Wenn man einen Bikeshop – irgendeinen Bikeshop – betritt, kommt man leicht auf die Idee, Carbon sei das einzige Material, das für das nächste Bike in Frage kommt. Und wieso auch nicht? Carbon bietet geringes Gewicht, Steifigkeit und es lässt sich in aerodynamische Formen bringen, die den Wind austricksen. Ein Zaubermaterial.

Beim GRAN FONDO-Vergleichstest in Ausgabe #001 ist euch sicher aufgefallen, dass fast nur Bikes mit Carbonrahmen im Testfeld waren – und ein einziges Stahlrad. Doch dieses Stahlbike war es, das unsere Tester am meisten überraschte. Anstelle des flexigen, schwerfälligen Dämons, den sie erwarteten, bekamen sie eine leichte, agile Maschine, die sich gegen die meisten anderen mühelos behauptete. Auch wenn der Stahlrahmenbau nie verschwunden war, so hat er doch gelitten unter dem unaufhaltsamen Vormarsch der Carbonrahmen in Richtung Bikeweltherrschaft.
Doch in den letzten Jahren haben sich Stahlrohrhersteller wie Reynolds, Columbus und True Temper mit leichteren und stärkeren Materialien zur Wehr gesetzt. Und überall auf der Welt greift eine neue Generation passionierter Handwerker zu Schweißbrenner und Feile und stellt wunderschöne, handgefertigte Stahlräder her. Einer dieser Typen, die mit Leidenschaft bei der Sache sind, ist der in Barcelona lebende Mattia Paganotti.

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Wenn ihr – wie ich – zu den über 8.000 Leuten gehört, die Legorcicli auf Instagram folgen, dann wird euch das enorme Fenster vertraut vorkommen, aus dem eine komplette Seite der Werkstatt besteht und das auf den meisten seiner Fotos zu sehen ist. Das und sein gleichermaßen berühmter Kater, der sogar einen eigenen Hashtag hat, #ingegnermakita. Es scheint kein Tag zu vergehen, an dem der warme mediterrane Sonnenschein nicht durch die Fenster strömt, den Arbeitsraum erhellt und den Kater wärmt.

Eigentlich war ich mir sicher, dass ich dieses Fenster erkennen würde, als wir vor dem großen Gebäude vorfuhren, in dem sich Mattias Workshop befindet. Doch es gibt 48 davon! Nach einem kurzen Anruf bei Mattia, um ihm mitzuteilen, dass wir da waren, lehnte er sich weit aus dem Fenster, winkte und lud uns ein, hochzukommen.

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Als wir oben im zweiten Stock angekommen waren, war das erste, was ich wissen wollte: Wie hatte er die ganzen großen schweren Fräsmaschinen hier hoch bekommen?
„Wir haben das Fenster rausgenommen und sie mit einem Kran reingehievt“, kam die Was-dachtest-du-denn?-Antwort. Ich mochte diesen Typen sofort. Er löst gern Probleme.

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Wir waren hier, um das Doma von Crema Cycles für unseren Vergleichstest abzuholen. Crema Cycles ist die Marke von Ken Bloomer, dem europäischen Brand Manager von Enve, weshalb alle Crema-Bikes mit Enve-Laufrädern und -Komponenten kommen. Doch die Stahlrahmen werden von Mattia in Barcelona von Hand gefertigt, genau wie die seiner eigenen Marke Legor Cicli.
Mir gefällt diese Art, die Dinge anzugehen. Es ist wie in alten Zeiten, als die Profirennteams die kleinen italienischen Rahmenbauer dazu brachten, die Rahmen für ihre Rennbikes zu bauen, auf die dann der Name des großen Sponsors gemalt wurde. Auch heute gibt es dieses Phänomen noch, nur mit Carbon und in geringerem Ausmaß.
Da ich selbst ein Hobby-Rahmenbauer bin, freute ich mich wahnsinnig, Mattia kennenzulernen und etwas über seinen Hintergrund zu erfahren – wie ein lässiger Kerl aus Brescia in Norditalien dazu kam, in Barcelona Stahlrahmen zu bauen.

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Er hat in seinen 31 Jahren schon ziemlich viel erlebt. 10 Jahre lang war er professioneller Skateboarder beim NikeSB Italy Team, dann fuhr er Supermoto-Rennen. Um 2007/08 herum wurde er Teil der Fixie- und Bahnrad-Szene in Brescia, damals nicht ansatzweise so ein Massenphänomen wie heute. Und er machte sich auf die Suche nach einem Rahmenbauer in Brescia, der ihm ein Bike bauen würde. Doch er musste feststellten, dass der Niedergang des Stahls und der Aufstiegs des Carbons als bevorzugtes Material dafür gesorgt hatten, dass sämtliche Werkstätten geschlossen waren. Je länger er auf der Suche war, desto mehr verliebte er sich in die Geschichte, in die Storys und in das untergegangene Handwerk des Stahlrahmenbaus.

