Sie ist die Zahl Gottes. Symbol für einen starken Willen und ein unerschütterliches Selbstvertrauen. Sie ist nicht nur Basis aller Zahlen, sondern auch Gleichnis meiner Jungfernfahrt auf dem Rennrad.

Ich zupfe mir das Outfit zurecht. Überall zieht und klemmt es. Für gewöhnlich fühle ich mich auf dem Mountainbike zu Hause, aber GRAN FONDO-Chef Robin hat mich heute für unsere bevorstehende Tour zum Roadie umgebaut – Lycra, Cap und Gilet. Eine kurze Runde soll es werden, eine Art Einführungskurs in die Tiefen des Rennradsports.

Es ist ein sonniger Tag, der sich wie Winter anfühlt. Wie zu erwarten, starten wir mit einem viel zu hohen Schnitt ins Südtiroler Panorama. Links und rechts türmen sich die Dolomiten auf. Robin schaut sich nach mir um. Ich trete in seinem Windschatten. Nach einem kumpelhaften „Hopp, komm!“, folgen die wichtigsten Handzeichen der Straße. Nach 35 km kommt der erste Gruß von meinen Waden. Krampf unten links, Zeugnis meiner Übermotivation.

1.789 m über dem Meer, auf einem Schild am Straßenrand steht „Furkelpass“. Anstiege und Abfahrten wechseln sich nun ab und so langsam weicht der Schmerz der Freude. Die Aussicht wird von Minute zu Minute schöner. Meine Augen tränen, die Jacke flattert in der Zugluft. Es ist nicht gerade warm, aber der Puls ist dafür hoch. Mittlerweile fährt Robin in meinem Windschatten. Ich bin in einer Art Trance gefangen. Mein Atem, synchronisiert mit der Kurbelumdrehung. Ich sehe nur noch den Asphalt unter mir vorbeiziehen. Für eine kurze Runde sind wir längst über alle Berge.

Nach 57 km werden die Schatten größer. Die Sonne zieht weiter. Der Schmerz kommt zurück. Spontan biegen wir ab und folgen einem schottrigen Wanderweg, der mit Wurzeln gepflastert ist. Er gleicht eher einem MTB-Trail. 28-mm-Reifen und Schotter? Von vorne höre ich: „Let’s gravel!“ Von mir selbst höre ich nur: „Muss das sein?“
Auf dem Orientierungsschild steht eine 1. Für Robin bedeutet sie die Entfernung zum spontanen Ziel am Pragser Wildsee. Für mich bedeutet sie abschalten und pedalieren. Dass nach 5 km immer noch die Zahl 1 die Schilder schmückt, fällt dabei gar nicht mehr auf. Wir kommunizieren nur noch über Atemgeräusche und prägnante Ansagen wie: „Ich dreh gleich um“. Meine Lunge hustet kalten Atem und ringt nach Feierabend.

Ich komme an. Nein, nicht am Pragser Wildsee. Zumindest jetzt noch nicht. In diesem Moment, in dem ich inneren Frieden verspüre, bin ich im Rennradsport angekommen. Zumindest glaube ich das. Kilometer für Kilometer, Krampf für Krampf komme ich dem Straßensport immer näher und verstehe langsam, warum manche täglich im Sattel sitzen. Wenn man das Schmerz-Freude-Prinzip erst einmal verstanden hat, tritt es sich einfacher. Es kommt mir vor wie eine Traumphase, in der der Geist die alltäglichen Dinge verarbeitet, während ich trete und trete und trete. Mein Entdeckungsradius wird größer, der Adventure-Modus ist aktiviert. Und über all dem steht der Teamgeist, der einen hier draußen am Leben hält.

Schon Terence Hill wusste: Ab jetzt ist es “nur ein Schritt bis zum Himmel” – für mich fühlt es sich aber gerade eher an wie das Tor zur Unterwelt. Der Weg hierhin gleicht dem Weg nach Mordor. Wir erreichen unser Ziel. Die Perle aller Seen. Vor uns breiten sich die tanzenden Spiegelungen der Dolomiten auf dem Pragser Wildsee aus. Nach dem lauten Keuchen herrscht plötzlich Stille. Kein Mensch weit und breit und dank der toten Handyakkus zwingen wir uns, den Moment voll auszukosten. Kein Instagram, keine Standortmitteilung, keine Termine. Unser Atem hängt Wolken in die eiskalte Luft. Das Lächeln, das dieser Ort hervorbringt, friert fest. Wir vergraben unsere Gesichter in den hochgezogenen Kragen und grinsen zufrieden. Bei jedem Schritt vibriert der Fuß vor Kälte. Nüsse und Trockenfrüchte dienen als letzte Energiespritze. Am Bootsanleger hat eine kleine Jolle festgemacht. An ihrer Flanke prangt eine weiße 1. Es ist erstaunlich, welche Orte man entdeckt, lässt man erst einmal dem Zufall freien Lauf. Dieser Ort war nicht unser Ziel und doch war es ein Ziel, einen Ort wie diesen zu entdecken.

1 und 0, an und aus – die Basis jeder Programmierung, vieler Konzepte und Ideen. Ist das ein Zeichen? Soll ich mich endgültig der Straße hingeben, Enduro und Downhill den Rücken kehren? Bei der Fahrt ins Tal schießen die Landschaften an mir vorbei. Mit eingeklickten Pedalen geht es gen Tal. Ein Sprint über den Parkplatz, dann sind wir zurück in der Autokolonne – einer blechernen Walze, die in die Kleinstadt Bruneck kriecht. Der Fahrtwind treibt uns die Tränen in die Augen, das Surren der Naben hält uns auf Kurs. Ein letzter Blick auf das vorbeifliegende Straßenschild: Noch 1 km bis zum Ziel. Hätte ich jetzt mein Handy bereit, wäre das mein Shot für die Ewigkeit. Denn ich bin jetzt überzeugt, 1 steht für: On.


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Text: Julian Lemme Fotos: Robin Schmitt