Der Triumph ist schmerzhaft. Spitze Steine, kaltes Wasser, tiefe Wolken. Auf wackeligen Beinen waten wir in die Wellen. Irgendjemand erbarmt sich. Klick. Das Zielfoto. Da stehen wir im Gardasee. Drei Typen Mitte 40. Mit unrasierten Waden und unbeholfenem Grinsen. Glücklich und melancholisch zugleich.

Vor 20 Jahren standen wir fast genau so schon mal hier. Am Ende des Studiums. Damals war die Reise eine Zäsur. Für uns alle war es das erste große Bike-Abenteuer. Auf Alu-Hardtails, mit Kompass-Wanderkarten, abgesägten Zahnbürsten (Wir wollten Gewicht sparen.) und gläsernen Milchflaschen im XXL-Flaschenhalter (Wir hatten vergessen, Bidons zu kaufen). Am ersten Abend auf der Enzianhütte trafen wir Stefan. Er erzählte uns von Kindskopf-großen Steinen am Pfunderer Joch, vom Bannwald, von einer Marschtabelle, von Kohlenhydraten und Regenerationszeiten. Wir haben ihm andächtig zugehört – und als er um 21 Uhr im Bett verschwand, noch ein großes Bier bestellt.

Langsamere Bikes …
… schnellere Beine …
… geilerer Style. Damals war auch schön.

Heute ist vieles anders. Wir sitzen auf leichten Gravel-Bikes, navigieren mit GPS und lassen uns vergessene Geldbeutel via Taxi zum nächsten Etappenziel chauffieren. Wir wissen, wie viel Prozent Steigung der nächste Anstieg hat, wann uns der nächste Schauer erwischt und wie lange die Hotelsauna geöffnet hat. Heute ist die größte Unbekannte die Fahrradmitnahme in der Deutschen Bahn und die größte Gefahr, dass wir uns zu viele Gedanken machen.

Es geht für uns also 20 Jahre später nicht darum, uns zu beweisen, dass wir nochmal von Innsbruck zum Gardasee fahren können. Es geht darum, dass wir es immer noch mit derselben Leichtigkeit und Freude können. Ohne Mikronährstoffe, sportärztliche Unbedenklichkeitsbescheinigungen und Trainingspläne. Und ohne Angst vor dem Schwarz der Steigungsprozente, dem Violett des Regenradars und dem Rot der ausgebuchten Unterkünfte auf Booking.

Wir möchten uns vergewissern, dass wir eben keine Stefans geworden sind, die eine Route abarbeiten, sondern dass wir Antonio, Dominik und Nils geblieben sind, die dem Zufall den Raum geben, den er braucht, um aus einer Tour ein kleines Abenteuer zu machen.

Du musst nicht aufs Regenradar schauen, um zu wissen, dass es regnet.

Tag 1 – Wie viele Höhenmeter hält eine Freundschaft aus?

Antonio und Dominik hassen mich. Ich spüre es durch den Nebel. Ich schiebe schneller, um den vorwurfsvollen Blicken zu entkommen. Wir haben Hunger, alles hat zu, und der Weg, den ich als fahrbar angepriesen hatte … naja. Ich lobpreise die Schönheit der Landschaft, die besondere Stimmung durch die tief hängenden Wolken, das enorme Glück, dass es nur regnet und nicht gewittert, den Raum für Zufälle … Aber so recht mag der Euphorie-Funke nicht überspringen. Selbst die Pferde auf der matschigen Wiese sind passiv aggressiv.

Wir überqueren einen Bach. Das Schiebestück endet. Das Tragestück beginnt. 200 Höhenmeter rauf zur Pforzheimer Hütte. Der Blick des Hüttenwirts ist ein stilles Kopfschütteln. „Kommen hier viele Radfahrer vorbei?“ „Ihr seids die ersten.“

Als Spanier bekommt Antonio nicht mit, dass sich in der Hütte eine gewisse Sorge um unseren geistigen Zustand breit macht. Ich lächele, übersetze die Starkregenwarnung in ein „todo bien“ und wir stapfen weiter.

Wenn man es drauf anlegt, kann man auch mit Komoot abseits der eigenen Grenzen unterwegs sein.
Getragen haben wir damals auch.
Nur war es nicht so anstrengend.

