Was macht einen wahren Champion aus? Was sind sportliche Erfolge und Geld wirklich wert? Warum ist Mut zur Veränderung so wichtig? Wir waren mit Rennrad-Rockstar Peter Sagan und MTB-Wunderkind Martín Vidaurre in Chile unterwegs und haben über persönliche Erfüllung, Kindsein, die richtige Balance und lebensverändernde Entscheidungen gesprochen. All das erfahrt ihr in dieser Story!

… Back wheel party! …

Schnauf, schnauf, ächz! Gerade haben wir noch gespeist wie die Könige. Und jetzt soll ich mit vollem Magen Trainingsrunden absolvieren? Und zwar nicht mit irgendwem, sondern mit Peter Sagan sowie seinem chilenischen Teamkollegen und Nationalheld Martín Vidaurre. Für alle, die ihn (noch) nicht kennen: Der 24-jährige Martín hat 2022 in seiner letzten Saison als U23-Racer acht von neun Mountainbike-XCO-Weltcup-Rennen gewonnen und 2021 auch die U23-Weltmeisterschaft im Cross-Country XCO für sich entschieden. Oh man! Bloß dranbleiben, denke ich und frage mich: War das mal wieder eine dieser dummen Ideen? So wie damals, als ich bei extremer Hitzewarnung und Sauna-Temperatur mit Paul Ripke 200 km von LA in die Wüste nach Palm Springs geballert bin?

Dieses Mal wollte ich ja eigentlich „nur” ein Interview mit Peter Sagan machen. Dass daraus so viel mehr werden würde, hat mir keiner gesagt – und konnte ich auch nicht vorhersehen. Auf einmal hieß es: Komm mit auf unsere Trainingsrunde. Wir fahren Grundlagentraining. Alles easy… ja klar – für euch vielleicht ;). Wenn zwei der weltbesten Racer Grundlagentraining machen, dann ist das für Normalsterbliche wie mich absolutes Maximum. Limit. Verdammt!

Voller Bauch und Mittagshitze – schlechte Kombi für Grundlagentraining?

Während Peter und Martín entspannt tratschend losrollen, spüre ich die Anspannung. Die ersten Meter sind noch easy. Doch als die Steigung zunimmt, gibt es kein Dranbleiben mehr. On top hatte ich das abfahrtslastigere und schwerere Epic Evo gewählt, während die zwei Profis das Epic S-Works mit elektronischem RockShox Flight Attendant-Fahrwerk hatten. Kollegialerweise warten die beiden am Traileinstieg auf mich, während ich schweißtriefend ankomme! Stress? Das komplette Gegenteil ist der Fall. Peter und Martín sagen mir, ich solle mir Zeit lassen. Damit hätte ich nicht gerechnet, aber das ist vermutlich genau das, was Peters langjähriger Mechaniker und Freund Mindaugas Goncaras mir zuvor gesagt hatte: Peter ist jetzt viel zufriedener. In den letzten drei Jahren habe ich nicht erlebt, dass er bei Rennen so glücklich war. Und jetzt, wo er seine Karrierepläne geändert hat, kann ich die positiven Veränderungen sofort an ihm sehen!

GRAN FONDO-Gründer Robin (l.) mit Peter Sagan (m) und Martín Vidaurre (r.) am Traileingang.

Erst jetzt merke ich: Das hier ist gar kein Grundlagen-Ausdauertraining. Bergab scheint den beiden deutlich wichtiger zu sein als das Bergauffahren. Ich kann den Gedanken kaum zu Ende denken, schon geht’s weiter: Peter fährt voraus, ich direkt dahinter und Martín – der Schnellste von uns dreien – räumt von hinten auf. Mit Mach 10 ballern wir den Trail hinab: Gaps, dicke Anlieger und Drops – ein wahrer Rollercoaster, Adrenalin en masse. Wooosh! Geil!

