Beinahe autofreie Straßen, endlose Gravel-Pisten und Bier in seiner reinsten Form – so der Pitch des Naturparks Haßberge. Wir haben uns auf der Suche nach alten Weisheiten und dem besten Gravel-Bike des Jahres 2020 auf den Weg nach Unterfranken gemacht. Kann das Schöne wirklich so nah sein?

Der Naturpark Haßberge! Warum wir euch diese Naturperle mitten in Deutschland nahebringen wollen? Nun, ein Blick durch den täglichen Strava-Feed genügt, um festzuhalten: Covid-19 hat geschafft, wovon die „Fridays for Future“-Bewegung lange Zeit geträumt hat. Statt Ferienflieger und Teneriffa heißt es nicht selten „Rein in die Bahn und ab zum Regio-Urlaub“. Einschneidende Kompromisse will dabei jedoch niemand so wirklich hinnehmen. Unsere Recherche im Voraus zeigt, dass die Region Haßberge nicht nur kulinarisch viel zu bieten hat, sondern man auch günstig eine Ferienwohnung erwerben kann: ein Schloss, 80 Zimmer, 85.000 € – Neben- und Sanierungskosten leider nicht inklusive. Das schwäbische Herz schlägt höher, Ausreden gibt es keine mehr und so packen wir unsere Siebensachen und überqueren mit Spannung den Main.

Wenn man immer nur überlegt, was sein könnte, sieht man gar nicht mehr, was ist

Die Haßberge – Was, wie, wo?

Der Naturpark Haßberge liegt im sonnenverwöhnten Norden Bayerns. Auf den sehr ruhigen 860 Quadratkilometern erstrecken sich sanfte Hügel, bunte Mischwälder und weite Wiesentäler. Hinter nahezu jeder Ecke wartet ein Schloss, eine Burg oder die Ruine eines herzoglichen Anwesens und außerdem ist der Europasitz von SRAM in Schweinfurt nicht weit entfernt. Der unterfränkische Landstrich erstreckt sich bis in den Naturpark Steigerwald und ist die Nahtstelle zweier Regionen, die mit schamlosen Genüssen nicht geizen: Wein- und Bierfranken. Während der Naturpark über ein großzügiges Radwegenetz verfügt, haben wir uns für die Erkundung seiner Schotterpiste auf die Reise gemacht. Denn: Mit dem Gravel-Bike auf Asphalt zu fahren, ist in Anbetracht der nahezu unendlichen Streckenvielfalt kein Graveliersdelikt! Wen es doch mal auf die liebevoll geschwungenen Sträßchen jenseits der hektischen Mehrspurigkeit ziehen sollte, der kann seine Passion trotzdem in vollsten Zügen genießen. Immerhin hat hier eine dreistündige Ausfahrt, bei der man mehr als 5 Autos begegnet, einen solchen Seltenheitswert, dass sie einem Eklat gleichkommt. Ungeachtet dessen sei gesagt, dass man in den Haßbergen weder die Theatralik der Dolomiten noch die sanft-salzige Brise Südfrankreichs oder die weißen Straßenverläufe der Toskana finden wird. Der kurze Adrenalinkick bleibt aus, denn es geht nicht darum, die gute Zeit auf eine epische Happy Hour zu beschränken, die anders als in der Cocktailbar mal wirklich nur 60 Minuten lang ist. Wir wollen nicht sagen, dass die Zeit im Naturpark Haßberge stehen geblieben ist, aber sie verläuft doch spürbar langsamer und fließt wie die seichten Erhebungen der Landschaft sanft vom Weinglas bis zum Bierkrug.