Bei der Routenplanung hatte ich im Hochsommer bei 30 Grad und einem Gin Tonic lustvoll ein paar Wegpunkte auf Wanderwege gesetzt und Komoot mit Nachdruck gezwungen, sie in den Track zu integrieren. Das Ergebnis türmt sich jetzt vor uns auf wie eine Wand. Ein hochalpiner Wanderweg. Es geht weitere 400 Höhenmeter mit dem Rad auf dem Rücken hoch zum Gleirschjöchl. Gut, dass wir kein E-Bike haben. Es wäre noch schwerer zu tragen. Ab und zu treffen wir Wanderer. In die Verständnislosigkeit mischt sich Mitleid. Die letzten 100 Höhenmeter sind so steil, dass sie unseren Stolz brechen. Wir tragen im Pendelmarsch erst Rucksäcke und dann Bikes auf den Gipfel – und dann alles auf der anderen Seite wieder runter. Ein Bike den Berg runterzutragen, ist ein emotionaler Tiefschlag. Der Weg ist zu einem Bach geworden. Die Schuhe werden ewig stinken. Und die Erinnerungen an diesen Moment? Genau. Auch ewig. Ein Dornbusch reißt mich aus der Rührseligkeit. Dann endlich die Schweinfurter Hütte. Vollständig belegt durch eine Schulklasse.

Runter vom Gleirschjöchl, rein in die Erinnerung. Den Tag werden wir nie vergessen.

Ich lehne es aus Prinzip ab, Unterkünfte vorab zu buchen. Antonio und Dominik würden es anders machen, und gerade sind die Argumente auf ihrer Seite. Was uns ausmacht, ist, dass wir in solchen Momenten einfach machen. Nach 3 Minuten haben wir ein mega Hotel mit Bike-Werkstatt, Waschmaschine und Sauna am Start und stürzen uns in die Abfahrt nach Umhausen. Bye Bye, Hüttenromantik. Bonjour, Wellness.

Kleiner Gang = kleine Schmerzen, großer Gang = große Schmerzen

Tag 2 – Friede, Freude, Kaiserschmarrn

Ötztal runter, Inntal rauf. Ich bin kein Riesen-Fan von Radwegen, aber die hier sind der Knüller. Wir kreiseln im Rückenwind und ballern bis nach Landeck. Wie damals muss einmal ausgefahren werden, wer wo steht. „Un poco de ritmo“ bedeutet, dass Antonio jede Welle attackiert, als wäre er im Finale der Flandern Rundfahrt. Dominik und ich tun so, als ob es nicht weh tun würde. Wir hassen es. Und lieben es zugleich. Vollkommen platt kommen wir nach Landeck. Dort tanken wir Sonne und Kohlenhydrate. Friede, Freude, Kaiserschmarrn. Bis Antonio bemerkt, dass er seine Jacke inkl. Geldbeutel im jetzt 50 km entfernten Hotel liegen gelassen hat.

In solchen Momenten entscheiden sich Reisen. Solidarisch zusammen zurückfahren und einen Tag verlieren, sich als Gruppe splitten und den Schussel seinem Schicksal überlassen oder so lange diskutieren, bis es dunkel wird? Es mag schräg klingen, aber wir mögen solche Situationen. Irgendwas außer der Reihe, das uns in Kontakt mit den Leuten bringt, die sich in den meisten Fällen freuen, helfen zu können. Nach 10 Minuten haben wir einen Taxifahrer aufgetrieben, der uns Jacke und Geldbeutel zu einem fairen Kurs nach Landeck bringt. Geil, wenn ein Problem zur Chance wird, sich gegenseitig zu beweisen, dass man es ohne (weitere) Probleme lösen kann.

Wir feiern die Zwangspause mit noch mehr Kaiserschmarrn und Kaffee, ballern weiter bis nach Scuol und sind schon 10 Euro Roaming-Gebühren los, bevor wir überhaupt gecheckt haben, dass wir in der Schweiz sind. Gnädiger als die Mobilfunk-Mafia ist die Polizei, die uns freundlich darauf hinweist, dass auch eine Baustellenampel eine Ampel ist und nicht bei Rot überfahren werden darf. Vor 20 Jahren haben wir aus Budgetgründen einen großen Bogen um die Schweiz gemacht. Heute blättern wir mit einem Seufzer 135 Euro für 3 Spaghetti Bolognese mit Beilagensalat und Getränk hin und können trotzdem feiern, dass die Spaghetti richtig gut waren.