Es fühlt sich wie ein Party-Train mit guten Freunden an. Wie Kids, die zum Spielen in den Wald gegangen sind, sich gegenseitig pushen, aufeinander Rücksicht nehmen und Neues zeigen. Alles easy going, der Stress der Grand Tours und großen Teambusse scheinen tausende Kilometer entfernt. Nur Peters TotalEnergies-Race-Outfit wirkt wie aus einer anderen Welt. Eine Welt, in der er Geschichte geschrieben und für Aufsehen gesorgt hat wie kaum ein anderer: Kein anderer Rennradfahrer hat dreimal in Folge die Straßenweltmeisterschaft gewonnen, kein anderer Rennradfahrer siebenmal das grüne Trikot bei der Tour de France. Er hat legendäre Rennen wie Paris-Roubaix oder die Flandern-Rundfahrt gewonnen – sowie zahlreiche weitere Frühjahrsklassiker. Immer lässig, charakterstark, cool und sympathisch. Kein Rennradfahrer hatte und hat ein solches Rockstar-Image wie der 34-jährige Slowake. Doch seine wahre Größe und wahren Champion-Qualitäten hat er mit seiner jüngsten Entscheidung gezeigt – nicht nur als Sportler, sondern vor allem als Mensch.

Interview Peter Sagan 2024: MTB & Olympics Paris

Wir sprechen mit Peter, Martín und Peters langjährigem Mechaniker Mindaugas Goncaras.

GRAN FONDO: Peter, wenn dich niemand kennen und Geld keine Rolle spielen würde, was würdest du machen?

Peter Sagan: Ich würde die Dinge tun, die ich als Kind getan habe: mein Mountainbike fahren. Eigentlich wollte ich immer Motocross fahren, aber wir hatten nicht genug Geld für ein Motorrad und die ganze Ausrüstung. Mountainbiken war die einfachste Möglichkeit, das zu tun, was ich wollte, und das habe ich immer weiterverfolgt. Ich habe alles über MTB gelesen, was ich finden konnte. Als Junior bin ich nicht so viele Rennen gefahren. Bei den Weltmeisterschaften wurde ich Achter oder Neunter, aber ich wusste, dass ich im nächsten Jahr besser sein würde, denn alle, die mich geschlagen haben, waren ein Jahr älter als ich. Jetzt bin ich immer der Älteste. Aber es ist gut, mit jungen Leuten zusammen zu sein.

GRAN FONDO: Wie ist es, mit Martín zu fahren? Gibt es etwas, das du von ihm lernen kannst?

Peter Sagan: Er hat meinen ersten Sturz gesehen und mir danach gesagt, dass es nur auf den Kopf ankommt und darauf, selbstbewusst zu sein. Ich mag ihn und es macht richtig Spaß, mit ihm zu trainieren. Und nicht immer nur mit Älteren zusammen zu sein. Ich bin gerne unter jungen Leuten, weil sie voller Ideen sind, die Welt anders sehen und man immer etwas von ihnen lernen kann.

Zwei gute Trainingspartner: Martín gefolgt von Peter!

GRAN FONDO: Mindaugas, du bist Peters Mechaniker und langjähriger Freund. Wie ist dieses neue Kapitel mit Peter im MTB-Sport für dich?

Mindaugas: Mountainbiken war mir völlig fremd. Da, wo ich herkomme, ist es eher flach. Wir haben zwar MTB, aber nicht die Art, die man hier fährt. Ich bin also noch dabei, das Mountainbiken von der mechanischen Seite her kennenzulernen. Das macht mir nichts aus, aber all das Wissen über Federungen … (lacht). Ich fange gerade erst an, das zu verstehen und in den letzten zehn Jahren gab es einfach so viele Neuerungen. Ich habe an Rennrädern mit Shimano-Schaltungen gearbeitet, jetzt ist alles SRAM. Und RockShox-Fahrwerke. Es gibt so viel Neues zu lernen, aber es ist auch faszinierend und interessant. An manchen Tagen sammle ich so viele neue Informationen, dass ich mich abends total erschöpft fühle. Nicht körperlich, sondern geistig, weil ich so viele Infos in so kurzer Zeit verarbeiten muss. Aber ich mag das.

Peters Mechaniker und guter Freund Mindaugas Goncaras, der ihn schon seit seiner Zeit bei Tinkoff begleitet.
„Es gibt viel Neues zu lernen, aber es ist faszinierend und interessant.”

Und für Peter ist es fast genauso. Natürlich ist er schon MTB gefahren, er ist also mit vielem vertraut, aber einige Dinge, wie der RockShox Flight Attendant, sind auch für ihn völlig neu. Wir haben lange mit einem Ingenieur von RockShox gesprochen. Er hat uns in einfachen Worten erklärt, wie alles funktioniert und alle Fragen beantwortet. Das war wirklich sehr hilfreich.

„MTB ist meine Leidenschaft.”

