Das Gravel- und Adventure-Segment wurde von Canyon bisher weitgehend ignoriert, aber mit dem Canyon Grail CF wollen die Koblenzer den Markt nun gründlich aufmischen. Dabei reizt der Direktversender nicht nur das technisch Mögliche aus, sondern geht auch in Sachen Ästhetik an die Grenzen des bisher Bekannten. Wir waren in Südfrankreich und haben das Canyon Grail CF SLX 8.0 Di2 bereits getestet.
„Peacocking“ ist eine gängige Methode beim kundigen Pick-up-Artist. Von Pfauen inspiriert, geht es darum, durch wenig subtile und vielmehr recht auffällige Accessoires die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Peacocking gehört mittlerweile ins Standardrepertoire der Dating-Gurus und ganze Tinderstrategien sind um dieses Kalkül aufgebaut. Das neue Canyon Grail CF ist der „Peacock“ unter den Gravel-Bikes. Mit seinem Design geht es weit aus der Komfortzone und begründet seine eigene Kategorie. Was auch immer man aus diesem Test mitnimmt, das einzige Gesprächsthema wird das Cockpit sein.
Was ist so besonders am Canyon Grail CF?
Bislang hat zwischen der CX-Rennmaschine Inflite und dem groben Asphalt-Bügler Endurace eine große Lücke geklafft. Das Canyon Grail CF soll das nun ändern und komfortabler als das Inflite, aber vielseitiger als das Endurace sein. Lange Asphaltrampen soll es genauso wenig wie waghalsige Abfahrten auf Schotterpisten scheuen und wenn es einmal darum geht schnell zu sein, dann ist es eben schnell. Kurz: Ein Bike für Spaß und Abenteuer mit Speed wenn man ihn haben will.
Das Grail CF ist komplett aus Carbon gefertigt, beim Blick auf die Geometrietabelle fällt direkt der sehr lange Radstand auf. Im Vergleich zum Endurace ist es in der Rahmengröße M um mehr als 40 mm länger und schafft so nicht nur Platz für breite 40-mm-Reifen, sondern verhindert auch, dass man mit den Füßen beim Einlenken an den Reifen kommt. Auch wenn der Vorbau sehr lang aussieht, ist die effektive Vorbaulänge mit 75 mm relativ kurz. Diese optische Illusion erzeugt das Lenker-Design und die Anbindung im Lenkerbogen anstatt am Oberlenker wie üblich. Die effektiv kurze Vorbaulänge in Kombination mit dem 440 mm breiten Lenker sorgt für sehr viel Vertrauen und ein direktes wie präzises Handling auf groben Untergrund. Alle Modellvarianten kommen mit 40 mm Schwalbe G-One Bite Custom-Reifen mit aggressivem Stollenprofil an der Seite und einer schnellen Lauffläche in der Profilmitte.
Der Elefant im Raum: Der neue Canyon CP01 Hover Bar
Doch nun zum Offensichtlichsten, dem Cockpit. Canyon steht zweifelsohne für Innovation, aber niemand hätte gedacht, dass man sich an ein so radikales Redesign des klassischen und bewährten Rennradlenkers macht. Ein Gravel-Bike ist dafür ausgelegt lange Distanzen auf grobem Untergrund zurückzulegen – Komfort ist hier alles. Deshalb hat Canyon noch einmal ganz von vorne begonnen: Wenn man das klassische Lenkerdesign betrachtet, ist der Bereich am Oberlenker nahe dem Vorbau am steifsten, der Unterlenker am nachgiebigsten. Für Canyon ein Paradoxon: Denn wenn man sprintet und maximale Steifigkeit erwartet, greift man den Unterlenker und beim Ausruhen den Oberlenker, der jedoch der härteste Teil des Cockpits ist. Durch Vertauschen der beiden Bereiche wurde das revolutionäre Aussehen des Hover Bars mit seinem schwebenden Oberlenker geschaffen. Der obere Bereich nutzt den Flex des Carbons und bietet bei einer stabilen zentralen Position 7x mehr Flex als das Canyon H31 Cockpit, kann aber dennoch mit steifen, 7,5° ausgestellten Drops aufwarten. Mit nur 110 g Zusatzgewicht ist der CP01 Hover Bar außerdem weitaus leichter als jede Form einer zusätzlichen Federung und noch dazu absolut wartungsfrei.
Das Hoversystem ist komplett neu entwickelt
Das Fass ist tiefer als man meint: Canyon hat nicht einfach nur einen neuen Lenker mit einer bestehenden Rahmengeometrie kombiniert. Denn im Vergleich zu herkömmlichen Cockpits muss der Vorbau tiefer liegen und somit das Steuerrohr deutlich kürzer ausfallen. Da sich herkömmliche Reach- und Stack-Vergleiche nicht mehr ohne Weiteres anwenden lassen, hat Canyon ein neues Stack & Reach+ System eingeführt, das das Zentrum des oberen Lenkerabschnitts als Messpunkt festlegt. Auch wenn die Front des Grail CF hoch aussieht, täuscht das; sie ist sogar 10 mm niedriger als bei den Endurace-Modellen. Wenn man das neue Stack & Reach+ System auf die gesamte Canyon Produkpalette anwendet, sieht man, dass das Grail CF mit einem Stack- und Reach-Verhältnis von 1,44 aggressiver als das Endurace mit 1,47 ist und nicht so weit vom Ultimate mit 1,38 entfernt ist.
