Meist kämpft man gar nicht gegen Berge, Naturgewalten, externe Herausforderungen. Der härteste Gegner ist diese kleine Stimme im Kopf, die Aufgeben für eine Lösung hält. Und dann kämpft man an zwei Fronten: gegen die Müdigkeit, die Erschöpfung, den Schmerz in den Beinen – und dafür, dass diese verdammte Stimme endlich Ruhe gibt.

Die Schmetterlinge sind wieder da, flitzen in meinem Bauch umeinander wie wahnsinnige Drum-and-Bass-Tänzer. Ein Kloß in meinem Hals versperrt vorübergehend den Zugang zu meinem Magen, wehrt sich gegen jeden Bissen, den ich zu schlucken versuche – die erste Herausforderung schon beim Frühstück.

Es gibt einen Grund, weshalb einem die Passanten in den Bergen zu Beginn eines Anstiegs oft Ermutigendes zurufen, wie „Bon Courage“. Man braucht Mut, man braucht geistige und körperliche Entschlossenheit, wenn man 15 bis 20 km lange Anstiege bezwingen will.

Schon das Einklicken und Losfahren löst in der Runde nervöses Gelächter aus. Die Berge liegen wie hindrapiert um uns herum, doch selbst die schützende Umarmung des Tals kann unsere angespannten Nerven nicht beruhigen. Als die Straße ansteigt, mischen sich andere Körperteile ein; Beine, Lunge, Magen, Herz und Hirn, alle wollen bei diesem sportlichen Unterfangen was zu melden haben.

Der übliche Gruppenpakt ist geschlossen: Fahr dein eigenes Tempo, der Treffpunkt ist oben. Es gibt nichts, was mit der Einsamkeit am Berg vergleichbar wäre. In einem Moment ist es berauschend, im nächsten ist einem zum Heulen zumute. Auf diese Weise ganz alleine die Schönheit der Welt aufzunehmen, ist Meditation auf einer anderen Ebene. Die Strapazen sind durchsetzt von Momenten der Reflexion. Ich denke über die Vergangenheit und die Zukunft nach, und versuche, aus beiden Kraft für meinen Körper zu ziehen.

Nach 5 von 15 km taucht ein anderer Rennradfahrer auf, er überholt mich und fährt eine Weile in einigen Metern Abstand vor mir her. „Halt durch, du schaffst das, es ist nicht mehr weit!“, lässt er mich wissen. Das ist sein Pep-Talk für mich, bevor er mit ordentlich Tempo davonfährt. Nicht mehr weit? Es sind immer noch 10 km – bergauf! Doch ich sage mir: „Das ist dein Anstieg, dein Tempo, zieh’s durch!“

Kurz darauf versuche ich es mit Selbstgesprächen, rede mir gut zu: „Alleine ist sowieso besser, da hast du deine Ruhe.“ Ich lache spöttisch und bin nicht sicher, ob ich mir glauben soll, aber sich selbst ein bisschen austricksen schadet ja nicht, oder?

  In manchen Momenten scheint es ganz mühelos, als ob ich im Einklang mit dem Berg bin.

Wenn man einen Berg hochfährt, hat man gar keine andere Wahl, als das Leben langsamer laufen zu lassen. Als würde ich zu einem Beat klatschen, entdecke ich meinen Rhythmus, klopfe mit den Füßen in die Pedale. In manchen Momenten scheint es ganz mühelos, als ob ich im Einklang mit dem Berg bin. Dann wieder fühlt es sich an, als würden die Pedale mich treten, nicht andersherum.

Ich durchfahre eine weitere Serpentine und spüre einen Ruck in der Magengegend. Da ist er, der Typ, der mich nach 5 km überholt hat. Zu wissen, wie sehr ich aufgeholt habe, treibt meine Beine an, schneller zu pedalieren. Ich denke an die Geschichte mit dem Hasen und der Schildkröte – nicht weil diese Auffahrt ein Rennen wäre, sondern einfach als hilfreiche Analogie für das Leben. In dem Moment wird mir klar, dass ich wahrscheinlich immer Zeiten haben werde, in denen ich das Gefühl habe, hinterzuhinken, fast so, als würde ich versagen. Doch die Schildkröte, die sich für die Beharrlichkeit entscheidet und Mut aufbringt, zeigt, dass allein schon das Nicht-Aufgeben Erstaunliches bewirken kann.

Jetzt hole ich noch mehr auf. 20 m, 15 m, 10 m. Ich überhole ihn und rufe: „Komm schon, es ist nicht mehr weit.“ Wir lächeln uns zu, verstehen beide, dass diese Unberechenbarkeit dazugehört, wenn man einen Berg erklimmt. Freude und Leid sind selten gleichmäßig verteilt.

Rider Charlotte Graf / @Pas Normal Studios
Location 
Großglockner Hochalpenstraße Oktober 2017         


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Text: Fotos: Kathrin Schafbauer