GRAN FONDO: Peter, was hat dich dazu bewogen, zum Mountainbiken zurückzukehren?

Peter Sagan: MTB ist meine Leidenschaft. Und ich will meine Karriere mit etwas beenden, das mir Spaß macht. Letztes Jahr hat mich meine Erfahrung bei der E-Mountainbike Cross-Country-Weltmeisterschaft dazu gebracht, zum MTB zurückzukehren. Es hat einfach so viel Spaß gemacht! Das Umfeld war spitze und Specialized hat mich ganz selbstverständlich ins Team aufgenommen. Ich war von tollen Leuten umgeben und jeder hat versucht, mir unter die Arme zu greifen, wenn ich etwas gebraucht habe. Sie haben mir gezeigt, wie man die Strecke fährt, worauf es ankommt und was nicht so wichtig ist. Und weil es so viel Spaß gemacht hat, habe ich mich entschieden, dabeizubleiben: Noch ein Jahr und dann schau ich mal, wie es mit dem Mountainbiken weitergeht. Und jetzt bin ich einfach wieder dabei.

GRAN FONDO: Dein Herz schlägt seit deiner Kindheit für MTB, aber zum Rockstar bist du im Straßenradsport geworden. Wie kam es dazu?

Peter Sagan: Schau dir mal die Welt des Straßenradsports an, wenn man vom MTB kommt, ist das alles gar nicht so schwierig. Ich habe mit dem Mountainbiken angefangen und die meiste Zeit meines Lebens habe ich das Straßenfahren nur als Teil meines Trainings gesehen. Alle meine Ziele waren auf MTB ausgerichtet. Als Junior wurde ich Vierter bei der Straßenweltmeisterschaft und Zweiter im Querfeldeinrennen, aber gewonnen habe ich die Mountainbike-Weltmeisterschaft. Danach hatte ich die Chance, zum Liquigas-Team zu wechseln, das später zum Cannondale-Team wurde. Bei Liquigas fuhr ich sowohl Straßenrennen als auch MTB. Ich habe damals mit meinem Trainer gesprochen – demselben Trainer, mit dem ich schon als Junior angefangen hatte. Er hat mir geraten: „Sei vorsichtig mit deiner Entscheidung. Wenn sie dir einen Platz bei Liquigas anbieten, ist das in Ordnung – aber das ist großer Radsport. Du wirst World-Tour-Rennen fahren und in einem World-Tour-Team sein. Mit dem Mountainbiken wirst du vielleicht nie so viel Geld verdienen, aber du wirst Erfolg haben und ich sehe dich mehr auf dem Mountainbike als auf der Straße. Auf dem Rennrad mischst du dich unter die anderen wie ein Niemand. Du endest einfach als Domestik für irgendjemanden. Aber auf dem Mountainbike kannst du wirklich etwas gewinnen, Weltmeister werden oder eine olympische Medaille holen.” Das war mein Traum. Als Kind wollte ich Mountainbike fahren, nicht auf der Straße, das war viel zu langweilig. Aber dann öffneten sich die Türen der World Tour für mich und ich kam zum Straßenradsport. Ich denke, das war eine gute Entscheidung, denn mit 34 Jahren wird das nicht mehr passieren – man kann nicht mehr einfach so in ein World-Tour-Team einsteigen.

„Beim Straßenradsport habe ich viel von meiner Technik verloren und muss jetzt hart daran arbeiten, sie wiederzuerlangen.”

GRAN FONDO: Wie fühlt sich diese Veränderung für dich an?

Peter Sagan: Es ist toll, hier zu sein und diese Atmosphäre zu spüren, die ich schon lange nicht mehr erlebt habe. Die Umgebung motiviert mich sehr. Alles ist friedlich, verstehst du? Wir sind hier, wir sehen das Meer, die Surfer und es ist einfach wunderschön (lacht).

Aber ich weiß, dass ich hart arbeiten muss. Ich habe an der XC-Weltmeisterschaft 2023 in Glasgow teilgenommen. Das war direkt nach einer sehr intensiven Zeit, weil ich gerade von der Tour de France und der Straßenweltmeisterschaft gekommen bin. Ich hatte keine Vorbereitung und bin einfach drei Tage vorher auf mein Mountainbike gestiegen, in der Annahme, dass ich unter die Top 10 kommen würde. Das hat mir die Augen geöffnet, denn es ist nicht ganz so einfach, mit den spezialisierten Mountainbikern mitzuhalten.

