Übergröße auf schmalen Reifen, wie bitte? Yes! Ein Oversize-Fashion-Guide hätte von Roadies früher noch gerümpfte Nasen kassiert. Doch glücklicherweise ändern sich diese Zeiten gerade. Schließlich ist kaum jemand so hager wie ein Radprofi – und das muss auch niemand. Drei heiße Styles für alle, die nicht nur mehr wollen, sondern auch mehr sind!

Mal ehrlich: Die meisten von uns sind keine Models, und vor allem keine ausgezehrten Rennrad-Models, die in Klamotten in geschätzter Kindergröße M scheinbar schwerelos Pässe hinauffliegen und dazu noch mühelos für die Kamera lächeln. Ganz im Gegenteil: Viele Radfahrer kennen das Gefühl, bei den verfügbaren Bekleidungsgrößen nur schwer fündig zu werden. Zu knapp, zu eng oder einfach unvorteilhaft. Unter Hardcore-Roadies gelten schon durchschnittliche Staturen als faktisch berguntauglich. Stresst euch das? Und solltet ihr euch deshalb auch als Normalsterbliche in superenge Hightech-Aero-Nano-Bibs hineinquetschen, die scheinbar nur für Knochen ohne Fleisch geschneidert sind? Oder euch dafür genieren, dass die an euch anders aussieht als am Tour-Sieger Jonas Vingegaard? Nein. Gute Nachrichten für all die, die mehr Kurven als eine hagere Bergziege besitzen: Jeder kann verdammt gut auf dem Rennrad aussehen. Wir schlagen euch drei Styles für schmale Reifen vor, von dezent bis voll in your face. Mit mindestens einem davon kann sich garantiert jeder von euch draußen auf dem nächsten Ride richtig wohlfühlen – und das ist Einstellungssache: Was ihr tragt, ist nicht so wichtig wie die Frage, wie ihr es tragt.

Übrigens: Habt ihr eine Ahnung, was sich Altmeister Eddy Merckx eigentlich heute über die Plauze streift, wenn er sich auf das Rad schwingt? Seine alten Bauwohlltrikots von damals dürften ihm nämlich auch schon länger nicht mehr passen… Und nein, das ist keine Majestätsbeleidigung, sondern eine wertfreie Beobachtung, die auch jeden Mamil und alle Rider jenseits der Katalog-Model-Staturen da draußen beruhigen darf. Also, welcher Style wird eurer?

Styles feiern – oder sie auf den Kopf stellen

Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, Styles zu finden, die sich gut anfühlen. Das machen wir bereits seit Stunde eins des GRAN FONDO Magazins im Jahr 2016. Heute wie damals wissen wir, dass wir nicht mit den perfekt Rasierten und super Trainierten mithalten können – und auch gar nicht wollen. Wir sind schon immer darauf gestanden, exakt das zu machen, was uns ganz persönlich anspricht und Spaß macht, manchmal gegen so manche Konvention. Wie blöd wäre es doch auch, sich selbst zu limitieren, nur weil irgendwer gesagt hat, man solle sich (auf dem Rad) so oder so verhalten und kleiden? Velominati-Rules, unausgesprochene Stil-Regelwerke oder Knigge-Prüfungen von Craft-Coffee-Jüngern in Lycra? Ach, nein danke. Warum sollten wir in unserer kostbaren Freizeit etwas tun, ohne es zu hinterfragen, schlicht weil es schon immer so gemacht wurde? Warum nicht etwas Neues ausprobieren, weil wir einfach Bock darauf haben? Wir lieben es, uns auf unsere Weise auszudrücken und unseren Eigenheiten und Bedürfnissen auch beim Thema Style freien Lauf lassen.

