Englische Schnurrbartträger, die Fahrrad fahren: Dieses Phänomen fasziniert den italienischen Handwerker Pietro Dal Molin so sehr, dass er eine Fahrradfabrik baut. Nein, die Rede ist nicht von einem Startup in einer Hipsterhochburg, sondern von der Geburt von Wilier Triestina 1906. Auf unserer Spurensuche zwischen Suganertal und Monte Grappa haben wir eine Menge Geschichte gefunden – und zukunftsweisende Carbontechnologie.

W Italia Libera e Redenta – Lang lebe das freie und erlöste Italien! Der Markenname Wilier ist zu gleichen Teilen Akronym des regionalen Patriotismus als auch Synonym für italienische Rahmenbaukunst. In den ersten Jahren des Unternehmens gab der Schriftzug „Dal Molin – Bassano del Grappa“ nur Aufschluss darüber, wo die Räder gefertigt wurden. Das Ende des Zweiten Weltkrieges begründete einen Wendepunkt: Mit der Umbenennung der Marke wurde nicht nur die neu gewonnene Freiheit Italiens gefeiert. Unter dem Namen Wilier Triestina startete bei der ersten Austragung des Giro d’Italia nach dem Zweiten Weltkrieg auch erstmals ein Team, das sich ausschließlich aus Italienern zusammensetzte. Im Gedenken an die Vertreibung jugoslawischer Partisanen aus Triest wurde das Emblem der Stadt zum Logo der damaligen Trikots und die verchromten Stahlrahmen des Teams bekamen ein kupferfarbenes Finish – Ramato.
Seit jeher ist die Bevölkerung zwischen Triest und Vincenza ebenso freiheitsverliebt und freidenkend wie fahrradverrückt und so wundert es nicht, dass die Fahrradbauer bei allem technischen Fortschritt ihre Wurzeln nie vergessen haben.

[ˈviljer triesˈtiːna]

Die vielen Nuancen in der Betonung des Namens spiegeln das internationale Flair der Marke Wilier wider. Zu oft dominiert dabei ein eher französischer Klang. In der korrekten Aussprache verdeutlicht der Name die Herkunft aus Trieste: Wilier Triestina.

Betritt man das Wilier-Firmengebäude, findet sich das Innovationslabor neben der verölten Drehmaschine. High-Modulus-Carbonrahmen aus China reihen sich an von Hand gelötete Stahlrahmen aus Italien. Das CAD-Programm rendert die aerodynamisch optimierten Rohrformen der Zeitfahrmaschine, während nebenan gehämmert wird. Als wir den Eingangsbereich des futuristischen Firmengebäudes durchschreiten und uns ein Espresso angeboten wird, bringt die Mutter der drei heutigen CEOs Michele, Enrico und Andrea Gastaldello gerade die Tageszeitung, La Gazzetta. Durch die gläsernen Wände hinter der roten Empfangstheke sieht man schemenhaft Männer, die in Schlips und Kragen über Zeichnungen grübeln.

Wilier beschäftigt derzeit 45 Mitarbeiter am Standort in Rossano Veneto, nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum Bassano del Grappas entfernt. Jeden Tag verlassen ungefähr 40 High-End-Bikes die Montageabteilung, in der in Fließbandmanier die einzelnen Arbeitsschritte auf die jeweiligen Stationen aufgeteilt sind. Die günstigen Bike-Modelle der Italiener werden hingegen direkt in China bzw. Taiwan montiert und lediglich über den Firmensitz vertrieben. Beim Gang durch die Lagerhallen trifft man dementsprechend auf haushohe Hochregale, zwischen denen auch gerne der ein oder andere Plausch abgehalten wird. Auf familiäre Art und Weise erkundigt man sich so zwischen Campagnolo Super Record und Carbonlenkern kurz nach der Gesundheit der Nichte.

Egal wohin man schaut, der Ramato-Farbton ist bis heute allgegenwärtig: nicht nur beim Blick in das firmeneigenen Museum, sondern auch wenn man in die Versandkartons lugt. Mit dem Cento10 Air lebt das einzigartige Finish auch am Carbonrahmen wieder auf und verkörpert die Harmonie aus Geschichtsbewusstsein und neuesten Technologien wie kaum ein zweites Rad der Italiener. Mit dem Cento1 Hybrid geht Wilier sogar noch einen Schritt weiter: Zwar kommt bei diesem Modell nicht die firmentypische Lackierung zum Einsatz, dafür jedoch das Ebikemotion-Antriebssystem. Wir haben uns die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mit dem gerade mal 11,9 kg leichten E-Roadbike die Landschaft zu erkunden – fährt sich gut!

Um das Konzept von Wilier Triestina zu verstehen, braucht es mehr als einen Besuch des Firmensitzes, und so treibt uns die Spurensuche auf die Straßen von Venetien. Zwischen den weiten Feldern des Tals und dem Anstieg zum Monte Grappa liegen unzählige Cafés, in deren Weingläsern und Espressotassen auch immer ein Hauch Radsport-Historie serviert wird. Wir entscheiden uns für Kaffee statt Wein, Quellwasser statt Destillat, auch wenn es frevelhaft erscheint, den Wein und Grappa der Region auszuschlagen.

Nach einer kurzen Pause erklimmen wir auf den Fährten des Giro den Monte Grappa aus Richtung Semonzo. Lässt man die Wälder hinter sich, eröffnet sich ein atemberaubendes Panorama, das auch ohne Genuss der hochprozentigen Spezialitäten keine nüchterne Angelegenheit ist. Allen KOM-Aspiranten sei ans Herz gelegt, sich ihre Kräfte einzuteilen, da der Anstieg vor allem im oberen Abschnitt noch einmal ordentlich Körner verlangt. Der gesamte Denkmalsbereich auf dem Gipfel ist heute ein heiliger Ort und darf nur zu Fuß betreten werden und so genießen wir andächtig die Aussicht, während der Blick über die Gipfel schweift. Mit den Dolomiten zur Linken und Venedig am Horizont zur Rechten treten die zuvor bewältigten 28 Spitzkehren in den Hintergrund.

Es scheint, als sei der Unternehmensgeist von Wilier genau hier in den legendären Anstiegen des Monte Grappa und nicht in den gläsernen Fassaden des Firmengebäudes greifbar. Ein Konsens aus Würdigung des Alten und innovativem Fortschrittsdenken. Vergangenheit trifft Zukunft, um die Gegenwart zu bereichern. Die Geschichte von Wilier Triestina ist keine verstaubte Episode verschwommener Erzählungen, sondern ein reales Erlebnis, das man bis heute auf den Straßen von Venetien und den Anstiegen des Monte Grappa spüren kann.

Dieser Artikel ist aus GRAN FONDO Ausgabe #009

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