Spezifikationen Canyon Grail CF SLX 8.0 Di2
Das Canyon Grail CF wird in 5 Varianten und einem zusätzlichen Women-Modell erhältlich sein und ist durchgehend mit einer Zweifachkurbel ausgestattet. Die Shimano Ultegra- und die Ultegra Di2-Gruppen kommen mit einer 11-34-Kassette und einer 50/34-Kurbel für eine 1:1 Übersetzung. Für alle, die sich durch Gebüsch schlagen, mit Bären ringen und aus Bächen trinken wollen, hat Canyon mit Topeak ein komplettes, angepasstes Taschensetup entwickelt. Das Set umfasst eine Lenker-, eine Rahmen- und eine Satteltasche und nicht zuletzt auch ein 3M Tapekit, um den kostbaren Carbonrahmen zu schützen. Der Rahmen hat außerdem Aufnahmen für Schutzbleche, einen clever integrierten Kettenstrebenschutz und eine fest verbaute Platte gegen Chainsucks. Die innenverlegten Züge und die 160-mm-Bremsscheiben vorne und hinten runden das Paket ab. Das Grail CF wird es in vielen Rahmengrößen geben. Von den kleinen 2XS und XS Bikes mit 650B-Laufrädern bis zum großen XL mit 700C Laufrädern. Eine Aluminiumversion wird auch erhältlich sein, wenn auch ohne Hoverbar.
Erster Test: Canyon Grail CF SLX 8.0 Di2
Das 4599 € teure Topmodell musste sich auf unterschiedlichstem Terrain beweisen – wie es sich für ein Gravel Bike eben gehört: Von rutschigem Teer bis zu groben, felsigen Wegen war jede Herausforderung dabei. Auf Asphalt fühlt sich das Bike sofort stabil und entspannt an. Der Schein, dass der Lenker im Vergleich zum Vorbau sehr hoch ist, trügt. Das kurze Steuerrohr sorgt für eine aggressive aber trotzdem angenehme Sitzposition, die man auch ohne Yoga-Ausgleichstraining genießen kann.
Auf den Asphaltstrecken bemerkt man sofort das spritzige Abrollverhalten der Schwalbe G-One Bite TLE-Reifen. Das Grail CF selbst ist zwar keine Beschleunigungsrakete, aber auch weit weniger vielseitige Bikes werden einen nicht abhängen. Sobald man nach unten in die Biegung des Lenkers greift, spürt man die deutlich höhere Steifigkeit im Cockpit mit der man im Wiegetritt auch das letzte Watt herauskitzeln kann.
Im groben Gelände gibt der lange Radstand des Canyon Grail CF viel Stabilität, vor allem wenn man in der Unterlenker-Position viel Druck auf den Lenker gibt – ein hervorragender Boost für’s Selbstvertrauen! Um Kurven fährt es lieber in einem sanften Bogen, als um den Scheitelpunkt gepresst zu werden, aber wir nehmen das kleine Minus an Agilität gerne für die unbeirrbare Laufruhe in Kauf.
Auch wenn das Aussehen des Hover Bars polarisiert, muss man die Ingenieursleistung anerkennen. In der Unterlenker-Position fühlt sich der Lenker vertraut und kraftvoll an und bietet mit der zentralen Position viel Ergonomie und Komfort. Sobald man nach oben greift, spürt man sofort weniger Schläge und Vibrationen vom Untergrund und auch wenn das Cockpit natürlich nicht an eine Federung herankommt, verringert es auf langen Rides die Ermüdung der Hände spürbar. Beim Highspeed-Straßensprint wirkt das Lenkverhalten im Stehen etwas unausgeglichen, aber wenn man sich setzt und sich in den Griffen verspannt, ist die Welt wieder in Ordnung.
Die 23 mm Maulweite der Reynolds Assault ATR Carbon-Disc-Laufräder harmonieren gut mit den 40 mm breiten Schwalbe G-One Bite TLE-Reifen, sodass wir mit niedrigen 2,75 bar Reifendruck vorne und hinten fahren konnten. Der Shimano Ultegra Di2-Antrieb schaltet präzise und zuverlässig und auch wenn wir immer noch ein gedämpftes Schaltwerk vermissen, sorgt der gummierte Rahmenschutz am Canyon Grail CF für Ruhe.
Für viele hebt sich der Gravel-Sektor noch nicht ausreichend ab, aber mit dem Grail CF hat Canyon ein Bike entwickelt, das genau das versucht. Natürlich sind 40-mm-Reifen und komfortable Kontaktpunkte Standard in dieser Klasse, aber die völlige Neukonzeption und der polarisierende Lenker machen das Canyon Grail CF zu einem innovativen Gesamtpaket.
Fazit
Wenn es um Gravel und Komfort geht, ist das Canyon Grail CF ein Game Changer. Es bietet gerade genug Komfort um gut über lange Tage zu kommen, ohne auf Asphaltstrecken das Handling und den Speed zu opfern. Wenn man es aber klassisch mag, wird die Optik eher schockieren.
Mehr Informationen findet ihr unter canyon.com