Als Junior war ich beim MTB gut im Downhill. Das lag allerdings nicht daran, dass ich so viel Ausdauer hatte, sondern daran, dass ich bei den Abfahrten alle abgehängt habe. Bei den Anstiegen haben sie mich eingeholt und dann habe ich sie wieder abgehängt. Runde um Runde wurden die anderen Fahrer schwächer und am Ende habe ich das Rennen gewonnen, weil ich technisch gut war. Aber jetzt bin ich technisch der Schlechteste im MTB. Ich muss viel trainieren, schließlich sind jetzt alle auf einem Top-Niveau, weißt du. Beim Straßenradsport habe ich viel von meiner Technik verloren und muss jetzt hart dafür arbeiten, sie wiederzuerlangen. Ich bin viel im Fitnessstudio und meine Ausdauer trainiere ich mit Radfahren. Die Anstrengung beim MTB ist eine ganz andere als beim Straßensport – man muss vom Start bis zum Ziel alles geben. Du kannst dich weder bergauf noch bergab erholen. Auf der Straße kannst du auf den flachen Abschnitten ein wenig Kraft tanken. Bergauf leidet man, dafür kann man sich bergab vielleicht ein bisschen mehr regenerieren, aber auf dem MTB kann ich mich nie erholen, wenn ich es technisch nicht draufhabe. Ich muss sagen, das Selbstvertrauen, das ich vorher hatte, die Art, wie ich mich bergab entspannen konnte, ist weg. Jetzt ist alles wieder ganz neu.

Bei allem, was ich auf der Straße erreicht habe, bin ich meinen Hauptsponsoren Specialized und 100% sehr dankbar. Sie unterstützen mich bei diesem Projekt und bei meinem Traum, vielleicht noch ein oder zwei Jahre Mountainbike zu fahren und zu versuchen, mich für die Olympischen Spiele in Paris zu qualifizieren. Konkrete Erwartungen habe ich nicht. Ob ich unter die Top 5, Top 20 oder Top 10 komme, weiß ich nicht. Das wird sich nach dem Rennen zeigen. Ich möchte einfach sportlich mein Bestes geben. Und ich weiß, dass all das mit dem Rennsport-Gefühl, viel Zeit auf dem Mountainbike und Spaß mit tollen Leuten – der großartigen Gruppe, die Specialized geschaffen hat – kommt.

Diese Waden kennt man – sie gehörten 15 Jahre lang zu den gefürchtetsten Waden des Rennrad-Profisports.

GRAN FONDO: Peter, wie sehr hat sich MTB in deinen Augen verändert?

Peter Sagan: Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro bin ich Cross Country gefahren. Ich habe mich einen Monat lang vorbereitet, ohne Rennen zu fahren. Einen Monat lang habe ich Höhentraining mit dem Mountainbike gemacht – ohne Rennen, ohne Erfahrung – und dann bin ich einfach zum größten Mountainbike-Event gefahren. Ich bin gut gestartet, aber nachdem ich zweimal einen Platten hatte, war es vorbei. Das war damals in meinen besten Jahren. Ich bin einfach losgefahren und habe mich auf meine Muskeln verlassen – ich hatte viel Kraft, gute Zeiten und so weiter. Aber technisch gesehen, habe ich alles falsch gemacht. Nach einer Runde hatte ich schon einen Platten. Danach habe ich mich wieder nach vorne gekämpft: 20. Platz, 15. Platz, zurück in die Top 10, und so ging es weiter. Aber nach dem nächsten Reifenschaden bin ich wieder zu viele Positionen zurückgefallen. Das wäre heute auch wieder anders, weil sich die Mountainbikes von 2016 bis jetzt so sehr verändert haben. Wenn ich MTB jetzt sehe, ist es eine ganz andere Welt als vor acht Jahren.

Die Räder, die Trails, die Rundkurse und der Rennstil – alles hat sich verändert. Ich habe keine Erwartungen. Das könnte meine Stärke sein. Aber andererseits habe ich auch keine Erfahrung. Ich weiß aber, dass es ein hartes Jahr werden wird. Yeah, es wird ein wirklich hartes Jahr … Aber ich werde versuchen, wenigstens Spaß zu haben. Vielleicht macht Mountainbiken nicht so viel Spaß, weil man eben auch ein Athletenleben führen muss. Du verbringst viele Tage fern von zu Hause – das ist das Gleiche wie beim Straßenradsport. Der einzige Unterschied ist, dass du nicht 21 Etappen hintereinander fahren musst, wie bei der Tour de France. Aber am Ende bist du einen Monat von zu Hause weg, weil du von einem Rennen zum nächsten reisen musst. Da hat man keine Zeit zum Abhängen – man muss für das nächste Rennen am richtigen Ort sein. Das Reisen und der Lebensstil der Athleten werden fast identisch sein. Nur muss ich auch viele neue Dinge über das Mountainbiken lernen, wie zum Beispiel über die Federung und den Reifendruck. Technisch muss ich viel besser werden, das steht fest.

