Von ihrer kleinen Werkstatt in East London aus leistet die unabhängige Bike-Marke Stayer Cycles Pionierarbeit, was die häufig unterschätzte Kunst maßgefertigter Laufräder angeht. Dabei nimmt Stayer es mit den Giganten der Industrie auf und bricht mit Konventionen – und zwar nicht nur, was den Werdegang der Gründer angeht.

Wahrhaftige Laufradbauer erschaffen Laufräder, die für die Ewigkeit und knallharte Einsätze gebaut sind. Gewicht und Performance sind zweifellos wichtig, doch der Einsatzzweck steht bei ihnen im Mittelpunkt. Nirgendwo ist das offensichtlicher als bei der in Belgien geborenen Judith Rooze. Sie ist eine Art Laufradbau-Sommelier und hat sich diese traditionelle Denkweise zu Herzen genommen. Als ein Unikat in der Bike-Industrie ist sie eine Hälfte der unabhängigen Bike-Marke Stayer Cycles aus East London. In einem Gewerbegebiet in Leytonstone widmet sich Stayer Cycles dem Bau von Laufrädern und Bikes – und zwar nach den eigenen Vorstellungen der Gründer und nicht blind den Trends folgend, die die Industrie vorgibt.

Wir unterhalten uns mit Judith, während sie emsig an ihrem Zentrierständer arbeitet. „Es ist doch merkwürdig, dass die Pros ihre Laufräder noch immer von Hand aufgebaut bekommen, während der Massenmarkt mit Systemlaufradsätzen überfüllt ist“, meint sie. „An handgefertigten Laufrädern scheint also etwas dran zu sein.“ Sie wendet flüchtig ihren Kopf von dem Laufrad ab, das sich vor ihr in Arbeit befindet. Bei ihm müssen nun die Speichen auf die richtige Länge gekürzt werden. Anstatt eine Unzahl unterschiedlich langer Speichen vorrätig zu haben, misst Judith sie präzise auf eine Genauigkeit von 0,2 mm ab, damit sie perfekt zum Laufrad passen. Während der Aufbau voranschreitet, wird die konzentrierte Stille regelmäßig unterbrochen durch das Klicken des Speichenspannungsmessers, mit dem jede einzelne Speiche gewissenhaft überprüft wird. Ausrüstungsgegenstände von Park Tool und DT Swiss prägen das Bild ihres Arbeitsplatzes und helfen dabei, die Präzision eines jeden Laufrades zu gewährleisten. Hinter Judith befindet sich ein Aktenschrank, gefüllt mit Speichen aller Art: rund, konifiziert, Straight-Pull, Messerspeichen … Sie erklärt uns die Vor- und Nachteile einer jeden und wir hören aufmerksam zu. Später zeigt sie uns die Nippel, die sie am liebsten verwendet – eine innenliegende Mutter, die es ermöglicht, die Speichenspannung vom Felgenbett aus einzustellen, ohne die Spannung von außen korrigieren zu müssen und damit die Ästhetik des Endproduktes zu beeinflussen. Judith arbeitet stets zielstrebig und sorgfältig. Das muss sie sogar, denn sie hat einen Ruf zu bewahren.

Stayer Cycles leitet sie in Zusammenarbeit mit ihrem Partner Sam. Als Schweiß-Profi und Rahmenbauer bildet er das Pendant zu Judiths hochwertigem Laufradbau. Beide lernten sich im Studium der bildenden Künste an der Londoner UCL kennen, wo sie auch ihre gemeinsame Leidenschaft für traditionelles Handwerk und Qualitätsarbeit entdeckten. Während der vergangenen drei Jahre hat sich das kreative Duo aus East London eine treue Fangemeinde in der britischen Hauptstadt aufgebaut, die sich mittlerweile über die gesamte Nation erstreckt und aus Hardcore-Cyclocross-Fans, Gravel-Spezialisten, Endurance-Fahrern und allen anderen besteht, die für ihr kostbares Rennrad nach etwas ganz Speziellem suchen. Ihre Winter-Wochenenden verbringen Judith und Sam damit, Athleten bei nationalen Cyclocross-Events sowie Weltcups zu betreuen, wo das Duo eine dreifache Rolle einnimmt – als Fans, Mechaniker und um vor Ort Feedback in Echtzeit zu erhalten. Radfahren steckt ihnen also auf jeden Fall im Blut.

