„Das Herz ist nur so halb-schön“, sagt die attraktive Barista, und mir fällt vor Schreck fast mein Befund in den Flat White. Hat sie Ultraschallaugen? Kann sie Herztöne hören? Denkt sie, sie muss mich gleich mit dem Espressostampfer reanimieren? Sie zeigt auf das aufgeschäumte Latte-Art-Kunstwerk. Ich blicke in den Milchschaum und lache erleichtert …

… Ein geschäumtes Herz. Ein romantisches Herz. Ohne Klappen, Vorhöfe und Insuffizienzen. Vor einer halben Stunde lag ich noch auf der Liege beim Kardiologen. Jetzt sitze ich mit der Diagnose Trikuspidalklappeninsuffizienz und einem gebrochenen Milchschaum-Herzen im Café und frage mich: Was wird aus meiner Dropbar-Zukunft?

Biken ist wie Turbokapitalismus: Alles wird leichter, alles wird schneller, alles wird besser. Material und Mensch. Was neue Carbon-Layouts für Rahmen und Aero-Profile für Laufräder sind, das sind Trainings- und Ernährungspläne für Fahrerinnen und Fahrer. Und mehr Watt bedeuten mehr Möglichkeiten. Wer heute aufs Rad steigt, kann in 6 Monaten die Alpen überqueren und nächstes Jahr vielleicht schon beim Transcontinental Race am Start stehen. Alles ist möglich. Biken ist ein Wachstumsversprechen. Hemmungslos naiv und grenzenlos optimistisch.

Mein Herz – Vom Prunkstück zum Problembären

Ich war noch nie beim Kardiologen. Haben Sie Vorerkrankungen? Nein. Nehmen Sie Medikamente? Nein. Machen Sie Sport? Ja! Ich bin hier wegen einer Auffälligkeit im EKG. Bei Sportlern kann das vorkommen, meinte meine Hausärztin. Niedriger Ruhepuls usw. – kein Grund zur Sorge, einfach mal checken. Ich höre Sportler und Ruhepuls und nicke stolz. Das Herz ist das gefühlte Vorzeigeorgan meines Körpers. Dass die Gelenke beim ein oder anderen Berglauf mal gelitten haben und die Leber vielleicht auch nicht immer in Watte gepackt wurde – geschenkt. Aber das Herz! Jeder Trainingskilometer eine Investition in eine rosige Cardio-Zukunft, jedes Bergintervall ein zartes Form-Pflänzchen, das bis ins hohe Alter Früchte tragen wird. Mein Herz ist ein Überflieger. Oder etwa nicht?

Die Trikuspidalklappe besteht aus drei Segeln. Pumpt die rechte Herzkammer, verschließen sich die Segel und trennen den Vorhof von der Hauptkammer. Bei einer Klappeninsuffizienz bleibt eine Lücke zwischen den Segeln und Blut fließt aus der Hauptkammer zurück in den Vorhof. Je größer die Lücke, desto mehr zusätzliche Pumparbeit muss das Herz leisten. Eine schwere Klappeninsuffizienz bringt das Herz spürbar ans Limit. Eine leichte Insuffizienz bleibt hingegen meist unauffällig und unentdeckt.

„Drei von vier Herzklappen sind total in Ordnung“, sagt der Kardiologe. „Die vierte schließt nicht perfekt. Nicht dramatisch. Sie können weiter Sport machen. Nur nicht voll belasten. Also eher Puls 130 und nicht 155. Und alle 2 Jahre zur Kontrolle.“ Vor meinem inneren Auge verwandelt sich mein unzerstörbares Superherz in ein fragiles Gebilde aus Sehnenfäden, Segeln und Klappen, das bei jeder körperlichen Belastung keuchend um Gnade winselt. Puls 130. Ich schäme mich für das Drama. Es geht schließlich nicht um Leben und Tod. Aber in meinem Kopfkino beerdigt gerade ein Mann im weißen Kittel meine Bike-Träume.

Das Herz ist nicht irgendein Organ. Es steht für Aktivität, für Vitalität, für Liebe, für Leben. Hab ich meinem Herzen zu viel zugemutet? Bin ich nach einer Erkältung zu früh wieder aufs Rad gestiegen? War meine Investition in eine herzgesunde Zukunft am Ende Raubbau am eigenen Körper? Ich schaue auf das langsam zerplatzende Milchschaumherz in der Tasse und denke darüber nach, was Biken für mich ist und was es in Zukunft noch sein kann.

Dropbar-Junkie auf Entzug

Ganz unten in meiner kardiovaskulären Bedürfnispyramide steht die schiere Körperlichkeit des Fahrens. Die Beine brennen, der Puls rast. Ich schwitze, also bin ich. Jenseits von einem strukturierten Training mit Grundlageneinheiten und Sweetspot-Intervallen liebe ich den Exzess, das sinnlose Verfeuern von Energie und die Erschöpfung danach.

