238 km. 5.500 Höhenmeter. Mehr als diese Zahlen braucht es nicht, um zu wissen, ob man zum Club gehört: Ötztaler-Finisher. Wer einmal bei klirrender Kälte oder sengender Hitze durch das Tal der Schmerzen hinauf zum Timmelsjoch gestiegen ist, der gehört zu den rund 4.500 namenlosen Helden, die sich jedes Jahr der Herausforderung ihres Lebens stellen.

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Zwischen einem schummerigen Striptease-Club und in Neonlicht getauchten Skigeschäften stehen Männer in Rettungsdecken gehüllt. Winterjacken, Jeans und dicke Handschuhe komplettieren das bizarre Erscheinungsbild. Hunderte Schaulustige warten am Straßenrand, die Blitzfunktion ihrer Kameras erhellt den dunklen Morgen. Mittendrin irren noch unzählige dick verpackte Radler umher auf der Suche nach ihrer Startposition oder einfach nur der nächsten Toilette. Die ganze Szenerie erinnert mehr an ein impressionistisches Gemälde als an ein Radrennen. Aber es handelt sich schließlich nicht um irgendein Rennen: Ich stehe zum ersten Mal am Start des Ötztaler Radmarathons und warte zusammen mit meinen Kumpels von Guilty76 ungeduldig auf den Start.

Ein Rennen, sie alle zu knechten

Viel habe ich schon gehört von diesem Rennen, das alljährlich Ende August von Sölden über das Kühtai, den Brenner, den Jaufenpass und schließlich das Timmelsjoch zurück nach Sölden über 238 km und knapp 5.500 Höhenmeter führt und den Ruf des härtesten Radmarathons der Welt genießt. Von den Jungs, die das Rennen schon gefahren sind, habe ich zuvor schon so viele Überlebenstipps erhalten, dass ich mich ernsthaft frage, warum ich mir das überhaupt antun will. Der erste und wichtigste lautete: Eine Stunde vor Start musst du so weit vorne wie möglich im Startblock stehen. Denn die ersten 35 km hinunter nach Ötz sind bei 4.500 Startern gleichzeitig auch die gefährlichsten, da viele Tiefflieger hier schon stürzen.

Sommerliebe

Dass ich mich trotz allem bereit fühle, liegt nicht an meiner Form, die seit August schon leicht abwärts zeigt. Nein, der Grund ist vielmehr mein Rad. Vor einigen Wochen habe ich das Cervélo R5 erhalten, um damit den Ötztaler zu fahren. Ein Rad, dessen einzige Bestimmung es ist, so schnell wie möglich die kaiserlichen Berge des Ötztals zu erobern. Das bedeutet natürlich, dass ich so kurz vor dem Ötztaler mein eigenes Rad in der Garage stehen lassen musste. Ich komme mir vor wie ein Betrüger. Jahrelang macht man mit seinem treuen Hobel von RTF-Marathons über Gran Fondos alles mit, was sich auf zwei Reifen fahren lässt. Wie in einer guten Ehe erlebt man mit seinem treugeliebten Rad Höhen und Tiefen. In guten wie in schlechten Zeiten. Nur um dann mit der Sommerliebe drei Wochen in den All-Inclusive-Urlaub zu verreisen.

Erster Teil: Marathon oder Kriterium?

Die ersten 35 Rennkilometer hinab nach Ötz rauschen nur so an mir vorbei. In der kurvigen Abfahrt geht es teilweise so brutal schnell zu, dass ich mich frage, ob hier jeder wirklich für die 238 km gemeldet ist. Alle versuchen, so weit wie möglich nach vorne zu kommen – auch ich. Und plötzlich bin ich auch schon im ersten Anstieg des Tages hinauf zum Kühtai. Ich habe komplett die Orientierung verloren: Bin ich weit vorne? Wo sind meine Kollegen? Warum fahren eigentlich alle, als wäre oben schon das Ziel? Mit meiner Bergübersetzung (50×34 – 11×28) lasse ich es ruhig, aber flott angehen und hole nach einigen Kilometern schon die ersten Freunde ein. Mein Rad läuft wie auf Schienen und ich fühle mich verdammt gut. Die Rückenschmerzen, die sich schon im ersten Anstieg bemerkbar machen, ignoriere ich da noch.

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Oben werden die Flaschen schnell aufgefüllt und dann geht es in rasender Abfahrt vorbei an unzähligen Milchkühen hinab ins Tal. Obwohl ich teilweise 90 km/h auf meinem Tacho habe, sausen immer noch viele Kamikaze-Flieger mit teilweise zwanzig Sachen mehr an mir vorbei. Aber meine Taktik lautet: Bergauf schnell und gleichmäßig, bergab Kräfte sammeln und rollen lassen.
Kurz vor Innsbruck bin ich wieder dran an einer großen Gruppe, in der auch mein Kollege Frank fährt. Frank ist mein Indikator und Schrittmacher. Mit ihm sollte eine Zeit knapp um die 9 h möglich sein und dafür muss ich an ihm dranbleiben. Oben am Brenner sieht es so weit auch gut für mich aus, denn ich kann einige Minuten auf ihn herausholen. Es ist Halbzeit und nach 120 km habe ich einen Schnitt von 33 km/h. Wieder frage ich mich, ob das hier wirklich ein Marathon oder eher ein Kriterium ist.