GRAN FONDO: Yo Martín, wie sieht es bei dir aus? Wie hat sich Cross-Country-Racing in den letzten Jahren in deinen Augen verändert?

Martín Vidaurre: Viele meinen, dass Cross-Country-Racing technischer wird. Aber ich sage, es ist genau andersherum. Es wird immer leichter. Die Bikes werden immer besser und besser und besser – doch die Strecken bleiben eigentlich dieselben. Nove Mesto zum Beispiel, ist seit 15 Jahren oder länger dieselbe Strecke. Damals ist man die Strecke mit dem Hardtail gefahren, dann mit Fullys und jetzt fahren wir sie mit einem Fully mit Flight Attendant. Früher war es viel viel schwerer, die Strecken zu fahren. Richtig neue Passagen oder große Sprünge bauen sie aktuell nicht mehr. Ich hoffe, es geht wieder mehr in die technische Richtung. Ich mag es, wenn du richtig hochklettern, aber auch alles technisch denken musst. Nicht nur Vollgas fahren und Attacken hier und da, sondern wenn deine Technik genauso entscheidend ist.
Ich sehe natürlich auch die Herausforderung, dass unterschiedliche Fahrerlevel auf dem gleichen Kurs sicher fahren können müssen. Größere Sprünge sind für die Top-Männer vielleicht kein Problem, aber bereits weiter hinten im Fahrerfeld sieht die Welt schon wieder ganz anders aus, wenn man nach zig Runden auch schon richtig erschöpft ist. Für Frauen und Junioren gilt natürlich dasselbe. Das Niveau ist einfach superunterschiedlich – und eine Strecke muss alle bedienen.

Robin schwitzt, Martín lacht und Peter… vermutlich noch Ruhepuls?!

GRAN FONDO: Martín, wie gehst du mit dem Leistungsdruck im Cross-Country um?

Martín Vidaurre: Ich bin Latino und habe vier Jahre in Deutschland gewohnt. Die Erwartungen, wie man sich als Profi verhalten soll, waren da sehr anders. Für mich ist es eine Sache, richtig professionell zu sein und seine Leistung abzurufen. Aber das heißt nicht, dass ich nicht lachen darf. Alle glauben, ich habe nur Spaß. Aber der Sport ist nicht so. Eigentlich ist es richtig hart. Man muss viel, viel trainieren. Viel links liegen lassen. Und das ist, was ich manchmal vermisse. Aber es stehen viele hinter mir. Ich habe ein komplettes Land hinter mir. Wenn ich Weltcups fahre, repräsentiere ich Chile in Europa und der Welt – das fühlt sich an wie eine andere Verantwortung. Es ist richtig geil und inspiriert mich sehr. Und das ist etwas, das ich im Herzen trage. Außerdem ist meine Familie sehr sportlich und steht natürlich voll hinter mir.

Speed & Style: Martín fährt mit einer unglaublichen Leichtigkeit …
… und Style!

GRAN FONDO: Was ist dein Erfolgsrezept?

Martín Vidaurre: Niemand hat mir beigebracht, wie man eigentlich Rennen fährt. Das habe ich mir selbst beigebracht und dabei meinen eigenen Weg gefunden, Rennen zu gewinnen. Ich fahre sehr clever und auch taktisch. Ich probiere gerne Neues aus. Das hat mir viel geholfen. Wenn man besser sein will als die anderen, kann man ja nicht nur dasselbe machen wie alle anderen. Dann probiert man was Neues und muss dann sehen, ob das klappt oder nicht. Ich mag es, Fehler zu machen und lerne dann mit und aus den Fehlern.

„Selbstvertrauen ist das Wichtigste und es zu kriegen, braucht Zeit.”

GRAN FONDO: Was waren clevere Entscheidungen oder Taktiken – Hast du ein Beispiel?

