Sei ehrlich: Hast du dich nicht auch schon mal über den völlig verqueren Look anderer Rennradfahrer lustig gemacht? Kennst du das Gefühl, wie dein Teamtrikot, deine ASSOS-Bib oder dein Rapha-Aerojersey deine Brust anschwellen lassen? Dann bist du hier genau richtig.

Erinnerst du dich an diesen Typ, der das erste Mal bei deinem Coffee Group Ride aufgetaucht, neu in deinen Verein eingetreten oder dir beim Cyclosportif in die Ideallinie gefahren ist? Der Typ, der mit behaarten Beinen, verwaschenem GONSO-Trikot, ausgelatschten knallgelben Schuhen und einem schräg sitzenden roten Helm aussah wie ein Vollpfosten?

Der Neue. Sieht aus wie ein Nichtskönner.

Der alte Helm, die zu kurzen Socken, das grausame Trikot. „Oh mein Gott, wie sieht der Trottel da drüben eigentlich aus?“ Ja, bei solch einem Anblick freut sich unser Ego. Auch wenn wir es nicht aussprechen, wir denken trotzdem, wir wären etwas Besseres. Wir baden in unserer Überlegenheit und ergötzen uns in Selbstgefälligkeit: „Ha, dem Anfänger zeig ich’s. Den zieh ich ab!

Langsam startet die Gruppe – ich bin voll motiviert und bereit, nach den ersten 15 km die erste Attacke zu fahren. Breakaway. Paceline. Sechs meiner Buddys ziehen mit, im belgischen Kreisel machen wir Tempo und fahren in der Ebene davon. Endorphine, Adrenalin und langsam auch Laktat breiten sich im Körper aus. Was für ein tolles Gefühl, alles zu geben und den anderen zu zeigen, wo der Hammer hängt! Dann der Anstieg. Hier löst sich unsere Formation, die Kräfte in der Gruppe verändern sich prozentual zu den Prozenten des Anstieges. Ich merke, wie mein eifriger Enthusiasmus ab Kilometer 1 des Anstiegs versiegt, trotz des perfekten Outfits bin ich nicht mehr Herr meiner Beine. Und dann kommt die Angst – was, wenn mich der Nichtskönner einholt? Verdammt. Beine. Treten! Ich keuche den Anstieg hinauf, komme erleichtert mit schmerzverzerrtem Gesicht oben an. Halte. Trinke kurz etwas. Und dann muss ich schlucken: Da kommt er, der Neuling. Auch er schwitzt, aber er strahlt: „Bravo!“ ruft er mir zu. „Das Tempo, als ihr vorneweg gefahren seid, hätte ich nie halten können – jetzt habe ich ein Ziel zum Trainieren.“

Seine Gelassenheit, die unverkrampfte Performance und Offenheit beeindrucken mich. Der Typ ist einfach so, wie er ist, seine Verstöße gegen die von mir so geheiligten Regeln des Radsports sind ihm gar nicht bewusst und dementsprechend egal.

Bist du auch so viel wert, wie es deine Rapha-Klamotte vermuten lässt?

Ich komme mit ihm ins Gespräch und er erzählt mir seine Geschichte. Er hat eine harte Zeit hinter sich, in der er ungesund gelebt, viel Stress mit der Freundin gehabt und wenig Sport getrieben hat. Sein Kumpel hat ihm zum Rennrad geraten. Er ist Student und muss gerade sparen, über eBay-Kleinanzeigen hat er günstig ein Rad gefunden. Sein Kumpel hatte noch ein paar alte Radsachen, die ihm passten und mit denen er den Sport einfach mal ausprobieren wollte, weil ihm so viel von der tollen und familiären Rennradgemeinde vorgeschwärmt wurde. Er will sich das mal anschauen und wenn es ihm taugt, step by step für ein moderneres Rad sparen.

Seine Geschichte ist weder besonders spannend noch von unglaublicher Tragik geprägt. Dennoch veranlasst sie mich zum Nachdenken – muss ich unbedingt das Neueste und Coolste haben, um mich gut und wertgeschätzt zu fühlen? Dieser Typ kümmert sich nicht um Regeln und Material, sondern um das Radfahren selbst!

Während Sexismus und Rassismus zurecht als Thema wieder stärker in den Fokus gerückt sind, ist vielen der Lookismus noch zu wenig bewusst. Doch was bedeutet das überhaupt? „Lookism ist die Annahme, dass das Aussehen ein Indikator für den Wert einer Person ist. Sie bezieht sich auf die gesellschaftliche Konstruktion einer Schönheits- oder Attraktivitätsnorm und die Unterdrückung durch Stereotypen und Verallgemeinerungen über Menschen, die diesen Normen entsprechen und über diejenigen, die ihnen nicht entsprechen.“ Das schreiben M. Neil Browne und Andrea Giampetro-Meyer in „Many Paths To Justice: The Glass Ceiling, the Looking Glass, and Strategies for Getting to the Other Side“.

Der Typ war noch nicht auf der Modeschule – na und?!

Nach der ersten Ausfahrt zeigt sich: Der Nichtskönner kann mehr als gedacht und hat ganz schön Potenzial, wie ein ungeschliffener Diamant. Auch ich konnte etwas von ihm lernen. Statt andere aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Klamotten zu verurteilen, sollten wir ihnen gegenüber lieber offen bleiben – denn meistens können wir etwas von ihnen lernen. Hand aufs Herz, wer ist mutiger: Der Anfänger, der etwas Neues ausprobiert und noch keinen Pro-Look besitzt? Oder der Fortgeschrittene, der meint, bereits alles zu kennen und sich in seinem geregelten Pro-Look selbstgefällig genießt?

Wer sich seiner selbst bewusst ist, weiß, was er wert ist. Und er weiß, dass er keinem Ideal entsprechen muss.

Wir sind Meister darin, uns in Gleichschaltung zu üben. Jeder Diktator wäre stolz.

Ja, oftmals machen wir die Uniformierung gar zum Wettbewerb: Wer dem stereotypen Ideal des Rennradfahrers am nächsten kommt, hat gewonnen. Oakley-Brille, Rapha-Kit (aber wenn, dann bitte nicht die günstige Core-Variante), knöchellange bunte Socken und Giro-Schuhe – so sehen in unseren Augen Gewinner aus. Und ja, sie sehen gut aus.

Aber warum akzeptieren wir die anderen nicht einfach so, wie sie sind? Warum lassen wir zu, dass wir uns selbst darüber aufregen, wie sich ein anderer kleidet, ohne dass wir ihn überhaupt beim Namen kennen? Warum können wir uns nicht der Vielfalt erfreuen und das Miteinander genießen?


Dieser Artikel ist aus GRAN FONDO Ausgabe #010

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Text Robin Schmitt Illustration Julian Lemme


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