aufsauge: Die Quelle hilft mir, mich mit meinem verkalkulierten Wassermanagement ins Ziel zu kämpfen. Dort dann ein absolutes Highlight: Mit brennendem Durst und Hunger werde ich im Zielbereich in eine Jurte geleitet. Dank der thermischen Bauweise zieht nicht nur ein angenehm frischer Luftzug durch das traditionelle Nomadenzelt, sondern es wartet ein wahres Festmahl auf mich – inklusive warmem Tee und in Colaflaschen abgefüllter Kamelmilch. Zeugenberichten zufolge sollte an diesem Ort auch Borat gesichtet worden sein.

Bewundernswert: Während ich mich in der Jurte dem Festmahl hingebe, ist Event-Promoter Dani Buyo mit dem Supportcar noch draußen in der Sonne. Mit Hingabe versorgt er die letzten Teilnehmer auf der Strecke mit Wasser und treibt sie motivierend ins Ziel. Seine Sichtweise: Bei den meisten Rennen interessiere sich keiner für die Letzten. Sobald die Favoriten durch das Ziel fahren, werde bei vielen Rennen abgebaut. Hier sei es anders, denn gerade die Letzten seien häufig diejenigen, die sich am härtesten durchkämpfen müssen und denen genauso viel Respekt gebührt.

Kulturelle Lernung Teil 3:

Nastrovje. Kasachstan for the win!

Duschen, abkühlen, Dinnertime – einer der Sponsoren, Exante, lädt ins ortsansässige 5-Sterne-Hotel ein. Noch vor Beginn der traditionellen Tischreden werde ich vorgewarnt: Der ganze Abend könne möglicherweise nur aus Reden bestehen. Puh, na dann mal schauen, was für eine Art von Recovery-Dinner das werden soll. Zuerst halten die Organisatoren und Sponsoren die ersten Reden, dann sind die internationalen Gäste an der Reihe. Auch ich. Shit. Dmitriy Muravyev, Ex-Kollege von Lance Armstrong bei RadioShack, ist auch mit dabei und stellt sich als Übersetzer für meine Rede zur Verfügung, die mir viel Sympathie einhandelt… seht selbst.

Am zweiten Tag wartet ein Kriterium als Rennformat auf uns. Schauplatz ist ein Industrie-Gelände am Rande von Taldyqorghan. Zusammen mit dem Sieger des Vortages, dem Norweger Jonas Orset, mache ich mich auf den Weg zum Rennen. Er klingt motiviert und kampflustig. Vor Ort dann die große Verwirrung. Beim gestrigen Dinner habe ich Gesprächsfetzen darüber vernommen, das Reglement anzupassen. Man wolle, dass ein Kasache gewinne – ist dies nun ernst oder nur ein Witz? Fakt ist: Die Startzeiten und auch die Aufstellung gestalten sich chaotisch und intransparent. Wir schaffen es dann dennoch rechtzeitig zum Start: In sengender Hitze geht es nun mehrmals um den Block – flach und schnell. Jonas gibt alles, doch am Ende steht ein Vertreter vom Team Kasachstan auf dem obersten Treppchen. Glückwunsch! Zur Siegerehrung versammeln sich wieder diverse Offizielle und die Lokalschönheiten in langen Gewändern.

Kulturelle Lernung Teil 4:

Der beste Weg Kasachisch zu lernen

Nach einer Stunde Schlaf sitze ich im Flieger zurück nach Deutschland. Es fällt mir schwer Abschied zu nehmen. Noch deutlich beschwipst von den Eindrücken, den neuen Freundschaften und den drei Whisky-Flaschen des vergangenen Abends – schließlich schätzt man Gastfreundschaft – ziehe ich ein Resümee: Meine einstigen Vorstellungen von Kasachstan haben sich alles andere als bewahrheitet. Klar, wenn man krampfhaft sucht, wird man auch ein paar Bestätigungen finden.

So wie Sacha Baron Cohen bin ich es selbst, der den Borat abgegeben hat. Ich wollte, dass der Film und meine Vorstellungen von dem Land sich bestätigen. Leider verhindert so etwas nicht nur, dass man die echte Kultur richtig kennen lernt, sondern ist sogar gefährlich. Denn wer voreingenommen und mit starren Vorstellungen neue Länder bereist, dem wird das Schicksal vieler Weltreisenden ereilen: Man sucht das Neue, doch findet das Alte. Man sucht sich selbst, doch findet nichts. Selbst nach einem halben Jahr Sabbatical wird sich nichts ändern, nur dass man danach mit seinem bisherigen Leben noch unzufriedener ist.

Das Tolle an Borat: Die Kasachen selbst können darüber lachen! Es ist amüsant und traurig zugleich, wie im Westen ein Bild des Ostens kreiert wird. Nur wer selbst dort ist oder war, kann sich ein reales Bild machen. Vorstellung ist gut, unmittelbare, unvoreingenommene Erfahrung ist besser!

Kulturelle Lernung Teil 5:

Und was hast du daraus gelernt?

Mut lohnt sich immer. Wer Neues wagt und im Herzen offen ist, wird überrascht sein, wie viele Bekanntschaften, Orte und Erlebnisse einem bei jeder Reise zuteil werden. Und auf einmal verliert die fremde weite Welt ihren Schrecken und man erkennt Ähnlichkeiten – ungeachtet der kulturellen, sprachlichen und äußerlichen Unterschiede. Alle fahren Fahrrad, alle wollen Spaß haben, egal ob Oligarch oder Schüler. Mit einem großen Muchas Gracias an Dani und Рақмет an Serik verabschiede ich mich und freue mich auf ein Wiedersehen in diesem wunderschönen Land. Es ist toll zu sehen, wie die Initiative von wenigen Persönlichkeiten derart fruchten kann: Ivn Almaty City wächst die Bikeszene kontinuierlich, seit zwei Jahren bilden sich größere Pelotons zum gemeinsamen Training und auch die Bike-Infrastruktur hat einen Quantensprung hingelegt. Viele europäische Städte könnten sich hiervon eine Scheibe abschneiden.

Und wie ist nun der beste Weg Kasachisch zu lernen? Ganz einfach: Wenn man eingeladen wird, sollte man die Einladung auch annehmen. Das gilt nicht nur für das Dinner mit dem Wilier-Distributor und zwei neu gewonnenen Freunden, die auch beim Rennen dabei waren. Statt Cola gibt es Aperol-Spritz als Aperitif, danach drei Flaschen Whisky. Die Warnung, dass mit Arkadi, dem kasachischen Importeur von Wilier, kein Abend glimpflich verläuft, schallt mir noch in den Ohren, als wir in Richtung Karaoke-Bar taumeln. Der Moment, in dem ich Kasachisch lerne… zumindest für diese eine Nacht.

Dieser Artikel ist aus GRAN FONDO Ausgabe #010

Das GRAN FONDO Cycling Magazin erscheint auf Deutsch und Englisch im digitalen App-Format. Ladet euch jetzt die App für iOS oder Android und lest alle Artikel auf eurem Tablet oder Smartphone. Kostenlos!


Hat dir dieser Artikel gefallen? Dann würde es uns sehr freuen, wenn auch du uns als Supporter mit einem monatlichen Beitrag unterstützt. Als GRAN FONDO-Supporter sicherst du dem hochwertigen Bike-Journalismus eine nachhaltige Zukunft und sorgst dafür, das die New-Road-Welt auch weiter ein kostenloses und unabhängiges Leitmedium hat. Jetzt Supporter werden!

Text & Fotos: Robin Schmitt