Ausgabe #008 Special

Ordo ab Chao: Crepuscular Hamburg – die Gedanken eines Streifzugs durch die Elbperle

Falls du jetzt denkst, wir seien unter die Freimaurer gegangen, müssen wir dich leider enttäuschen. Wenn es überhaupt einen Kult gibt, dem wir huldigen, dann ist es der unsere – und du bist herzlich eingeladen, den Tempel zu betreten und dich mit uns auf der Suche nach Inspiration durchs nächtliche Hamburg treiben zu lassen.

Es ist wieder einer dieser Freitagabende. Die Woche war lang und du hast es doch nicht geschafft, aufs Rad zu kommen. „Morgen ist Samstag, du kannst ausschlafen und ein, zwei Bier auf’er Reeperbahn hast du dir verdient!“, hörst du dich noch denken, bevor der Tequila an deine Schädeldecke knallt, du zu tanzen beginnst wie Michael Jackson und dich in den schönsten und liebenswertesten Menschen der Welt verwandelst. Eigentlich wäre es Zeit nach Hause zu gehen, sich auszuruhen und den Rausch auszuschlafen. Die Wettervorhersage ist gut und du wolltest doch dieses Jahr die 8.000 km vollmachen. Stattdessen sackst du auf den Stufen von Kebapistan24 mit deinem Kollegen zusammen. Merkwürdigerweise neigen wir vermutlich alle dazu, tiefsinnige Dialoge genau dann zu führen, wenn unser Gehirn nicht mehr in der Lage ist, sie zu verarbeiten.

Ihr kommt vom einen zum anderen und stellt nach einer Weile fest: Wir alle wollen glücklich sein, unseren Mitmenschen soll es gut gehen, wir wollen sozial anerkannt sein, weiterkommen, besser sein als gestern – aber dafür müssen wir Sinn machen, Ordnung herstellen, Ordnung aus Chaos. Ordo ab Chao.

Kleine und große Entscheidungen haben dazu geführt, dass du genau jetzt genau hier sitzt. Du warst zu betrunken, um mit der brünetten Schönheit ins Gespräch zu kommen, dein Kumpel wollte ausgerechnet in diese Kneipe, der Porsche hat dir zwar die Vorfahrt geschnitten, aber du konntest rechtzeitig bremsen, deine Eltern wollten eigentlich kein drittes Kind, doch du bist da, dein Urgroßvater hätte deine Urgroßmutter beinahe nicht getroffen, doch sie heirateten, deine Urahnen wären im 7. Jahrhundert auf ihrer Reise über die Seidenstraße beinahe ums Leben gekommen, doch sie überlebten …

Wie wahrscheinlich war, dass all das genau so passieren würde? Dass das Leben an all diesen Kreuzungen genau diese Abzweigungen genommen hat?

Und doch sitzt ihr hier und habt ein Bewusstsein für euch selbst und eure Umwelt. Woher dieses Bewusstsein kommt, wieso ausgerechnet wir Menschen es in uns tragen, kann keiner beantworten. Noch nie wurde das Entstehen von Bewusstsein in einem Experiment beobachtet, es existiert auch keine Theorie darüber, wie ein solches Experiment überhaupt aussehen könnte, und doch ist das Bewusstsein nun mal da. Und ihr sitzt hier, mampft einen Döner oder zumindest das, was noch nicht auf die Stufen gefallen ist, und habt morgen Früh mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit 90 % des Gesprächs vergessen. Möge es gut sein oder nicht, ihr schaltet zurück in den Autopiloten, nehmt euer Rad und fahrt raus aus der Stadt.

Ein Gedanke bleibt aber trotz allem Nebel in eurem Kopf: Warum stellt man sich so viele Fragen eigentlich erst nach mittelschwerem Alkohol- oder Kräuterkonsum? Etwa die hier: Was zählt gerade für dich? Doch jetzt bist du hier, aufnahmefähig und inspiriert. Was zählt gerade wirklich für dich?

Musst du die 8.000 km noch vollmachen oder reicht es aus, 2.500 km bewusst zu genießen?

Ist es wirklich so wichtig, ob du das Rad jeden Tag zur Arbeit nimmst, oder ist es vielleicht auch okay, wenn es einfach nicht dein Ding ist, morgens auf dem Bike zu sitzen?

Müssen wir die Velominati-Regeln befolgen oder reicht es auch aus, einfach nur Rad zu fahren?

Unsere Entscheidungen von heute beeinflussen das Morgen. Unsere Urenkel können genauso gut als Friedensnobelpreisträger die Welt retten oder als Terminator die Galaxis zerstören – wenn du vor lauter Radfahren überhaupt noch Kinder bekommen kannst. Was wir sagen wollen: Wir erschaffen die Zukunft. Unsere eigene und zum Teil auch die der Menschen in unserem Umfeld. Aber egal wie perfekt wir jede Entscheidung abwägen, am Ende spielen doch auch Schicksal, Zufall oder der große Faktor X eine Rolle: Zum Beispiel, wenn man nach einem Jahr hartem Training beim Startschuss des angestrebten Gran Fondos doch krank im Bett liegt. Also versuche nicht, alles zu kontrollieren, sondern genieß die Zeit, mach dich locker und triff mehr Entscheidungen aus dem Bauch heraus. Mehr Dolce Vita – alles südlich der Elbe ist Norditalien! Tschüss und danke Hamburch, du Perle!

Text: Ben Topf Illustration: Julian Lemme

Dieser Artikel ist aus GRAN FONDO Ausgabe #008

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