Korsika ist nicht nur eine wunderschön zerklüftete Insel im Mittelmeer, sondern auch Schmelztiegel von französischem Baguette, Brie und italienischer Pasta. Wir haben während des Explore Corsica Events die Insel mit all unseren Sinnen kennengelernt und herausgefunden, was der ewige Kulturkampf zwischen Frankreich und Italien mit George Orwell zu tun hat.

Explore Corsica by Le Tour de France ist ein dreitägiges Event, bei dem Radfahren und Kreuzfahrt kombiniert werden. Während es tagsüber mit dem Bike über die Insel geht, wird sie des Nachts friedlich schlummernd mit dem Schiff umrundet. Die mitreisende Familie kann geführte Wanderungen oder Biketouren unternehmen. So ist für gute Stimmung gesorgt und der ambitionierte Amateurracer kann sich auf den Segmenten mit Zeitmessung voll verausgaben. Zwischen den Segmenten ist genügend Zeit, um die Landschaft zu genießen – theoretisch zumindest. Wie das in meinem Fall geklappt hat, erfahrt ihr weiter unten im Text.

Als George Orwell den Bestseller “1984” in den späten 1940er Jahren schrieb, thematisierte er einen totalitären Überwachungsstaat, der die Gedanken und Meinungen seiner Bürger kontrolliert. Während meiner Tage auf Korsika, den zahllosen Anstiegen und stillen Momenten im Sattel blitzen immer wieder Phrasen aus dem Orwellschen Drama in meinem Gedächtnis auf. „Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.“ Mein Herz pumpt mit 198 Schlägen pro Minute Blut durch meine Adern und die Reifen mahlen im Wiegetritt unbeirrbar vor sich hin. Beinahe apathisch murmle ich immer wieder „Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.”

Drei knackige Parolen – doch haben sie für mich eine völlig andere Bedeutung als sie für Orwell hatten. Für mich neu interpretiert verkörpern sie meine ganz spezielle Reise über die Insel und stehen nicht als Sinnbild eines Systems, das sich über den freien Willen des Einzelnen stellt. Wer kann schon beim atemberaubenden Anblick des korsischen Naturschauspiels nur einen Anflug von Schwermut und Trübsinn verspüren? Lass’ dich darauf ein, fahr’ los und erlebe!

Farblich abgestimmter Transponder …
… und der GRAN FONDO-Startnummer-Hack für dein nächstes Rennen

Der Einladung des französischen Traditionsherstellers Mavic folgend stehe ich an der Startlinie des Explore Corsica-Rennens. Vor mir liegen 350 km und 6.500 Höhenmeter auf den schönsten Straßen, die Korsika zu bieten hat. Organisiert wird das Event von der Amaury Sport Organisation, kurz A.S.O., die neben vielen anderen Rennen für die Ausrichtung der Tour de France zuständig ist. Übernachtet wird auf dem Schiff. So hat man nicht nur seine Habseligkeiten immer am Zielort, sondern auch seinen Heimathafen.

Krieg ist Frieden

Am ersten Tag führt die Route vom nordwestlichen L’Ile-Rousse landeinwärts zum Col Bocca di Battaglia, weiter über den Col de San Colombano und wieder zurück zum Ausgangsort. Dabei gilt es neben den 115 km auch 2.200 Höhenmeter zu bewältigen. Eine ordentliche Distanz für den Trip-Einstieg, denke ich mir noch am Vorabend und schaufle auch den zweiten Teller Pasta ohne Reue in mich hinein. Nach dem obligatorischen Stelldichein mit Pro Tour Größen wie Fränk Schleck und Cadel Evans an der Startlinie wird mir nach der ersten Stunde im Sattel schnell klar, dass ich mein euphorisches Anfangstempo wohl kaum über die nächsten Tage halten kann. Der Blick auf meinen Bikecomputer attestiert mir bis dato einen durchschnittlichen Puls von 180 Schlägen und so fällt nicht nur meine Kette auf das kleine Blatt, sondern auch ich – gefühlt auf eine der letzten Positionen.

Ziel des Events ist es nicht, die Gesamtstrecke als Schnellster zu absolvieren, sondern auf den einzelnen Wertungssektionen eine möglichst gute Zeit einzufahren. Das scheinen jedoch alle Fahrer um mich herum vergessen zu haben und so stürmen wir nach dem Kaltstart im Pulk die ersten Anstiege hinauf. Am Start des ersten Grimpeur-Segments ist es Zeit für meine erste Pinkelpause und so habe ich immerhin eine einigermaßen passable Ausrede, meine Gruppe ziehen zu lassen. Zurück auf dem Bike und im Wiegetritt aus dem Sattel stürme ich so gut es geht dem Gipfel entgegen. Es wird versucht im Windschatten Kräfte zu sparen. Mitstreiter werden von der Ideallinie gedrängt, um Kurven schneiden zu können. Gegenseitiges Hinweisen auf Schlaglöcher und etwaige Gefahren durch Handzeichen gibt es nicht mehr. Es herrscht Krieg. Ich fühle mich wie ein Zug, der auf Schienen unaufhaltsam seinem Ziel entgegen rast. Wie ein überdimensionierter Pantani, der im Wiegetritt nur den Gipfel vor Augen hat. Il Pirata hat einen roten Bart, das Messer zwischen den Zähnen und findet seinen Frieden im konstanten Schmerz seiner Laktat-durchfluteten Beine, dem metallischen Geschmack auf seiner Zunge und dem Brennen in seiner Lunge. Krieg ist Frieden.