Eigentlich ein sonderbarer Gedanke, dass unser Sport zwar per Definition zwei Räder erfordert, die meisten Radfahrer sich aber dennoch komplett von der Kunst des Laufradbaus entfernt haben. Seit Mitte der 90er und der Einführung von Laufradsätzen ging – inmitten des Glanzes eines kompletten Bikes – die Notwendigkeit verloren, sich über das Zusammenspiel von Nabe, Speichen, Felgen und dem tatsächlichen Aufbau des Laufrades Gedanken zu machen. Doch je mehr man sich mit dieser Thematik beschäftigt, desto klarer wird einem der gewaltige Einfluss eben dieser Faktoren auf die Fahreigenschaften des eigenen Bikes. „Ich bekam einmal ein Laufradpaar zugeschickt – eine hauseigene Marke von einem großen Shop –, bei dem die Speichen nicht gekreuzt waren“, erinnert sich Judith. „Ich dachte zunächst, das sei ein einmaliger Fehler, doch dann forschte ich etwas nach und fand heraus, dass sie so konstruiert wurden. Das hat mich umgehauen! Wie sollte das halten oder überhaupt laterale Steifigkeit bieten?“ Judith erzählt, während sie noch mehr starken Kaffee aus einer Kaffeemaschine nachschenkt. Der Raum, in dem wir uns befinden, ist gespickt mit einer Sammlung an Bikes, Kameras und Reifen.

„Ich würde nicht behaupten, dass ich schon als Radfahrerin aufgewachsen bin, doch ich war zumindest von dem Sport umgeben dank meiner Geschwister, die Rennen fuhren, und einer Mutter, die jeden Tour-de-France-Star kannte. Inklusive dessen, was er zum Frühstück hatte, auch wenn sie behauptet, kein Radsport-Fan zu sein.“ Judith lacht. „So ist das nun mal in Belgien.“ Fügt man nun noch das Schweißen hinzu, das Sams Familie im Blut liegt, so war es vielleicht sogar zu erwarten, dass Bikes und die schönen Künste eine wichtige Rolle in der Zukunft dieses Paars spielen würden.

Judith hatte jedoch einen gemächlichen Start in der Bike-Industrie – durch das Kaufen und Verkaufen von Vintage-Bikes während des Studiums. „Man lernt schnell, dass jedes alte Fahrrad wie die Büchse der Pandora ist“, erzählt sie. „Ich musste gleich von Beginn an die Rolle der Bike-Mechanikerin annehmen und fand dabei heraus, dass die Laufräder oftmals die meiste liebevolle Zuwendung brauchten. Ich konnte schließlich nicht einfach etwas verkaufen, das nicht funktioniert. Ich wollte deshalb in der Lage sein, die Laufräder zu reparieren und dabei sicherzustellen, dass sie eine lange Lebensdauer haben.“

Dank einer Unzahl begehrenswerter Rahmen, die sie über ihr Netzwerk in der alten Heimat Belgien beschaffte, und einem Heer an Londonern aus der Kunstszene, die scharf waren auf Vintage-Bikes, wuchs ihr Nebengeschäft schnell zu einem konventionellen Geschäft auf der Brick Lane heran. Doch die Realität holte sie als Frau in einer von Männern dominierten Industrie ein. Es verschlang Judiths komplette Ressourcen, eine geschickte Mechanikerin zu werden, und es war alles andere als leicht. „Es ist hart, als Frau in einem Bike-Shop eine positive Grundeinstellung zu bewahren. Ich kenne ehrlich gesagt keine Frau, die in Bike-Shops arbeitet und nicht irgendwann verbittert ist. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass die Leute nicht wissen, wie sie mit einer Frau in diesem Umfeld umgehen sollen, doch männliche Kunden neigen stark dazu, einen nicht ernst zu nehmen. Das geschah einfach so unheimlich oft und ich wurde zunehmend wütender und wütender – und musste wie viele weibliche Mechanikerinnen dagegen ankämpfen, nicht verbittert zu werden.“ Doch heute ist von jeglicher Verbitterung keine Spur mehr.

