Ausgabe #018 Issue #018

GRAN FONDOs kleines, schmutziges Geheimnis – Fahren im roten Bereich

Es hat etwas Kathartisches, über die Schmerzgrenze zu gehen und hart zu fahren. Die Stille, die sich um einen hüllt, das brennende Laktat in den Beinen, der Geschmack von Blut im Mund und der ständige Kampf, nicht aufzugeben. Noch ein Stückchen weiter, noch ein bisschen härter.

„Moment mal“, denkt ihr sicher gerade und vergewissert euch, dass das hier auch wirklich GRAN FONDO ist und nicht ein beliebiges, rein auf Leistung ausgerichtetes Magazin der bizepsküssenden Art. Versteht uns nicht falsch, wir wechseln jetzt sicher nicht die Seiten. Natürlich reizt uns nach wie vor sehr viel mehr am Radsport, als uns einfach nur permanent die Seele aus dem Leib zu fahren. Das ändert aber nichts daran, dass auch wir diese Momente kennen, in denen man richtig hart fahren will. Schmerz, das Überschreiten der eigenen Grenzen und Leiden sind Teil dessen, was den Radsport großartig macht. Doch was ist die beste Art und Weise, eine Reise in den roten Bereich zu unternehmen?

FTP, Watt pro Kilo, KOM/QOMs und eine ganze Reihe anderer Leistungsdaten können eine leistungsorientierte Fahrt ein wenig entmutigend machen, manche würden sogar sagen: langweilig. Nichtsdestotrotz macht hartes Fahren Spaß – natürlich noch mehr in GRAN FONDO-Manier, zu unseren Bedingungen.


Fahrt nicht ständig eine halbe Radlänge vor eurem Nebenmann oder eurer Nebenfrau, hängt niemanden ab, greift die Gruppe nicht an, ohne sie vorher wissen zu lassen, dass ihr durchziehen wollt. Eine ganze Reihe von „Don’ts“, aber wenn der rote Nebel aufzieht und man sich dazu hinreißen lässt, Vollgas zu fahren, ist es leicht, ein bisschen dumm zu sein. Seid stattdessen bescheiden. Fahrt zur richtigen Zeit hart und bitte, bitte, bitte seid dabei keine Ärsche. Es gibt keinen Preis für die erste Person über der imaginären Ziellinie, die ihr in euren Köpfen errichtet habt.


Was soll’s, wenn ihr keine persönliche Bestzeit gesetzt habt? Fühlt euch nicht verpflichtet, in eurem Strava-Titel Ausreden zu liefern: „Entspannte Fahrt mit Mama“, „Hatte eine Fliege im Auge“, „Bremse schleift“. Behaltet jegliche Kommentare zu einer unterdurchschnittlichen Leistung für euch. Wenn ihr 50 km gegen den Wind gefahren seid und euer Durchschnitt ruiniert ist, ziehen wir den Hut, aber ihr müsst euch vor niemandem für die Fahrt rechtfertigen. Hart zu fahren ist nur ein kleiner Teil dessen, was Radsport ausmacht. Nehmt eure Leistung ernst, aber haltet euch nicht damit auf.


Wenn ihr keine Profis, Semi-Profis oder wirklich ambitionierte Amateurinnen und Amateure mit beeindruckendem Trainingsplan, einem Rennprogramm und der Verheißung zukünftigen Ruhmes seid, muss Radfahren nicht mit einem mürrischen Gesicht verbunden sein. Lächelt, wenn es weh tut. Grinst wie Thomas Voeckler. Sprintet aus jedem Kreisverkehr heraus. Diese Zahlen auf eurem Radcomputer? Schlagt sie! Geht so tief, dass ihr euch selbst beeindruckt. Nehmt den Schmerz in Kauf, aber verliert nie den Spaß am schnellen Fahren aus den Augen.


Geht raus und findet Trost in der Stille. Das Surren der Kette. Schnaufende Atemzüge. Die schreiende Freude an der Geschwindigkeit. Es geht nicht nur um „Rennen“, darum geht es nie. Auf Fahrten wie diesen geht ihr einen Schritt weiter und traut euch härter zu treten. Mit jeder Pedalumdrehung löst sich die aufgestaute Wut von der Arbeit oder von zu Hause ein bisschen weiter auf. Vielleicht habt ihr ein Ziel, vielleicht auch nicht – wen interessiert das schon? Schnell zu fahren ist ein großer Teil dessen, was das Fahrradfahren lohnenswert macht. Geht an eure Reserven, um zu sehen, was ihr leisten könnt. Euer Hausberg oder eine Mittagspause, um Dampf abzulassen: Bringt euren Puls in Schwung und die Endorphine zum Fließen. Eine Woche, zwei Wochen … sechs Wochen, mittlerweile klettert ihr in den alles bestimmenden Strava-Ranglisten nach oben. Aber wen kümmert das wirklich?

Tretet in die Pedale, bis ihr herrlich verschwitzt seid, dann dreht um, kommt nach Hause und genießt den Rest des Tages. Das Verlangen ist für eine Weile wieder gestillt, ihr selbstgefälligen, durchtrainierten Mistkerle und Wahnsinnsweiber!


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Text: Phil Gale Fotos: Felix Unseld (Illustrationen)