Als Rennradfahrer ist man es gewohnt, sich einzugliedern und unterzuordnen. In dem Moment, in dem du dir das Teamtrikot überstreifst, verschmilzt du mit der Gruppe. Du gibst dich selbst auf und wirst Teil von etwas Größerem. Etwas, das dir Bedeutung gibt und deine Brust anschwellen lässt. Ein schönes Gefühl, doch damit kommt auch der Druck. Die Uniform fordert von dir, die aufgestellten Regeln einzuhalten und zu funktionieren wie eine Maschine. Beine an, Kopf aus.

Die jahrzehntelange Dominanz des Profisports in der gesamten Rennradbranche hat Individualität, Freigeist und Kreativität nahezu ausgemerzt. Alles wurde rücksichtslos der Performance und dem sportlichen Aspekt untergeordnet. Erwachsene Menschen diskutieren heftigst, ob man sich als Mann die Beine rasieren muss – selbst ein Peter Sagan ist davor nicht gefeit. Sie stellen nicht nur Regeln auf, wie man sich verhalten, kleiden und präsentieren muss; was man essen und auf welchem Kettenblatt man wann fahren darf. Sondern sie fordern die Einhaltung dieser Richtlinien auch von anderen ein. Nur wer sich unterordnet und an die Regeln hält, darf sich zum Kreis der Rad-Erleuchteten zählen, darf sich Velominat nennen.

Wer etwas wagt, wechselt eventuell mal die Sockenfarbe und erntet für den Mut anerkennende Blicke seiner Rad-Kollegen. Mal ernsthaft – soll das alles sein, was der Rennradsport zu bieten hat?

Der Mensch hat eine Gabe, sich in Details zu verlieren, und dann ganz plötzlich vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen. In dem Maße, wie der Radsport zelebriert wird und Details stilisiert werden, nimmt unser Bewusstsein dafür ab, was wir eigentlich vom Radsport – und auch vom Leben – wollen. Wenn wir gelernt haben, was auf dem Rad nach allgemeiner Ansicht eine hohe Bedeutung hat, fokussieren wir unsere Aufmerksamkeit auf genau diese Dinge. Was früher ein einfaches „Ich steige jetzt aufs Rad und trete ein bisschen in die Pedale“ war, ist jetzt „Der Start eines Recovery Rides mit etwas Socializing und Kaffee-Soja-Latte-Stopp“. Jetzt tun wir nur noch ganz bedeutende Sachen, nehmen uns und unser Handeln wahnsinnig wichtig und vergessen, worum es eigentlich ging.

Im Berufsleben ist das ähnlich in einer Welt, in der Titel immer weniger gelten und jeder ein „Experte“ oder ein „Manager“ von irgendetwas sein kann. Das Label, das wir uns geben oder das uns gegeben wird, scheint auf einmal wichtiger zu sein als die Taten, die tatsächlich dahinterstehen. Was zählt mehr: objektive Leistung oder subjektives Gefühl? Der KOM auf Strava oder die gute Zeit, die du auf deinem Rad hattest? Das kostspielige Material selbst oder das Erlebnis auf dem Bike?

Wen will man damit eigentlich beeindrucken? Diese Frage muss jeder für sich selbst beantworten. Doch wenn du das fragile Gerüst der Geltungssuche und Bedeutungsgebung verlassen willst, beginnst du am besten mit der Person, die dir am nächsten steht: nämlich mit dir selbst. Denn die Kunst ist nicht, in seiner Freizeit nach den Regeln anderer zu tanzen und anderen zu gefallen. Die Kunst ist, sich selbst zu gefallen und zu beeindrucken. Trifft diese Einsicht auf den Mut, etwas zu verändern, hörst du auf, dich überall einzugliedern und unterzuordnen. Du beginnst, deine eigenen Erfahrungen zu machen und so Rennrad zu fahren, wie du es willst. In diesem Moment wirst du authentisch, hinterfragst die Konventionen, brichst die Regeln und öffnest dich für die wunderbare Vielfalt, die das Leben zu bieten hat.


Dieser Artikel ist aus GRAN FONDO Ausgabe #009

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Text: Robin Schmitt Illustration: Julian Lemme


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