“Es wurde schon viel zu lange zugelassen, dass die Roadie-Szene darüber bestimmt, wie Fashion und Selbstverständnis von Radfahrern auszusehen haben.” – Velocio

Wir müssen zugeben: Vor dem Thema Lookism sind wir selbst nicht ganz gefeit, wie ihr an unserem Essay „Wie siehst du denn aus? – Lookism im Radsport“ erkennen könnt. Doch auch wenn wir mit unseren eigenen Fotos hier im Magazin einen gewissen Stil vorleben und vermeintlich vorgeben, feiern wir im Herzen all jene, die ungeachtet dessen ihr eigenes Ding machen. Menschen, die Regeln einfach auf den Kopf stellen und genau so Rennrad fahren, wie sie es genießen. Im Folgenden hauen wir drei Style-Optionen raus, die strengen Roadie-Regeln grinsend den Finger zeigen und euch einladen, da draußen auf schmalen Reifen auch in Übergröße einen starken Auftritt hinzulegen. Dafür haben wir zudem mit vier angesagten Herstellern – Rapha, Isadore, Velocio und Pas Normal Studios – gesprochen und auch sie gefragt, welche Oversize-Style-Tipps sie auf Lager haben. In diesem Sinne: Sucht euch was davon aus – oder schließt diesen Artikel jetzt und erfindet direkt einen neuen Style!

#1 Conceal It

Vorweg: Wir finden, dass niemand das Gefühl haben sollte, etwas kaschieren zu müssen. Weder auf zwei Rädern noch sonst wo. Genau davon wollen wir wegkommen. Denn wofür wir hier sind, ist die Freude am Radfahren und allem, was dazugehört – mitsamt Aperitivo danach. Doch wenn ihr euch so nunmal am wohlsten fühlt, dann bieten die aktuellen Kollektionen auch die Möglichkeit, Hüftgold erst gar nicht groß zum Thema zu machen – und zwar ohne mühsam etwas einziehen zu müssen. Vielleicht ist dies auch eine Übergangsphase, bis ihr merkt, dass eure Statur cool ist und ihr Lust auf auffälligere Looks bekommt. Doch zunächst sehen wir uns Teile an, die auch Kurven jenseits der Größe L schmeicheln. Und, welche farblichen Tricks sich für diesen Look nutzen lassen.

Rapha und Pas Normal Studios bieten ihre aktuellen Kollektionen bis Größe XXL an, Isadore manche ihrer Styles auch in XXXL. Den Zwirn von Velocio gibt es ebenfalls bis 3XL, für Männer auch in 4XL. Schön und gut, doch Kleidergrößenangaben per se sagen noch nicht viel darüber aus, wie viel Mensch wirklich in die oft sehr klein ausfallenden Teile hineinpasst. Mit dem Thema Body Diversity rennen wir bei allen vier Brands offene Türen ein. Pas Normal Studios räumt ein, dass viele Style-Angebote im Rennradbereich scheinbar nicht alle Menschen und Staturen mitnehmen. Die Dänen wollen das in ihren zukünftigen Kollektionen ändern.

“Kleidergrößen sind nur ein Teil der Gleichung. Gerade im Radsport ist das ein tieferes, kulturelles Problem.” – Velocio

Das macht auch Sinn, denn Radfahren wird gerade zur Leidenschaft von immer mehr Menschen auch fernab des harten Leistungssports und Kults asketisch ernährter und glattrasierter Körper. Und im Windschatten dieses breiten Trends entstehen auch neue, frische Styles, die Aero und Lycra durch Cool und Casual ablösen – oder es zumindest ergänzen.

So zum Beispiel die Kollektionen Core, Classic und Brevet von Rapha, die wortwörtlich etwas entspannter sitzen als ihre CW-Wert-optimierte Pro Team Kollektion. Wenn es noch etwas lockerer sein soll, sind auch die funktionalen T-Shirts aus den Kollektionen Explore oder Trail möglich. Bei Isadore bieten die Serien Debut, Gravel oder Merino-Essentials Funktionalität mit einem Plus an Komfort, das man sich leisten kann, wenn man nicht gerade ein Zeitfahren gewinnen muss. Der Vorteil dieses Looks: Die Outfits aus den Gravel- und Endurance-Kollektionen sind entspannter geschnitten, damit universell einsetzbar und gleichzeitig absolut funktionell.