Zweiter Teil: Ein gebrochener Mann

Bei der anschließenden Abfahrt verliere ich einige Plätze, aber Frank schließt nicht zu mir auf. Hat er ein Problem gehabt? So muss ich den Jaufenpass erst mal alleine angehen. Die Rückenschmerzen werden mittlerweile schlimmer, ich kann nicht mehr genug Druck aufs Pedal bringen, aber ich halte meinen Rhythmus und beiße mich die 21 km hinauf auf 2.090 m durch. Oben angekommen bin ich immer noch allein, also frage ich an der Verpflegungsstation herum, ob jemand vielleicht ein paar Guilties gesehen hat. Hat man, denn es stellt sich heraus, dass Frank mit einem weiteren Kollegen nur knapp vor mir unterwegs ist. Er hat wohl am Brenner ganz kurz gestoppt und ist somit schon die ganze Zeit vor mir! Die anschließende Abfahrt hinab vom Jaufenpass ist technisch äußert anspruchsvoll: Viele Kurven und schnelle Lastenwechsel sorgen dafür, dass ich mich nicht ausreichend regenerieren kann und so fahre ich mit wehenden Fahnen in den letzten Berg hinein.

Dritter Teil: Morituri te salutant

Der letzte Akt des Ötztalers spielt sich traditionell auf dem Weg hoch zum Timmelsjoch ab. Zu Dutzenden steigen hier die Entkräfteten ab, völlig überhitzt und mit eingefallenen Wangenknochen liegen sie unter den wenigen Schatten spendenden Bäumen oder halten sich an den Leitplanken fest in der Hoffnung, dass der Körper noch einmal die letzten Kräfte mobilisieren kann. Morituri te salutant. Die Totgeweihten grüßen dich. Ein Bauer steht am Straßenrand und spendet den geschundenen Körpern mit seinem Gartenschlauch einige Sekunden der Erlösung. Auch ich muss hier halten und fülle meine Flaschen wieder auf. Es sind noch 29 km bis auf die Spitze.

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Frank muss wohl ebenso leiden, aber ich bin mittlerweile im Tal der Schmerzen angelangt und kann kaum darauf hoffen, ihn noch einzuholen. Ich ändere daher kurzfristig meine Ziele und peile nun eine Zeit von unter 10 h an. Eine kilometerlange Schlange von Radfahrern windet sich deutlich erkennbar hinauf zum höchsten Punkt des Rennens. Viele von ihnen ziehen auf ihrem Weg nach oben an mir vorbei, manche noch sehr frisch, andere schlingernd und keuchend am Limit ihres Leistungsvermögens.
Noch 7 km. Ich stehe an einer der vielen Versorgungsstationen und würge noch ein zuckerhaltiges Gel hinunter. Mittlerweile spüre ich nur noch zwei Finger meiner rechten Hand. Ich quäle mich weiter hinauf, mal tänzelnd wie ein benommener Boxer, dann wieder sitzend und mit Rückenkrämpfen, aber nie über 10 km/h. Der Berg ist gnadenlos, fast durchweg fährt man in Steigungen mit zweistelligen Prozentwerten. Mein Verstand denkt nicht mehr weiter als bis zur nächsten Kehre. Dann sehe ich die berühmten Kurven mit den zerrissenen Trikots der letzten Editionen.

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Ein Zuschauer ruft uns ermunternd zu, dass es nur noch 1 km bis zur Spitze sei. Ein mieser Lügner, denn ich weiß, dass es noch länger ist. Aber ich habe keine Kraft mehr übrig, um ihn zu verfluchen. Regen setzt ein und dunkle Wolken ziehen über dem Gipfel auf – wäre dieses Rennen ein Film, man könnte wohl kein besseres Drehbuch schreiben. Ein letzter Tunnel ist zu durchqueren, das Licht an seinem Ende ist auch das vorzeitige Ende der Qualen.

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Ich stürze mich in die Abfahrt und sehe gleich in der ersten Kurve meinen Vordermann geradeaus fahren. Er rappelt sich aber wieder auf, Glück gehabt. Ich selbst kann nur noch rollen lassen. Der Regen und meine eingeschlafene Hand machen mir zu schaffen. Die letzte Gegensteigung drücke ich mit letzter Kraft weg, angefeuert von einem einsamen Didi Senft.

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Der arme Teufel steht schon den ganzen Tag da oben und schreit sich für jeden Einzelnen die Seele aus dem Leib. Dann geht es ein letztes Mal talwärts. Ich merke, wie mir Tränen in die Augen steigen. Liegt es nur an den Schmerzen im Rücken? Ich weiß es nicht, ich weiß nichts mehr, außer dass diese eine Straße hinab zum Ziel, zu meinem Ziel, führt.

Sölden ist schnell erreicht und zu Hunderten säumen die Menschen die Straßen. Ich fahre durch ein dichtes Spalier an schnell vorbeifliegenden Köpfen, die auch den letzten Finisher noch ins Ziel brüllen. Eine letzte Kurve. Die Uhr bleibt bei 9 h und 33 min stehen. Frank wartet schon im Ziel. Er kam in 9 h und 8 min rein. Nächstes Jahr bleibe ich an ihm dran.

Das Cervélo R5 ist kein Rad für Kriterien, sondern für lange Gran Fondos und Bergmarathons. Mit der Kompaktkurbel von Rotor war ich perfekt auf die langen Steigungen eingestellt. Die HED-Laufräder aus Aluminium sind leicht und gleichzeitig sicher genug für schnelle Abfahrten bei sommerlichen Temperaturen. Nur eines hatte ich nicht bedacht: Selbst bei nahezu identischen Maßen fährt sich kein Rad gleich. Ich hätte das R5 einfach längere Zeit vorher fahren sollen. Never change a wininng team! Nächstes Jahr bin ich schlauer.


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Text: Jonas Kaesler Fotos: Noah Haxel