Opferbereitschaft und Leidensfähigkeit: Sind das wirklich die Eigenschaften, die es braucht, um auf den Straßen der Dolomiten zu bestehen? Muss man sich auf einem Egotrip bis ans Ende seiner Kräfte quälen, auch wenn man sich damit schadet? Die diesjährige Maratona dles Dolomites steht unter dem Motto „Balance“ – und die ist schwerer zu finden, als wir gedacht hätten.

Jeder von uns kennt diesen Drang: endlich mal wieder aus dem täglichen Hamsterrad ausbrechen und Neues wagen. Auf der Suche nach dem Unbekannten die Komfortzone verlassen und genügend Mut fassen, um die kühnsten Vorstellungen und Träume in die Tat umzusetzen. Der perfekte Anlass dafür ist schnell gefunden: Die Maratona dles Dolomites ist bekannt für ihre unbarmherzigen Anstiege, die Postkarten-Motive hinter jeder Kurve und die Profi-Atmosphäre für jedermann. Und wer träumt nicht davon, all das in einen einzigen Ride packen zu können? Ich kann weder dem Ruf Südtirols widerstehen noch der Einladung von Pirelli, den P Zero Velo-Reifen im Rahmen der Maratona dles Dolomites zu testen, und so finde ich mich mit gepackten Koffern am Stuttgarter Flughafen wieder.

Ecuiliber (ladinisch) heißt Balance bzw. Gleichgewicht in der Gruppe romanischer Dialekte, die vorzugsweise in Oberitalien gesprochen werden. Ecuiliber ist auch das Motto der diesjährigen Maratona dles Dolomites, doch von Balance ist bei mir erst mal nicht viel zu spüren. Meine Ambitionen sind groß, die Renn-Vorbereitungen überschaubar und mein Körper alles andere als frisch. Doch anstatt in Selbstmitleid zu ertrinken, versuche ich in Südtirol nach meiner Ankunft in feinster Marginal-Gains-Manier das Beste aus mir und meinem Bike rauszuholen. Im Angesicht der 138 km langen Strecke der 4.230 Höhenmeter heißt das Pasta für mich und Schonung für meinen entzündeten Schleimbeutel im rechten Knie. Für mein Bike bedeutet es neue Reifen. Ein Glück verschreibt sich auch Pirelli dem Motto Balance – dem optimalen Verhältnis aus Reifendruck am Vorder- und Hinterrad. Dazu wird die Gewichtsverteilung von Fahrer und Bike mit zwei Waagen ermittelt. Durch Inline-Sattelstütze und einen 120 mm langen Vorbau verteilt sich das Systemgewicht in meinem Fall zu 46 % auf die Front und zu 54 % auf das Heck. Pirelli errechnet somit einen optimalen Reifendruck von 6,9 bar vorne und 7,2 bar hinten für den Reifen in 25 mm Breite. Nach einer ersten Testrunde über den Passo Campolongo und Passo Pordoi fühle ich mich bereit für das Rennen und sicher mit der Wahl der Reifen und des Luftdruckes.

Seit ihrer ersten Austragung 1987 hat die Maratona dles Dolomites nichts von ihrem Zauber verloren. Ganz im Gegenteil. Laut Veranstalter Michil Costa schaffen es dieses Jahr lediglich 9.000 der 33.000 Bewerber bei der Maratona zu starten. Das Los entscheidet, wer starten und Teil des Radsport-Volksfestes werden darf. Kreisende Helikopter, Live-Fernsehübertragung und Tausende Fans am Straßenrand machen am Tag des Rennens eines klar: Auf den für den Verkehr gesperrten Straßen zwischen Corvara und Valparola-Pass ist heute der Radsport zu Hause.

Überwältigt von Kulisse und Anzahl der Teilnehmer rolle ich um 6.30 Uhr über die Startlinie. Es scheint so, als sei die Lichtschranke eine unsichtbare Trennung zwischen Realität und Renngeschehen. So vergeht die erste Stunde wie ein Film. Sobald man die von Zuschauern gesäumten Straßen der Siedlungen verlässt, ist man allein. Allein mit 9.000 anderen, von denen niemand vermag, auch nur ein Wort zu sagen. Die bedrückende Stille im Tal wandelt sich in bedächtiges Schweigen auf den Gipfeln der Pässe. Außer dem Brennen der Beine, den Schmerzen meines Knies und dem Atmen der anderen nehme ich nichts mehr wahr. Ich leide unter meinem selbst auferlegten Zwang, mithalten zu müssen, und isoliere mich von der beeindruckenden Kulisse, die mich umgibt. Vom Ehrgeiz zerfressen, kämpfe ich gegen meinen Körper. Doch wie viel Irrsinn steckt in genau dieser Aussage? Ich bin mein Körper. Warum trenne ich mein Denken und meinen Willen von den schmerzhaften Warnsignalen meines Leibes? Eine Frage, die ich auf dem Gipfel des Gardena-Passes weder beantworten noch länger ignorieren kann.

Ich habe mein Gleichgewicht gefunden: Nicht auf 138 km, sondern in der Zielüberfahrt nach gerade einmal 55 km. Ich fasse Mut und gestehe mir ein, dass es heute einfach nicht für mehr reicht. Zu groß ist der Respekt vor dem, was noch vor mir liegt, und dem, was es mit meinem Körper und meiner Gesundheit anstellen könnte.

Mein Ego balanciert zwischen Frustration und Glück. Diesen Balanceakt nehme ich mit nach Hause. Er ist nicht abgeschlossen, geradezu gezeichnet von Rückschlägen, und ein zufriedenstellendes Finale scheint noch weit entfernt. Doch ist eine aufrichtige Niederlage beim genaueren Hinsehen nicht vielleicht doch ein Sieg über sich selbst? Ecuiliber.


Dieser Artikel ist aus GRAN FONDO Ausgabe #009

Das GRAN FONDO Cycling Magazin erscheint auf Deutsch und Englisch im digitalen App-Format. Ladet euch jetzt die App für iOS oder Android und lest alle Artikel auf eurem Tablet oder Smartphone. Kostenlos!


Hat dir dieser Artikel gefallen? Dann würde es uns sehr freuen, wenn auch du uns als Supporter mit einem monatlichen Beitrag unterstützt. Als GRAN FONDO-Supporter sicherst du dem hochwertigen Bike-Journalismus eine nachhaltige Zukunft und sorgst dafür, das die New-Road-Welt auch weiter ein kostenloses und unabhängiges Leitmedium hat. Jetzt Supporter werden!

Text: Fotos: Benjamin Topf, Sportograf, Don’t Movie