Was können Rider mit Größe XL+ beim Style beachten? „Sie selbst sein!“ – Isadore

“Es geht darum, mehr Menschen die Tür aufzumachen und zu ermöglichen, dass sie sich beim Radfahren zu Hause fühlen,
anstatt ausgeschlossen zu werden.” – Velocio

„Everything goes – sich so kleiden, wie man sich am wohlsten fühlt“ – Rapha

Welche Farben eignen sich für Oversize-Rider? Everything goes, sagt Rapha, und Isadore und Pas Normal Studios schränken hier ebenfalls nichts ein. Wem aber besonders an einem sehr dezenten Look gelegen ist, der kann freilich zu dunkleren Tönen greifen und auf auffällige Muster verzichten.

Wir bleiben dabei: Niemand muss etwas verstecken. Wer aber erst noch dabei ist, mit den eigenen Kurven cool zu werden, kann stilvoll zu den locker geschnittenen Kollektionen der angesagten Marken greifen, die auch funktionale Tees einschließen. Wer dazu noch einfarbige Looks in dunklen Tönen wählt, rollt mit viel Stil, Understatement und ganz ohne Engegefühl daher. Wer dennoch Farbe ins Spiel bringen will, hat ja noch zahlreiche Optionen von Helm über Brille bis hin zu Bike oder Bar-Bag.

#2 Own It

Ihr seid cool mit eurem Körper und sucht gar keinen dezenten, sondern vielmehr einen ausdrucksstarken Look auf dem Rad? Dann gehört euch die Welt! Denn wer sich erst einmal von dem destruktiven Glaubenssatz lösen kann, dass auf schmalen Reifen nur schmale Gestalten hocken dürfen, der kann sich mittlerweile aus einer ganzen Fülle an Optionen bedienen. Vielleicht wollt ihr eure Kurven gar nicht in dunklen Farben dezent unter dem Radar durchschmuggeln, sondern sie viel lieber mit einem knalligen Pro Team-Jersey schmücken, weil das nach Rennsport riecht und euch am allermeisten motiviert? Ja Mann, dann macht das! Völlig egal, ob eure Silhouette nur Rippen oder auch echtes Fleisch zeigt – wenn ihr nun mal auf den Race-Look steht, dann ist er die richtige Wahl. Und schließlich spielt auch für kurvige Körper Aerodynamik eine Rolle. Hier könnt ihr Punkte sammeln!

Ein offensiver Ansatz ist eure Chance, mit der Style-Pranke mal so richtig auf den Tisch zu hauen. Was auch immer ihr an Radklamotten heiß findet, tragt ihr auch. Punkt. Helle Farben und Aero? Aber sicher doch, und zwar mitten ins Gesicht! Na klar sieht man, dass ihr kein Leichtgewicht seid, na und? Ihr versteckt rein gar nichts, sondern zeigt selbstsicher, wer ihr seid: leidenschaftliche Radfahrer mit Bock auf guten Style. Auf diese Art definiert ihr selbst, wie der Körper eines Radfahrers aussieht. Nämlich genau so wie eurer!

Das Trikot gab’s leider nicht größer, aber es ist so fesch, dass ihr es trotzdem tragt, auch wenn es racing-eng sitzt? Auf euren Statement-Socken steht augenzwinkernd „feder” und ”leicht“? Sehr geil! Traut euch, aus vorgegebenen Mustern herauszutreten, und setzt so gleichzeitig ein wertvolles Statement – nicht nur in der Rennradszene, sondern für die ganze Gesellschaft. Legt euch die Trends zurecht, wie ihr wollt, und klatscht euren individuellen Stempel drauf.

Play a different game

Ähm … warum eigentlich Lycra? Und warum überhaupt eine dieser bekannten Brands? Vielleicht habt ihr stattdessen viel mehr Bock, ein lässiges Hemd offen im Wind flattern zu lassen. Und statt einer Bib wäre euch etwas Weites auch lieber, um euch darin auf euren perfekt eingesessenen Brooks-Sattel zu setzen. Wisst ihr was? Macht es doch einfach! Solange die Baselayer performen, kann man darüber fast tragen, was man will. Vielleicht landet ihr sogar im Second Hand Shop einen Überraschungstreffer, der sich auch fürs Bike eignet.