Eine Stufe weiter oben öffnet sich das Tor zur wunderbaren Welt der Belohnungen. Ich fahre Rad, um mich auf die Dusche, das Essen oder den Kaffee danach zu freuen. Ehrlicherweise hat sich das Verhältnis von körperlicher Aktivität zu Belohnung in den letzten Jahren sehr zu Gunsten der Belohnung verschoben. Ein einfacher Ride legitimiert mittlerweile eine komplexe Belohnungskaskade aus Kaffeespezialitäten, Backwaren und Gummibärchen.

Ab der dritten Stufe entkoppelt sich der Kopf vom Körper. Radfahren macht mich auch dann glücklich, wenn ich selbst gar nicht Rad fahre. Ich visualisiere Alpenpässe, plane Bikepacking-Touren, phantasiere mich zu Endurance-Events und spüre selbst dann die spanische Frühlingssonne auf der Haut kribbeln, wenn ich meine Thermoüberschuhe vom Winterschlamm befreie. Biken ist ein imaginärer Sehnsuchtsort, der immer nur einen Gedanken entfernt ist.

Rund ums Bike existiert eine Euphorie, die sonst nicht mehr in die Zeit passt. Wenn schon die Wirtschaft kriselt und wir als Gesellschaft pessimistisch in die Zukunft blicken, kann man zumindest seinen FTP-Wert steigern und von Gravel-Events träumen. Mit dem Rad sind Erfahrungen und Gefühle verknüpft, die sich zuverlässig reproduzieren lassen und jedes Mal aufs Neue glücklich machen. Das Bike ist die Bestätigung, dass alles gut ist und immer gut sein wird.

Ganz oben auf der Bedürfnispyramide thront daher das ultimative Versprechen: ewige Jugend. Fitness-Scores und Freshness-Diagramme gießen den körperlichen Fortschritt in bunte Graphen. Personalisierte Trainingspläne suggerieren altersunabhängig Fabelwerte bei Vitalparametern und persönliche Bestzeiten bei Rad-Events. Mit 70 auf dem Bike um die Welt? Kein Problem. Biken ist (m)ein Stück Unsterblichkeit.

Eine Pulsobergrenze passt nicht zur Unsterblichkeit. Ich ahne, dass die Pulsmessung mehr Fragen als Antworten bringen wird. Ab Puls 130 erinnert mich ein Alarmpiepen an die mahnenden Worte des Kardiologen. Es hört nicht auf zu piepen. Das Rad in den dritten Stock tragen. Piiiep. Mit der GRAN FONDO-Crew beim Fotoshooting. Piiiiep, Piiiep. Das Steigungsprofil vom Stelvio angeschaut. Piiiep, Piiiep, Piiiep. 130 Puls bedeutet Rollen, ohne Schwitzen. 130 Puls legitimiert keine Belohnung. 130 Puls zerstört Pass-Träume. 130 Puls prickelt nicht. 130 Puls reicht nicht.

Ist es vernünftig, jedes Risiko zu meiden?

In meinem Umfeld reichen die Reaktionen von „Hör auf die Signale deines Körpers“ über „Wo ist das Problem, du kannst doch noch Radfahren“ bis hin zu „Wenn du 10 Kilo abnimmst und deine Ernährung umstellst, kannst du das kompensieren“. Nichts davon will ich hören. Ich will hören, dass alles gut ist, dass ich so weiter machen soll wie bisher, dass Radfahren das Beste ist, was ich tun kann. Ich will eine Zweitmeinung. Falsch, ich will so lange Meinungen, bis eine dabei ist, die mir sagt, dass alles gut ist – und ich bekomme sie.

Die Diagnose bleibt. Die Trikuspidalklappe schließt nicht perfekt. Doch diesmal ist nicht die Rede von Belastungsminimierung und Risiken. Stattdessen wird mein Athleten-Ego massiert. Ich soll alles tun, worauf ich Lust habe, ich soll mich nicht einschränken, ich soll weiter fahren, ohne Pulsobergrenzen – mit Lust, mit Freude.

Eigentlich steht an dieser Stelle ein Fazit. Der Gedanke zu dem Text entstand jedoch, bevor die Zweitmeinung meine Bike-Welt wieder ins Gleichgewicht gebracht hat. Ich wollte eigentlich darüber schreiben, dass es auch einen anderen Zugang zum Radfahren gibt, dass andere Dinge viel wichtiger sind und dass ich unglaublich viel über mich selbst gelernt habe. Eine Sache, die ich gelernt habe, ist, wie wichtig mir Radfahren ist und dass es mir keine Freude macht, wenn ein „könnte“, „vielleicht“ und „irgendwann“ mitfährt. Die Vermeidung jedes Risikos ist nicht für jeden gleich vernünftig. Der Pulsmesser ist übrigens geblieben, aber der Alarm ist ausgeschaltet.

Disclaimer: Die medizinischen Schilderungen sind teils verkürzt, manchmal vereinfacht und immer subjektiv. Also fragt eure Ärztin oder euren Arzt und fragt ggf. auch nochmal eine oder einen zweiten.


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Text: Nils Hofmeister Fotos: Julian Lemme