Willst du wissen, wie sich Intensität anhört? Fahr’ einfach mal in einem 100-köpfigen Peloton. “Fuck” dies, “scheiß” jenes, “pass doch auf”, “Volldepp”…. — du glaubst nicht, was da so alles über die Lippen der Fahrer kommt. Fahr in einem 100-köpfigen Peloton und du wirst in Sekundenschnelle süchtig. Das ist wie eine intravenös verabreichte Adrenalinspritze.

Adrenalin ist für Radfahrer das, was Oktan für Formel-1-Fahrer ist. Alles, was zählt, ist die Geschwindigkeit, getrieben durch das konstante Pumpen von Watt, Schweiß, Blut. Wie schnaufende Rennpferde versuchen wir, die Ziellinie zu erreichen, die wir aus irgendwelchen Gründen auf der Spitze eines gottverdammten Berges platziert haben. Einsam wartet sie dort oben auf dem Gipfel, um von Führenden überfahren zu werden. Nur der Erste schafft es, die Ziellinie als Sieger zu überqueren — alle anderen werden dem ein Leben lang nachtrauern. „Sieger“ steht immer im Singular, „Verlierer“ immer im Plural.

Aus Courage wird Kraft, aus Kraft wird Geschwindigkeit, und Geschwindigkeit beschert uns den Sieg. Leidensbereitschaft wird zu Siegesfreude.

Wir spielen ein Spiel, das immer nur einer gewinnt: der Erste, der über die Ziellinie fährt. Das ist die Geschichte einer Sportart, in der man sich mit der Position des Vizepräsidenten nie zufrieden gibt. Verdammt, wir wollen alle Präsident sein, auch wenn es sich lediglich um das kleinste Peloton der Welt handelt. Egal ob du alleine, mit Freunden oder mit deinen härtesten Konkurrenten draußen unterwegs bist. Irgendwann während des Trainings oder Rennens wird immer der Punkt kommen, an dem du es hinter dir keuchen hörst und deine Beine neurotisch zu brennen beginnen, weil du den Sieg willst. Vor deinem geistigen Auge reißt du bereits deine Arme nach oben und badest im Konfetti-Regen, während hinter dir alle abgehängten Fahrer durch die Champagnerdusche müssen.

Und um schnell zu sein, Rennen und Präsidentschaften zu gewinnen, muss auch dein Bike das schnellste, das effizienteste sein. Eine superleichte Maschine, steif, kraftvoll, und wenn möglich, farblich auf den Helm abgestimmt. Es erweckt vielleicht den Eindruck, dass es sich hier vor allem um Geschwindigkeit dreht, aber eigentlich geht es um Courage. Der Wettkampf dreht sich nicht darum, wer der Schnellste ist, sondern wer die dicksten Eier hat. Und das zeigt sich allein darin, wie viel wir bereit sind in unseren Ride zu investieren.

Diese Bereitschaft lässt sich nicht nur an der Wattzahl ablesen, sondern auch an der Interaktion mit allem, was uns beim Fahren umgibt. Kann ich hier ein Überholmanöver ansetzen? Schaffe ich es auf die andere Seite der Bahngleise bevor der Zug kommt? Wie lange halte ich diesen verfluchten Regen aus? Kann ich den Berg auf dem großen Kettenblatt wegdrücken? All das sind vermeintlich simple, aber ausschlaggebende Parameter dafür, wie viel unserer Risikobereitschaft und unseres Mumms wir letztendlich auf’s Pedal bringen können. Aus Courage wird Kraft, aus Kraft wird Geschwindigkeit, und Geschwindigkeit beschert uns den Sieg. Leidensbereitschaft wird zu Siegesfreude.

Unsere “persönliche Bestleistung” erreichen wir im Radsport nur, wenn wir nicht mehr die Sekunden, sondern unsere Erlebnisse zählen.

Wir sind unermüdliche Kämpfer. Sekunden-Jäger, die glauben, dass jede noch so kleine Zeitersparnis aus einer ruhigen Fahrt einen Sieg machen kann. Doch vielleicht liegen wir damit falsch. Unsere “persönliche Bestleistung” erreichen wir im Radsport nur, wenn wir aufhören Sekunden zu zählen und uns stattdessen auf wahre Erlebnisse besinnen: Augenblicke auf dem Bike, Touren, Empfindungen und Erinnerungen. Das sind die wahren Messwerte, die uns helfen, einige der “besten Zeiten” unserer Leben im Sattel zu verbringen. Es wird immer diese eine Sekunde geben, die aus deinem Triumph eine Niederlage machen kann. Die Frage ist nur, ob wir sie zählen.


Dieser Artikel ist aus GRAN FONDO Ausgabe #008

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Text: Alberto Álvarez Illustration: Julian Lemme


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