“Mischungen aus praktischen Looks zwischen baggy und tight, sind beim/nach dem Radfahren bereits üblich.” – Velocio

Das Herz des Rennradfahrens ist sicherlich nicht der vielbeschworene strenge Bekleidungskodex, der viele Staturen von vornherein ausschließt – sondern das freie Gefühl, wenn draußen im Wind die Speichen bei voller Fahrt durch die Luft pfeifen! Und die pfeifen auch im Jeanshemd. Solange es auf euren Ausfahrten nicht um wenige Sekunden, sondern um viele gute Momente geht, könnt ihr euch locker ein paar verschenkte Watt leisten, die ihr statt in Vortrieb in euren Style investiert. Lasst euch nichts anderes erzählen.

Sein eigenes Spiel zu spielen, muss auch gar nichts mit der Kleidergröße zu tun haben, sondern kann schlicht eure eigenen Vorlieben widerspiegeln. Unser Style-Guide für alle mit Kleidergrößen abseits jener der bergziegenartigen Plakat-Models erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll euch dazu anfeuern, die Community mit ganz eigenen Interpretationen zu bereichern. Und die gehen weit über unsere Vorschläge hinaus. Rennradfahren ist älter als jede Funktionskleidung und „marginal gains”. Klar, sobald es um Sekunden und Platzierungen geht, ist blanke Performance Trumpf. Doch selbst ein Eddy Merckx wurde irgendwann zum Genussfahrer. Apropos …

Was trägt nun Eddy Merckx?

Was trägt der „Kannibale“ denn nun eigentlich, wenn er sich heute für eine genüssliche Runde auf seinen Renner schwingt? Der belgische Großmeister wird diesen Artikel sicherlich ebenfalls dankend aufnehmen (wir gehen fest davon aus, dass er GRAN FONDO liest). Denn auch Eddy Merckx würde heute nicht mehr ganz bequem in die Baumwollleibchen seiner Rennfahrerzeit passen, wie wir annehmen. Die Style-Experten von Rapha, Isadore und Pas Normal Studios können darüber auch nur raten – und hoffen. Raten, ob der technikbesessene Rennfahrer von damals ohne Zögern sofort zu einer heutigen Performance-Kollektion greifen, diese eine Nummer zu klein wählen und den Helm immer noch weglassen würde. Und hoffen, dass der heutige Eddy Merckx längst komfortablere und gleichzeitig hochfunktionale Looks für sich entdeckt hat. Dann müsste er sich nur noch an diesen „nervigen“ Helm gewöhnen – und daran, dass Woll-Shirts heutzutage nicht mehr kratzen. Beweisen muss Eddy Merckx niemandem mehr etwas. Das gilt auch für alle anderen Roadies ohne Profivertrag oder Profilierungszwang. Am Ende geht’s ums Pedalieren.

Solange Radsport ein packender Wettkampfsport ist, werden Aero, Lycra und Co. immer eine große Rolle spielen. Die unangestrengt Pässe hinauffräsenden, drahtigen Models im federleichten Wiegetritt auf Werbefotos werden wir also erst mal nicht los – und das ist auch in Ordnung so. Schließlich befeuert der leidenschaftliche Wettkampfsport der Vollprofis ja auch unsere Begeisterung als Hobbyfahrer, nicht wahr? Und es ist völlig okay, sich auch mal ein bisschen wie ein Profi fühlen zu wollen. Doch bei der Wahl der Radklamotten sagen wir zu allen, bei denen es nicht um einstellige Watt-Gewinne geht: Macht euer Ding! Ob das elegant-dunkel, poppige Pro Team-Kluft oder flatterndes Flanell ist, solltet nur ihr selbst entscheiden. Und wir haben ihn zwar nicht gefragt, doch wir uns sind ziemlich sicher, dass Eddy Merckx das auch so sieht.


Body Positivity ist endlich in der Radsportmode angekommen. Biker auch jenseits der Proportionen von Bergziegen brauchen nichts zu kaschieren, sondern sollten mit stolzer Brust ihren Style wählen. Das Angebot der angesagten Bekleidungshersteller wächst und soll zukünftig noch mehr verschiedene Staturen mitnehmen. Und wer statt Jersey eh lieber Jeanshemd trägt, soll es feiern – weil es meistens nicht um Sekunden geht, sondern um Momente.

Mehr Informationen unter velocio.com, rapha.com, isadore.com.


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Text: Moritz Geisreiter Fotos: Robin Schmitt, Jan Richter