Kennst du dieses Gefühl, wenn du an der Bar stehst und diese eine tolle Frau ansprechen willst, dich aber nicht traust? Um zu rechtfertigen, dass du nicht rübergehst, redest du dir vermutlichen Sachen ein: dass du dich heute nicht gut fühlst, bei der nächsten Party garantiert den Mut aufbringst oder eigentlich gar keine Freundin brauchst … „Und na ja, ganz so toll ist die Frau dann auch nicht,“ denkst du, während du Vermutungen darüber anstellst, wie ihr Charakter wohl sein mag, und nach oberflächlichen Mäkeln suchst. Ein popeliger Leberfleck mag genügen, um deine Thesen zu bestätigen!

Ja, wir sind gut darin, Ausreden zu finden. Ausreden, mit den wir vor unseren Freunden unser Gesicht wahren oder unser feiges Ego beruhigen können. Für jede Situation im Alltag, für jede Herausforderung – für alles finden wir eine passende Ausrede. Faktisch gibt es für alles auch eine passende Ausrede und diese Ausrede hat oft auch Bestand. Sie ist legitim, man kann mit ihr leben. Doch die Frage ist: Willst du überhaupt mit Ausreden leben?

Beim Biken ist es ähnlich. Die Trainingseinheit rückt näher und deine Gedanken beginnen zu kreisen: „Ach! Heute fühle ich mich einfach nicht gut, gestern habe ich so viel gearbeitet, ich bin so müde und später muss ich noch Wäsche waschen.“ Oder du hast im Wettkampf verloren und versuchst dich zu rechtfertigen: „Mein Material war einfach nicht gut genug; die Kette lief schief, ich konnte nie richtig schalten. Dann kam plötzlich dieser Krampf – ich KONNTE einfach nichts machen!“ Hand aufs Herz: Etwas Vergleichbares hat doch jeder von uns schon einmal seinen Kumpels oder seiner Familie gesagt. Wir finden immer eine Ausrede.

Dass wir nicht Opfer der Umstände sind, sondern uns einfach schlecht vorbereitet haben, fällt uns meist schwer zuzugeben. Am Rande eine Buchempfehlung für alle, die mehr lesen wollen über das Ausmaß unserer Verantwortung für unser Leben und wie wir es führen – trotz des Titel tatsächlich auch für alle geeignet, die keine Karriere im US-Militär anstreben: „Extreme Ownership. How US Navy Seals Lead and Win“ von Jocko Willink, Leif Babin.

Aber zurück zum Thema Ausreden: Egal ob Zukunft, Gegenwart oder Vergangenheit – die Gefahr von Ausreden ist überall präsent. Denn mit ihnen können wir uns unsere Welt bzw. Realität zurechtbiegen, erklären und unserem Handeln rückblickend Sinn geben. Unsere Sprache bzw. Grammatik hilft uns dabei auch noch in Form des Komparativs. Jeder, der schon mal abnehmen wollte, kennt das. Alles beginnt mit dem guten Vorsatz: „Dieses Jahr will ich endlich fünf Kilo abnehmen.“ Und während wir uns daran machen, uns gesünder zu ernähren und mehr Sport zu machen, beginnen wir, uns mit unseren Kumpels und x-beliebigen Leuten zu vergleichen: „Ach, so schlimm ist es doch gar nicht. Die anderen sind doch viel dicker!“ Diese Erkenntnis schleicht sich in unseren Kopf und sabotiert unsere Bemühungen. Das geht auch in die andere Richtung: „Die anderen sind eh alle so viel sportlicher und dünner und durchtrainierter, da komm ich ja nie hin!“ Weshalb wir aufhören, es überhaupt zu versuchen. Egal, zu welchem der beiden Denkmuster man neigt – der Vergleich ist oftmals der Punkt, an dem wir unser Ziel aus den Augen verlieren, weil wir falsche Referenzpunkte innerhalb unserer Gemeinschaft wählen, anstatt unseren eigenen Weg zu gehen. Wer zu viel vergleicht, wird niemals eine besondere Leistung vollbringen. Der Referenzpunkt bist du, der Referenzpunkt ist dein Ziel und nicht das, was die anderen tun oder sagen. Hört auf, auf die anderen zu schauen!