Wenn man sich nun an diesem verträumten Rückzugsort befindet und immer nur überlegt, was sein könnte, sieht man gar nicht mehr, was ist. Und so begrüßt uns Gastgeber Thomas herzlich im Brauhaus 3 mit den Worten: „Schön, dass ihr da seid! Legt die Uhren ab, ich hol mal ein Fässchen Bier.“

Die Sprintertür öffnet sich, Bikes und Taschen werden aus dem 40 °C warmen Ladebereich gehievt und gereicht wird ein sogenannter Seidla Märzen Bier aus dem 30 l kleinen Fässchen. Wir lernen, dass ein Seidla im Grunde ein Kulturgut ist und für eine halbe Maß bzw. einen halben Liter Bier steht. Und dass die Biersorte Märzen nach der bayerischen Brauordnung lange Zeit nur zwischen dem 29. September und dem 23. April gebraut werden durfte. Schließlich erfordert das in Bayern beliebte untergärige Bier bei seiner Herstellung eine Temperatur von unter 10 °C und die erhöhte Brandgefahr beim Biersieden war von den Braumeistern lange Zeit gefürchtet. Das Rezept unseres speziellen Märzen Bieres ist – wie könnte es anders sein – ein streng gehütetes Familiengeheimnis und stammt aus den 1920er-Jahren. Wir können sowohl dem Geschmack als auch der Wirkung des Hopfengetränks selbst 100 Jahre später nur unser Lob aussprechen. Es wird spät an diesem Abend. Unsere Taschen bleiben verschlossen und die Bikes verbleiben mehr oder minder fahrbereit im Flur. Gute Nacht!

Mit dem Gravel-Bike ist es wie mit dem zweiten Auge, man sieht mehr!

Tinnitus-Gefahr für Stadtbanausen

Die am dünnsten besiedelte Region Bayerns erkundet sich nicht von allein und so raffen wir unsere geräderten Körper aus dem Bett und müssen über den Anblick der großzügigen Küche im Brauhaus 3 schmunzeln. Hier wird klar, dass der Name keineswegs Schall und Rauch ist, immerhin steht direkt neben dem Kaffeevollautomaten die sogenannte Bier-Brau-Eule und wartet auf ihren nächsten Einsatz. Wir entscheiden uns zugunsten der Fahrtauglichkeit für ein heißes Koffeingetränk und trauen auf der Terrasse unseren Ohren nicht: Zwei Meter neben der Hauptstraße, die das Örtchen Köslau/Königsberg in Bayern durchzieht, ist es nämlich so ruhig, dass man – gewöhnt an den Stuttgarter Buzz – geneigt ist, zu denken, hier würde was nicht stimmen. Gastgeber Thomas nickt uns ein „Guten Morgen“ zu und weiß unser Städtergehör zu beruhigen: „Manchmal hört man die Stille gar nicht mehr, weil das Bier so laut in den Ohren rauscht.“ Jeder aus unserem verkaterten Team weiß genau, was gemeint ist. Wir nicken und fühlen uns allmählich frisch genug, die Bikes auf den Schotter zu bringen.

Tour de Haßberge

Praktischerweise haben wir eine große Auswahl an Rädern im Gepäck, denn wir sind nicht nur unserem Pioniergeist in die Haßberge gefolgt, sondern wollen auch die heißesten Gravel-Bikes im Rahmen unseres großen Vergleichstests unter die Lupe nehmen. Das Testgebiet vorab ausgiebig zu erfahren ist dabei natürlich unerlässlich. Und so führt uns der Streckenverlauf als Erstes in den Kunsthandwerkerhof, der direkt im Zentrum von Königsberg nicht nur mit seiner Fachwerkarchitektur zu reizen weiß. Die gelernte Bildhauermeisterin und stolze Inhaberin Anne Marie Reiser-Meyerweissflog zelebriert hier Kaffeekunst wie in Italien und verbindet hausgemachten Kuchen mit zeitgenössischer Kunst. Vegan? Gluten-free? Nee, ne? Hier ist’s wie bei Oma! Ursprünglich bot der Hof Räumlichkeiten, die von ansässigen Künstlern angemietet wurden, und eben ein kleines Café. Heute ist das Café selbst der Star der Show und lädt mit 440 ml großen Milchkaffeetassen zum Verweilen ein.