Freiheit ist Sklaverei

Nachdem ich am Ende des ersten Tages beinahe beim Abendessen eingeschlafen bin und den Zauber der Landschaft erst auf den Bildern des Tages erkenne, wird mir klar: Korsika kann ich nicht mit dem starren Blick auf meinen Bikecomputer und die zwei Meter Asphalt vor meinem Reifen an mir vorbeiziehen lassen. Zu beeindruckend sind die Panoramen, welche ich lediglich auf den Handydisplays anderer Fahrer sehen kann, obwohl ich diese doch noch vor wenigen Stunden selbst durchfahren habe…

In der Abendröte reflektiert man den Tag. Und findet Möwen im Foto.

Tag zwei soll mit 120 km und 2.400 Höhenmetern zwar nur unwesentlich härter als der Vortag sein, doch geht es mit dem Col Bocca di La und dem direkt daran anschließenden Col de Bavella gute 20 km mit durchschnittlich 7,4 % Steigung eine lange Zeit nur bergauf.

Während wir uns von Porto-Vecchio über die Berge bis da Propriano durchschlagen, umkreist das Schiff die Südspitze Korsikas, um uns am Tagesende wieder in Empfang zu nehmen. Die ersten 50 km führen entlang der Küstenstraße durch flaches Terrain und so fahren wir im Peloton dem Führungsfahrzeug und der vorausfahrenden Polizei-Armada hinterher. Da die Straßen für den normalen Verkehr nicht gesperrt sind und sich einige Mitstreiter offenbar auf Platz 132 wohler fühlen als auf Position 141, kommt es an Kreisverkehren zu Überholmanövern auf der Gegenspur. Brenzlige Situationen durch übermotivierte Attacken sind an der Tagesordnung.

Am Ende des niemals enden wollenden Anstiegs hat sich das Feld zersplittert und so bin ich für weite Teile der verbleibenden Strecke allein auf weiter Flur. Kein Gruppentempo, dem ich mich anpassen muss. Keine riskanten Positionskämpfe in suizidgefährdeter Wild-West-Manier. Ich bin allein mit der Schönheit der Landschaft und genieße die Freiheit. Nur allzu oft erwische ich mich jedoch dabei, wie meine Hand in meine Jerseytasche wandert, um das Handy hervor zu kramen. Ein Video für die Daheimgebliebenen hier, ein Beweisfoto für die Jungs im Büro da, eine Instagram Story dort. Unaufhörlich fühle ich mich dazu getrieben meine gewonnene Freiheit mit anderen zu teilen und scheine Sklave meiner selbst zu sein. Freiheit ist Sklaverei.

Beweis-Selfie für die Kollegen – auch auf Korsika heißt es klotzen statt kleckern

Unwissenheit ist Stärke

Triumphierend präsentiere ich am Frühstückstisch des dritten Tages meine Bilder vom Vortag. Zwar hat sich meine Position in der Gesamtwertung aufgrund meiner exzessiven Medienproduktion nicht zum Besseren gewendet, doch immerhin scheinen meine Mitstreiter von meiner Dokumentation begeistert. Der letzte Tag führt von Propriano über einen 130 km langen Kurs mit ca. 2.200 Höhenmetern nach Ajaccio, von wo wir am Abend zurück in Richtung Marseille ablegen sollen. Bei einer Portion Porridge und einem Omelett schmiede ich den Plan, am finalen Tag der Reise das perfekte Mittelmaß zu finden. Aus dem Racemodus von Tag eins und der Bilderbucherstellung am zweiten Tag soll sich nun die perfekte Symbiose bilden – mein persönlicher Goldener Schnitt.

Auf dem Papier scheint es ein perfekter Tag für mich zu sein. Gemäßigte Steigungsgrade sind ja angeblich genau das Richtige für schwere Jungs. Da die Abfahrt über neu asphaltierte Straßen führt, steigt meine Motivation am Fuße des Anstieges nochmals an. Kurz vor dem Berg-Segment erwartet mich eine Verpflegungsstation – Energy-Gel statt Baguette und Brie. Schließlich habe ich aus meinen Fehlern der Vortage gelernt und will den Anstieg nun zwar zügig fahren, ihn dabei aber ohne Sodbrennen genießen. Zwar wusste ich, wie lang dieser Anstieg ungefähr sein wird, doch bleibt mir der Blick auf den Gipfel lange Zeit verwehrt. So schlängelt sich die Straße wie ein geteerter Irrgarten durch schier unendliche Wälder. Meine Unwissenheit darüber, wann ich das Ende des Anstiegs wohl endlich erreichen werde, zwingt mich dazu, auf meine Vernunft zu hören und runterzuschalten. Leichtester Gang und noch ein Schluck aus der Flasche – aktive Bonking-Prophylaxe.

Plötzlich sehe ich eine Gruppe Fahrer auf der Straße – stehend. Gelächter hallt die Straße hinab und ich vermute voller Freude, die Verpflegungsstation auf dem Gipfel. Ein Wechselbad der Gefühle. Mein Frust darüber, nicht alle Reserven auf dem Anstieg mobilisiert zu haben und das Segment weit unter meinen Möglichkeiten zu beenden, weichen schnell der Euphorie beim Genuss des Ausblicks. Krampffrei steige ich vom Rad. Es ist Zeit für Brie. Ich fühle mich stark und zufrieden. Unwissenheit ist Stärke.

Ich verlasse Korsika mit einem Lächeln. Wohl wissend, dass ich zurückkommen werde, um auch den Rest der Insel zu entdecken. Ich habe gelitten, genossen, geflucht und vor Freude gejauchzt. So endet für mich das Explore Corsica Event mit der Gewissheit nicht nur die Insel, sondern auch mehr über mich erfahren zu haben.


Video: Explore Corsica 2018 – Best of


Dieser Artikel ist aus GRAN FONDO Ausgabe #009

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Text: Fotos: Benjamin Topf, A.S.O.