Wir sind für unser Leben ganz allein verantwortlich. Deinen Weg kann niemand anderes für dich gehen, das kannst nur du allein.

Es ist leicht, sich im Leben der anderen zu verlieren, in der Gemeinschaft oder in Technikfragen – egal ob Diätprogramme oder Bike-Tuning. Antoine de Saint-Exupéry, der Autor des weltbekannten Romans „Der kleine Prinz“, schreibt in „Bekenntnis einer Freundschaft“: „Ein Wanderer, der sein Gebirge in Richtung eines Sterns überquert, vergisst leicht, welcher Stern ihn lenkt, wenn er sich zu sehr mit Fragen der Klettertechnik befasst.“ So ist es auch beim Biken: Viele verbringen mehr Zeit beim Ausarbeiten der Trainingspläne als beim Training selbst oder sie bringen Stunden mit dem Philosophieren über das Rennrad zu und vergessen darüber, sich einfach mal öfter aufs Rad zu setzen. Je intensiver man sich mit Theorien, Ansichten und Moralvorstellungen befasst, umso mehr Ausreden fallen einem ein!

Denn Gedanken produzieren noch mehr Gedanken – doch lösen sie meist keine Probleme.

Versteht uns nicht falsch: Es ist absolut legitim und manchmal sogar notwendig, sich intensiv mit Theorien und verschiedenen Denkansätzen auseinanderzusetzen. Aber irgendwann kommt der Punkt, an dem man nicht mehr nachdenkt, sondern grübelt. An dem man keine Chancen und Abenteuer mehr wahrnimmt, sondern nur noch Gefahren und Möglichkeiten zum Scheitern. An dem man keine Informationen mehr sucht, sondern Ausreden. Ab einem gewissen Punkt hilft es keinem, Handlungsoptionen abzuwägen – wir sollten lieber einfach mal handeln.

Deshalb ist es wichtig, sich seiner Ausreden bewusst zu werden und sie gnadenlos in Frage zu stellen – zumindest, wenn man Leistungen vollbringen und Ziele erreichen will.

Ich sage nicht, dass du keine Zweifel haben sollst oder keine Ausreden in deinem Kopf herumschwirren dürfen. Vielmehr sollten wir alle mehr in uns hineinspüren und ganz bewusst entscheiden, ob wir das Training, die Diät oder die Frau/Typen an der Bar sausen lassen wollen oder nicht. Eine Ausrede, die für deine Mitstreiter, für deine Konkurrenten oder deine Familie und Freunde gut genug ist, wirst du garantiert finden. Doch die Frage lautet: Ist die Ausrede auch gut genug für dich?

Falls du so ehrlich bist und die Angst erkennst, die hinter deine Ausrede steckt (ja, jeder Mensch hat Angst, auch wenn wir es nicht zugeben wollen!), dann frage dich: Was wäre das Schlimmste, was passieren könnte, wenn du es trotzdem machst? Ein Korb an der Bar, mitten im Training abbrechen oder im Wettkampf aufgeben? Wäre das wirklich so fürchterlich? Scheitern ist menschlich, aber das wahre Scheitern liegt vielleicht darin, es gar nicht erst probiert zu haben.

Leben heisst Veränderung! Sagte der Stein zur Blume und flog davon.

Falls du jetzt aber auf deiner Ausrede bestehst und sagst: „Lass mich – ich kann mich nicht verändern! Ich bin halt so!“ Dann muss ich weiterbohren: Wer denkst du, bist du?