Frisch gestärkt brechen wir auf in Richtung Süden, biegen am Main gen Osten und erreichen in Zeil am Main im Weingut Bauerschmitt unsere nächste Station. Hier warten feinster fränkischer Wein aus eigener Herstellung, hausgemachte Wurstspezialitäten aus dem Nachbarort Sand und ein toller Blick auf den Main. Die für Frankenweine typische geringe Restsüße und das ausgeprägte Aroma der Rebsorten wie Silvaner, Bacchus und Domina lassen wir uns nicht entgehen. Besonders empfehlenswert ist ein Besuch ab Mitte September, schließlich gibt’s dann zum frischen Zwiebelkuchen ein Glas Federweißer. Die Geister sind geweckt und wir sind bereit für den nächsten Streckenabschnitt des Tages.

Feinster Schotter und autoarme Landstraßen führen uns vorbei an Schloss Kirchlauter und Schloss Weißenbrunn, bis wir strahlend, verschwitzt und mit ordentlich Staub zwischen den Zähnen im Weingarten Jesserndorf eintreffen. Hier sorgen Barbara und ihr Mann Günther für ein ganz besonderes kulinarisches Erlebnis. Öffnungszeiten? Nur auf Anfrage. Die Gerichte auf der Karte? Alles, was gerade im Garten wächst und worauf die beiden Gastgeber selbst Lust haben. Bei der Bestellung der ersten Getränke begehen wir beinahe einen Fauxpas. Der Weingarten heißt nämlich Weingarten, weil’s da kein Bier gibt. Dieser bestechenden Logik haben wir nichts hinzuzufügen und nehmen Platz. Gereicht werden 9 Stunden lang gesmokte Beef Ribs, Karree vom Iberico Schwein und Lachsfilets, bei deren Zubereitung über der Feuerschale man zugucken kann. Auch das Salatbuffet sucht seinesgleichen. Nach ein paar Stunden im Weingarten müssen wir sagen: Die Herzlichkeit und Hingabe, mit der das Paar diesen versteckten Schatz der Gastronomie betreibt, hat uns nachhaltig berührt. Da sich die beiden so langsam aus dem Betrieb zurückziehen wollen, solltet ihr jedoch schnell sein, um dieses Spektakel einmal selbst erleben zu dürfen. Für den Upload der Strava-Daten braucht ihr mangels Empfang übrigens das nahezu unknackbare WLAN-Passwort der beiden. Unser erster Tag im Naturpark Haßberge endet mit einem Versprechen, das wir unserem Gastgeber Thomas geben: Morgen wird Bier gebraut!

Und so geschieht es auch am nächsten Morgen. Kaffeemaschine und BrauEule geben sich ein Stelldichein und Thomas erklärt uns die Basics des Brauens: „Lieber soll die Welt verderben, als am Durst ein Franke sterben!“ Der Sud ist angesetzt, der Kopf wird im Pool gekühlt. An die Stille haben wir uns mittlerweile gewöhnt und obwohl wir erst einige Stunden hier sind, fühlen wir uns schon wie zu Hause. Dieser erste Streifzug durch eine der waldreichsten Regionen Deutschlands hinterlässt bei uns wunderschöne Erinnerungen, den Wunsch, so schnell wie möglich zurückzukehren, und einen nicht zu verachtenden Restalkoholwert. Während einige Teile dieser Story ausdrücklich nicht nachahmenswert sind, sind die Touren es definitiv. Dazu haben wir euch eine Komoot Collection mit den besten Gravel-Routen angelegt.

Einmal mehr hat uns dieser Trip gezeigt: Das hartnäckige Gerücht stimmt, das Schöne liegt wirklich ziemlich nah! Die Region Haßberge weiß auf besonders charmante Weise das Profane mit dem Außerordentlichen zu verbinden – hier geht’s um den Genuss als Lebenseinstellung und nicht als gesondertes Ereignis. Keine Happy Hour, keine schnellen Kicks, sondern authentische Schönheit bis ins Detail. Selten sind uns auf unseren Reisen derart viele Menschen begegnet, die uns mit ihren Einstellungen und Ansichten derart sympathisch waren. Und wir hoffen, dass auch ihr in diesen Genuss kommt.


Hier findet ihr noch mehr Informationen zur Tourismus-Region Haßberge.


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Text: Benjamin Topf Fotos: Robin Schmitt, Benjamin Topf