Martín Vidaurre: Ja, zum Beispiel als ich meinen ersten Weltmeistertitel geholt habe, war ich im Rennen an erster Position. Ich wollte in den flachen Stücken aber nicht die anderen hinter mir herziehen. Also habe ich mich gefragt – was mache ich, was mache ich? Man kann sich ja an erster Position nicht einfach so zurückfallen lassen. Dann habe ich mir gesagt, ich versuche jetzt was Komisches. Ich habe so getan, als ob ich einen Platten hinten hätte und habe geschrien: oh fuck, fuck. Und dann habe ich mich nach hinten fallen lassen und alle haben geglaubt, ich hätte einen Platten und haben attackiert. Und dann bin ich am Hinterrad der anderen für eine ganze Runde drangeblieben. Danach konnte ich richtig gut attackieren. Das sind so ein paar Taktiken, die man als Jugendlicher benutzen kann, die ein bisschen anders sind. Und die können dir schon helfen.
Oder du fährst am Start richtig Vollgas und versuchst, dich vorne einzuordnen. Wenn du es nicht versuchst, hast du kein Selbstvertrauen und ohne Selbstvertrauen kannst du eigentlich nichts machen. Selbstvertrauen ist das Wichtigste und es zu kriegen, braucht Zeit.

GRAN FONDO: Wie viel Selbstvertrauen braucht man, um im XC-Weltcup vorne mitzuspielen?

Martín Vidaurre: Viel! Man braucht von Natur aus schon eine gute Basis. Und dann sind es Erfahrung und Mindset. In Südamerika habe ich als Kind immer schon Rennen gewonnen, weil das Niveau einfacher war. Und da habe ich ein bisschen gelernt, wie man Rennen gewinnt. Du musst immer sicher sein, dass du das Richtige machst. Und das ist gar nicht so einfach, weil es viele unterschiedliche Trainingsmethoden gibt. Und es gibt genauso viele Möglichkeiten, wie man ein Rennen in Angriff nehmen kann. Erfolge bauen natürlich ebenso Selbstvertrauen auf – für mich ist es wichtig, Rennen zu gewinnen. Und wenn man eins gewinnt, dann musst du das nehmen und weiter und weiter. Dabei musst du immer denken, dass du der Beste auf der Strecke bist. Nicht immer im Leben, weil ich im normalen Leben nicht so bin. Da kannst du nicht die ganze Zeit denken, dass du der Beste von allen bist. Aber wenn du der Beste auf dem Bike bist, musst du an dich glauben. Und das braucht seine Zeit.

Confident! – Ja, das ist das richtige Wort, das Martín auf dem Bike beschreibt.

GRAN FONDO: Wie stark fokussierst du dich auf dich selbst? Wie lernst du?

Martín Vidaurre: Ich bin eine Person, die sehr offen ist und gerne neue Dinge ausprobiert. So habe ich schon als Kind immer gelernt. In meinen ersten Jahren [als XC-Racer] in Deutschland habe ich mir von jedem etwas abgeschaut. Und das mache ich noch immer. Jeder Fahrer hat etwas zu zeigen, von dem man lernen kann. Und wenn man hier etwas lernt und da etwas lernt, ist das am Ende ganz schön viel. Was man nicht will, nimmt man einfach nicht. Das hat mir viel geholfen.

GRAN FONDO: Was brauchst du, um Energie zu tanken oder deine Balance zu finden?

Martín Vidaurre: Wie gesagt, ich bin sehr offen und liebe es, bei allem was ich tue, viel Spaß zu haben. Ich versuche, mein Profileben immer in Balance zu halten. Ich will meinen eigenen Charakter nicht verlieren. Und das ist schon schwer im Profi-Sport, weil du immer sehr diszipliniert sein musst. Ich race Cross-Country seitdem ich ein kleines Kind bin. Meine ganze Familie ist sehr sportlich. Und wenn es ernst wird, dann bin ich richtig fokussiert und professionell. Um Energie zu tanken, brauche ich aber die Balance. Hier in Chile zu sein, ist alles, was ich brauche. Ich liebe Autos, Motorräder und Surfen. Dummes Beispiel vielleicht, aber hier kannst du Auto fahren ohne Blitzer. Das ist richtig so wie Freiheit. Auch kannst du hier für eine Woche in den Norden oder Süden gehen und siehst niemanden. Da hast du deine Ruhe. Du machst, was du willst. Ein bisschen allein sein. Zeit für mich. Das mag ich.