99,9 % der Menschen haben ein falsches Bild von sich und dem was sie „Selbst“ nennen. Fälschlicherweise reagieren wir auf die Frage „Wer bin ich?“ oft mit der Antwort auf die Frage „Wer war ich?“, indem wir darüber sprechen, was wir alles erreicht, gemacht und empfunden haben. Natürlich hat unsere Vergangenheit uns geprägt. Aber wir sollten aufpassen, dass sie unserer Gegenwart nicht im Weg steht: Bleib so, wie du bist! Be yourself! Stick to your roots! Heißt das, ich muss das sein, was ich früher war? Muss ich dort bleiben, wo ich herkomme? Darf ich mich nicht verändern? Glaubt man diesen populären Sprüchen, müsste man all diese Fragen mit ja beantworten. Dabei ist Veränderung das Natürlichste auf der Welt – die großen Philosophen jedes Zeitalters sagen gar, dass die Veränderung selbst das Leben sei. Ist es dann nicht erschütternd, dass der Lebenslauf und die damit sorgsam aufgebaute Identität den meisten Menschen eher im Weg steht und Verlustängste begünstigt?

Doch was nun? Was bedeutet das konkret? Und worauf kommt es dann an? Wer schon mal eine Yoga-Stunde besucht, sich mit fernöstlichen Traditionen befasst, einen Pseudo-Lebensratgeber auf Amazon bestellt oder eine New-Age-Kaffeetasse mit schlauem Spruch geschenkt bekommen hat, weiß: Hier und jetzt. Das heißt nicht, dass man die Vergangenheit und die auf Erfahrung gründenden Vorausberechnungen seines Verstandes ignorieren sollte. Aber dennoch nimmt die Gegenwart und die daraus entstehende Zukunft eine fundamentale Rolle ein. Deshalb lautet die richtige Frage nicht „Wer bin ich?“, sondern: „Wer werde ich?” und „Wer will ich werden?“

Hat man das verstanden, lebt man auf natürliche Weise. Schließlich liegt es in der Natur der Dinge, dass sich alles verändert: Die Veränderung ist die Konstante des Lebens. Egal wie stark und erfolgreich wir sein mögen, wir alle müssen uns über die Zeit verändern und weiterentwickeln. Denn die Natur akzeptiert keine Ausreden und auf lange Sicht können wir unsere Natur nicht verleugnen – das wusste auch Charles Darwin: „Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, auch nicht die intelligenteste, sondern eher diejenige, die am ehesten bereit ist, sich zu verändern.“

Wer sich nicht über die Vergangenheit definiert, sondern die Frage „Wer werde ich?” und „Wer will ich werden?“ in den Vordergrund stellt, macht sich bewusst, dass er sich verändern kann, und erkennt dadurch die große Freiheit, die uns die Natur schenkt. Diese Erkenntnis legt den Baustein dafür, dass man gar keine Ausreden mehr braucht. Die Angst hinter der guten Ausrede versiegt, wenn man akzeptiert hat, dass die Veränderung, und ja, auch die damit einhergehende Unsicherheit, Kernbestandteile unseres Lebens sind. Egal wie viel man erlebt hat oder wie viele Millionen sich auf dem Konto stapeln. Die Hemmungen, etwas Neues auszuprobieren, die Frau an der Bar anzusprechen, das Training doch durchzuziehen oder die scheinbar vergebliche KOM-Jagd wieder aufzunehmen, sinken.

Die Fragen „Wer werde ich?“ und „Wer will ich werden?“ geben uns Freiheit, Hoffnung und Zuversicht jetzt, in der Gegenwart zu handeln und unser Schicksal in die Hand zu nehmen. Auch wenn keiner weiß, was morgen passiert, kann man mit großer Wahrscheinlichkeit sagen: Wer bei den Ausreden bleibt, dreht sich im Kreis, kommt nicht vorwärts und wird abgehängt. Wer es hingegen versucht, entwickelt sich weiter, hat vielleicht schon einen kleinen Erfolg zu verbuchen und wird sich folgende zwei Fragen wieder und wieder stellen: „Wer werde ich?“ und „Wer will ich werden?“. Und macht weiter.


Dieser Artikel ist aus GRAN FONDO Ausgabe #011

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Text Robin Schmitt Illustration Julian Lemme


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