Schließlich fand er eine Werkstatt, die seit 15 Jahren nicht mehr in Betrieb war, und schloss einen Deal mit dem längst im Ruhestand befindlichen Besitzer ab. Mattia würde die Werkstatt kaufen und der alte Kunsthandwerker würde ihm seine Kenntnisse weitergeben und ihm zeigen, wie man die Gerätschaften benutzt. Das Geschäft wurde also abgeschlossen und das Geld wechselte den Besitzer. Doch sobald der Alte es hatte, überlegte er es sich anders mit der Lehre und, in Mattias eigenen Worten, „told me to fuck off!“

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Zum Glück für Mattia nahm ihn Gino Lissignoli, ein wahrer Meister des Rahmenbaus, unter seine Fittiche und versprach, ihm als Gegenleistung für die Reparatur seiner kaputten Drehmaschine das Handwerk beizubringen. Und wieder ein Problem gelöst. Mattia erzählt: „Mein ehemaliger Team-Mananger von NikeSB bat mich, ihm einen Rahmen zu bauen, also sagte ich zu Lissignoli: Ich hab einen Auftrag, jetzt musst du’s mir beibringen.“

Eine weitere große Inspiration für Mattia war Piero Serena, für ihn einer der größten Meister des Handwerks in Italien. Zwar konnte er mit Serena, der 2005 verstorben ist, nie zusammenarbeiten, doch bei seiner Witwe hinterließ er bleibenden Eindruck: Sie schenkte ihm Pieros ganzes Werkzeug und seine Zeichnungen. Eine unglaubliche Geste, durch die er eine Menge über die Arbeitsweise des großen Meisters lernen konnte.

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Schließlich landete er in der Werkstatt von Tiziano Zullo, einem der berühmtesten Stahlrahmenbauer Italiens. Bei ihm arbeitete er zwei Jahre in Teilzeit und entwickelte sein Können noch weiter. Auf Mattias Hochzeit vor 13 Jahren nahm Zullo sogar die Trauung vor. „Und was Zullo zusammenschweißt, das geht niemals auseinander!“, so Mattia mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht.

Der letzte Schritt auf seinem Bildungsweg begann 2010 auf der NAHBS (North American Hand Made Bike Show), wo er einen der größten Stahlrahmenbauer unserer Zeit traf, Dario Pegoretti, der ihn noch mehr lehrte und sein Mentor wurde. Ich sage „letzter Schritt“, doch es wird nicht der letzte gewesen sein. Mattia kommt mir vor wie ein Typ, der immer weiter lernt und seine Fähigeiten immer weiterentwickelt. Ein echter Meister der Kunst. Mir scheint, dass Vulcanus, der römische Gott des Feuers und der Metallhandwerker, diesem Typen aus Brescia gewogen ist.

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Doch auch, wenn die Handwerksgötter auf ihn herabschauten, konnte Mattia, obwohl er so viel Wissen und Erfahrung gesammelt hatte, in Italien immer noch nicht vom Rahmenbau leben. Es gab einfach nicht genug Nachfrage. Er entschied sich also, nach Barcelona zu ziehen, wo er viele Freunde aus seinen Skatertagen hatte. Eine hippe, coole Stadt voller Kreativ-Leute, mit mediterranem Klima und Strand. Die alte Werkstatt in Brescia war im Winter immer eiskalt gewesen.
Von dem Moment an, als er das riesige Fenster herausnahm und das ganze Zeug mit dem Kran hineinschaffte, nahm das Geschäft Fahrt an. Mittlerweile baut er in der Woche bis zu sechs Rahmen, für die er seine selbst designten, von Columbus spezialgefertigten Stahlrohre verwendet. „Ich musste zwei Jahre darauf warten, dass Columbus für mich Custom-Rohre baut, aber es hat sich gelohnt, denn nun kann ich meine Rahmen genau so bauen, wie ich es will“, sagt Mattia. Ein Legor Cicli-Bike ist also tatsächlich ein Custom-Bike. Das einzige, was Mattia nicht selbst macht, ist die Lackierung. Das überlässt er zwei ortsansässigen Lackieren. „Man braucht zwei“, sagt er, wieder breit grinsend, „denn Zuverlässigkeit ist nicht ihre größte Stärke.“

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Während wir durch die Werkstatt streiften, dabei über Spannvorrichtungen, Rahmenbautechniken und die Frage diskutierten, welcher Hammer für welches Problem am besten geeignet ist, entdeckte ich in einer Ecke das verkupferte Bike, das Mattia für seinen Freund Jacopo Porreca gebaut hatte, der damit letztes Jahr beim Transcontinental Race antrat. Ich sagte, dass mir die blaue Lackierung sehr gefalle, die nur an Teilen des Rahmens ist.
„Naja, also, es war das erste Mal, dass ich das mit dem Verkupfern ausprobiert habe, und dann war ein Fehler im Finish“, erzählte er. „Also habe ich ein Farbkonzept entworfen, das ihn versteckt. Problemlösung ist ein zentraler Teil der Handwerkskunst!“

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Ich glaube, Mattia Paganotti blüht so richtig auf, wenn er Probleme zu lösen hat. Während unserer Unterhaltung war mir völlig entgangen, dass sich Robin, der Big Boss von GRAN FONDO, und Fotograf Constantin aufgemacht hatten, um in der coolen Gegend nach Fotomöglichkeiten zu suchen. Ich hoffte, sie würden wegfahren und mich hier vergessen. Denn das Problem, das ich jetzt zu lösen hatte, lautete: Wie kann ich in Barcelona bleiben, mit dieser coolen Socke hier abhängen und lernen, wie ich bessere Stahlrahmen baue?

Mehr Infos findet ihr auf der offiziellen Website.


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Text: John Baker Fotos: Constantin Gerlach