Teamkollegen: Was Peter Sagan und Martín Vidaurre voneinander lernen können

Nach einer kurzen Verschnaufs- (und Pipi-)Pause sind wir wieder auf dem Trail. Zeit, um Energie zu tanken, habe ich nicht. Und ich merke, dass ich das Tempo der beiden bald nicht mehr mitfahren kann. Dafür kommt die Erkenntnis, wie gut diese zwei Ausnahme-Racer zusammenpassen. Der eine hat, was der andere wieder will. Und der andere hat, was der eine noch will: Auf der einen Seite der junge, gewitzte Latino, der in seiner Heimat bereits ein Nationalheld ist und vor Spaß, Style und Siegeshunger gerade so strotzt und gleichzeitig die Balance zwischen professionellem Leistungssport und unbeschwerter Lebensfreude ziemlich gut austariert. Auf der anderen Seite Peter, einer der erfolgreichsten und charismatischsten Rennradfahrer aller Zeiten. Ein absoluter Rockstar, der die letzten Jahre trotz aller Erfolge alles andere als glücklicher wurde und jetzt zu seinen Wurzeln zurückkehrt und wieder aufblüht. Dahingehend ist er ebenfalls auf der Suche nach einer neuen Balance aus Erfüllung, Spaß und professionellem Leistungssport. Und dazu ist er bereit, fast nochmal von neuem anzufangen, gibt sich unglaublich dankbar und fast schon demütig – ein echter Champion eben, der nicht nur auf dem Podium glänzt!

Mit den Rennrad-Millionen auf dem Konto hätte Peter sich jetzt auch einfach zur Ruhe setzen können. Doch wahre Champions streben nicht nur nach Erfolgen, Titeln und Trophäen. Sondern auch nach Erfüllung. Und dazu gehört auch immer wieder zu checken, wann es Zeit für Veränderungen ist. Wahrer Erfolg ist, seine Wahrheit zu leben und seinem Herzen zu folgen und all dem, was einen begeistert und beflügelt. Peter weiß, dass wenn er seinem Herz nicht folgt, er nicht wirklich glücklich werden wird. Und das gilt für Ausnahmesportler genauso wie für jeden Menschen.

Egal ob Sport, Business oder Beziehungen – was sind alle Erfolge, alle Titel und alles Geld dieser Welt wert, wenn man am Ende nicht mit einem Grinsen morgens in den Spiegel schauen und ohne Zögern sagen kann: Ich mache genau das, was ich machen will. Und das „was“ kann sich je nach Lebensabschnitt immer wieder ändern.

Ein neues Kapitel und neue Wege. Naja, eigentlich nicht wirklich, aber in gewisser Weise ist es das.

Unser Ride und unsere Gespräche haben gezeigt, wie wichtig die Balance zwischen materiellem Erfolg und persönlicher Erfüllung ist. Und dass Mut zur Veränderung meistens auch belohnt wird. Peters Schritt verdeutlicht, dass es nie zu spät ist, einen neuen Weg einzuschlagen oder zu seinen Wurzeln zurückzukehren. Die Leidenschaft ist der beste Kompass: Denn wer seinem Herzen folgt und das tut, was einem wirklich Freude bereitet, wird zwangsläufig an einem besseren Ort herauskommen, auch wenn es erstmal hart wird.

Ein klassischer Trainingsride? Keinesfalls! Leckeres Essen, geile Trails und Jumplines bildeten den Rahmen dieses Tages, gefolgt von einem Lagerfeuer am Meer. Wie schön kann das Leben eigentlich sein? Zu dieser Einsicht gelangten nicht nur wir, sondern vermutlich auch Peter – dem sein Comeback unglaublich guttut.

Wie es weitergeht? Das wird der Trail zeigen. Und die Entscheidungen, die Martín und Peter treffen werden. 2024 wird ein Jahr des Lernens und Weiterentwickelns – mit mehr Spaß, Leichtigkeit und sicheren Erfolgen – hoffentlich sowohl persönlich als auch sportlich! Denn wenn man seine (neue) Balance findet, wirds zwangsläufig besser! Reminder to ourselves: Das gilt nicht nur für Ausnahmesportler, sondern für alle Champions!


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Text: Robin Schmitt, Benedikt Schmidt Fotos: Etienne Schoeman, Lukas Hammersley, Robin Schmitt