Das Paar zog schließlich weiter in den Osten nach Leytonstone, wo Stayer Cycles geboren wurde und wo die beiden sich auf genau das konzentrieren konnten, was sie am glücklichsten macht. Sie verfügen mittlerweile über zwei Etagen in einem kleinen Fabrikgebäude und Judith arbeitet größtenteils in Einsamkeit – einzig Nola, ihr Hund und zugleich Chef der Personalabteilung, ist bei ihr. „Jetzt, da ich einen tatsächlichen Beruf ausübe und nicht länger im Bike-Shop arbeite, haben sich die Dinge verändert“, berichtet sie. „Alles in allem erlebe ich deutlich weniger Frauenfeindlichkeit. Vielleicht respektieren die Leute mich mehr, weil ich in einem fachspezifischeren Bereich tätig bin. Die Leute stolpern nicht zufällig von der Straße bei uns herein. Wenn sie sich auch nur ein klein wenig informiert haben, dann wissen sie, mit wem sie es zu tun haben werden.“

Judiths Werkstatt ist durchflutet von natürlichem Licht und im Hintergrund summt ein französischer Radiosender. Nola schaut von ihrem Bett auf, während sie einen Tennisball zwischen den Zähnen hält. „Und außerdem will ich glauben, dass die Industrie sich zum Besseren verändert.“ Sie lacht erneut. „Die Leute wissen mittlerweile, dass es für ihr Geschäft wichtig ist, offen zu sein, und das führt zu einer interessanten Veränderung.“ Sie fährt damit fort, die Speichenspannung bei einem Satz Laufräder einzustellen, der sich bald auf den Weg zur National Cyclocross Series machen wird. Bereit dafür, bei jeder Gelegenheit den wildesten Bunny-Hops von zwei der ambitioniertesten nationalen Nachwuchshoffnungen standzuhalten.

Die Empfänger dieser Laufräder mögen zwar erst 10 und 12 Jahre alt sein, doch sie und ihre Eltern sind ganz genauso passioniert wie die belgische Laufradbauerin selbst. Wir genießen es, Judiths Geschichten zu lauschen, und so erzählt sie noch mehr Hintergrund-Storys über die Menschen, die mit Produkten von Stayer unterwegs sind – und allein diese Geschichten verdienen schon fast einen Buchvertrag! Judith will Leute ausstatten, die ihre Ausrüstung wirklich an ihre Grenzen bringen. Sie verteidigt 650B-Laufräder für Frauen, da diese von der Agilität kleinerer Laufräder profitieren, und analysiert für ein Cyclocross-Event die Bodenbeschaffenheit des Kurses, um sicherzustellen, dass ihre Fahrer die bestmögliche Lösung erhalten. Und dann gibt es da noch das leidenschaftliche „Dot-Watching“ ihrer Laufräder, also das Verfolgen der GPS-Tracking-Punkte ihrer Sportler auf einer virtuellen Online-Karte. So kann sie sehen, wie ihre Laufräder den europäischen Kontinent in Rekordzeiten überqueren oder Spitzenplätze bei Rennen wie dem Transcontinental belegen.

Zusammengefasst: In all diese mühsamen Prozesse fließt eine ganze Menge Leidenschaft.

Wir fahren fort damit, die guten und schlechten Seiten der Industrie zu beleuchten und kommen dabei nicht umhin, still Judiths Expertise zu bewundern. Als Laufradbau-Fachkundige kennt Judith Performance, Preis und Gewichtsverhältnis aller Produkte da draußen. Und durch ihre Arbeit mit Stayers eigenem Cyclocross-Team weiß sie genau, welche Lager etwas aushalten und welche nicht. „Wenn man die Laufräder seines Cyclocross-Teams nur alle zwei Saisons für einen Service sieht, wird einem schnell klar, dass bestimmte Produkte mit einem Bewusstsein für Qualität konstruiert werden. Natürlich erleben wir auch mal eine gebrochene Felge, das ist ganz normal – doch Mängel aufgrund des Zusammenbaus, nein. Selbst Probleme aufgrund von Verschleiß treten erst nach einer langen Zeit auf“, fügt Judith stolz hinzu.

Judith ist nicht nur im Privaten eine fesselnde Rednerin, sondern lehrt auch die Kunst des Laufradbaus in der Werkstatt London Bike Kitchen, wo sie mit Freude beobachtet, dass immer mehr Frauen sich für die Mechanik der Bikes begeistern. Die Atmosphäre dort ist völlig offen und inspiriert Judith immer wieder aufs Neue, wenn sie nach Leytonstone zurückkehrt. Und zwar so sehr, dass das Unternehmen, das sich mit maßgefertigten Rahmen und Laufrädern einen Namen gemacht hat, nun auch einige lagernde Produkte anbietet – damit ein neuer Kundenkreis die Qualität handgebauter Laufräder erleben kann.„Als ich mit dem Laufradbau begann, gab es nur uralte Bücher und Foren, aus denen ich diese Kunst erlernen konnte, daher möchte ich mein Wissen gern teilen“, meint Judith. „Es ist erstaunlich, wie schnell einige Menschen es sich aneignen.“ [Anmerkung der Redaktion: Stayer sucht übrigens aktiv nach einem oder einer Auszubildenden!]

Wir sind neugierig und wollen Stayers Idee handgebauter Laufräder von der Stange weiterspinnen, daher bohren wir tiefer. Mit dem Wissen, dass es da draußen ein ganzes Heer asiatischer Hersteller gibt, aus denen man wählen könnte – wie kann ein anspruchsvoller Laufradbauer oder Kunde wissen, dass er hier etwas Wertigeres erhält? Judiths Antwort: „Wir haben unser Angebot beschränkt auf drei Felgen von drei erstklassigen Zulieferern, mit denen wir absolut zufrieden sind. Wir sind noch nicht an dem Punkt, dass wir uns eigene Formen für Felgen leisten könnten. Die Kosten dafür sind gewaltig und auf die größeren Firmen beschränkt. Das bedeutet, dass ich eine beträchtliche Menge Zeit damit verbracht habe, nach Felgen zu suchen, die all unsere Anforderungen erfüllen – durch Erprobungen und härteste Testfahrten. Ich denke, dass mir dabei meine Erfahrung mit kundenspezifischen Aufbauten geholfen hat, weil ich dadurch einfach weiß, welche die besten Marken sind. Und davon ausgehend wähle ich eine von drei verschiedenen Felgen aus, die in der Regel mit DT Swiss-Naben aufgebaut wird – denn für mich sind sie vermutlich die besten da draußen.“

Stayer Cycles ist nicht ausschließlich auf Profit aus und die beiden sind größtenteils auf Mund-zu-Mund-Propaganda angewiesen. Mit ihrem progressiven Ansatz, ein traditionelles Geschäft zu führen, sind die beiden so bodenständig wie ein Laufrad selbst. Auch wenn wir uns nicht sicher sind, dass ihre Mentalität die gesamte Industrie widerspiegelt, in der Männer noch immer dominieren und Laufradsätze noch immer ein Massenprodukt sind, scheint ihre Londoner Blase ein gesundes Umfeld für das Paar zu sein. Mit diversen Rad-Ligen nur für Frauen, der London Bike Kitchen, einer florierenden Amateur-Rennszene und einer Fülle von unabhängigen Radhändlern hat die Stadt die Nachfrage nach handwerklichen Aufbauten gefördert und wir sind begeistert, dass sich dieser Trend über die Grenzen Londons hinaus ausbreitet (solange es denn der Brexit erlaubt!). Die Ideen, die sich in dieser fortschrittlichen Metropole entwickeln, befeuern einen Wandel innerhalb unseres Sports, der Frauen zu gleichberechtigten Individuen mit Werkzeug in ihren Händen macht. Obwohl … wenn man Judith fragt, würde sie wahrscheinlich sogar sagen, dass sie besser sind als ihre männlichen Kollegen.

Warum das so ist? „Insgesamt haben Frauen weniger Vertrauen in das Endprodukt, darum überprüfen wir alles doppelt und dreifach.“

Dank des traditionellen und vertraulichen Dialogs zwischen Fahrer und Konstrukteur liegt es auf der Hand, dass Stayer Cycles etwas Besonderes ist. Judith kann dem nur zustimmen: „Es hat natürlich einen Vorteil, eine solche Größe zu haben. Wir sind unseren Kunden unheimlich nah, was bedeutet, dass wir auf ihre Bedürfnisse eingehen und somit ein Teil ihres Fahrvergnügens sein können. Genau deshalb liebe ich es auch, Laufräder für Endurance- und Adventure-Bikes zu bauen. Ich liebe die Vorstellung, auf Entdeckungsreise zu gehen.“

Doch das soll nicht heißen, dass es Judith selbst an Abenteuern mangelt. Anfang des Jahres durchquerte sie das Atlas-Gebirge und ist nun auf dem Weg nach Wales für ein paar Feldstudien in Gestalt eines Bike-Urlaubs. Während große Firmen Test-Teams, Ingenieure und Produktmanager beschäftigen, was zu einer gewissen Distanz zum Endprodukt führen kann, gehören alle, die ein Bike von Stayer Cycles oder Judiths Laufräder fahren, quasi zur Familie – wo auch immer sie sich in der Welt gerade aufhalten.

Für mehr Infos besucht stayercycles.com


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Text & Fotos: Phil Gale, Emmie Collinge