HL Schlauch 2: Nach dem Regen kommt die Sauna

Tag 3 – 1-fach dumm

Material-Insights, Tuning-Tipps, Equipment – Must haves? Bisher war das alles Wumpe. Den ersten Tag haben wir die Bikes fast ausschließlich getragen, den zweiten sind wir fast komplett auf Asphalt gefahren. Heute trennt sich die Spreu vom Weizen.

Antonio und ich sind 1-fach mit 40–42 unterwegs und hätten Dominik seine 2-fach-Kurbel vor Neid am liebsten aus dem Tretlager gerissen. 5 km auf Schotter bei 10 % Durchschnittssteigung mit Gepäck setzen meiner Begeisterung für 1-fach-Antriebe ein jähes Ende. Entweder ein kleineres Blatt vorne oder ein größeres Ritzel hinten, aber meine Übersetzung ist nicht wirklich Adventure-tauglich. Oder gerade doch? Wie war das mit dem Perfektionismus? Vielleicht gehört es auch einfach mal dazu, sich ohne perfektes Setup dem zu stellen, was der Berg sich ausgedacht hat. Der Frust geht, das Laktat kommt.

Der Weg über den Pass de Costainas und durch das Val Mora ist ein traumhafter Grund, sich ein Gravel-Bike zu kaufen.

Am zweiten Pass treffen wir eine MTB-Truppe, die Jungs und Mädels kurbeln mit hochgebirgstauglicher Untersetzung auf den Gipfel und sehen so frisch aus, als ob sie gerade unserer Coverstory entstiegen wären. Ist es das Alter oder doch das Setup? Wir schwören, es ist Letzteres und versuchen, würdevoll die Krämpfe zu kaschieren.

Wir fühlten uns weniger fertig …
… und sahen weniger fertig aus.

Die Strecke ist ein Traum. Über den Pass de Costainas runter ins Val Müstair, hoch auf den lautmalerisch tiefstapelnden Döss Radond und rein ins spektakuläre Val Mora. Hier ist Gravel geil. Zwischen wilden Pferden fliegen wir durch ein von 3.000ern umrahmtes Hochtal und tasten uns einen gerade noch fahrbaren Trail zum Lago di San Giacomo hinab. Auf dem Weg runter nach Bormio beginnt es wieder zu regnen. Dafür sind wir in Italien und rollen mit beginnender Dämmerung in eine 1.000 Jahre alte Unterkunft. 4. Stock. Kein Aufzug. Jede Menge Stil. Mit letzter Kraft würdigen wir die Grandezza.

Döss Radond heißt der Pass – irgendwie fühlen wir uns auch so, als wir oben stehen.

Tag 4 – 13 % sind … leider steil

Teamsitzung beim Frühstück. Die geplante Route führt über einen Schottertrail auf den Gavia-Pass. Dominik und Antonio tasten diplomatisch ab, ob nicht Straße auch eine Option wäre. Nach der harten Etappe gestern und dem Gleirschjöchl-Fiasko bin ich zu Zugeständnissen bereit. Der Stefan in mir leistet zwar alibimäßig etwas Widerstand, aber als sich Antonios Waden für den Schottertrail erwärmen, wird mir angst und bange und ich schwenke argumentativ auf Asphalt um.

Vor 20 Jahren hätten wir an der Originalroute festgehalten. Ein Abweichen vom Plan wäre für uns ein Scheitern gewesen. Das Auslassen von Herausforderungen hätte das Ankommen geschmälert. Da sind wir heute entspannter. Etwas weniger Anschlag bedeutet im Zweifelsfall noch ein gutes Gespräch mehr, einen Kaffee in einer urigen Bar extra oder einen zusätzlichen Aufguss. Auch ein Strecken-Downgrade kann ein Erfahrungs-Upgrade sein. Hätte Stefan das auch gemacht? Eben. Also alles gut.

Auf den Abfahrten ballern wir nicht mehr wie blöd.

Blöd nur, dass der Gavia-Pass auch ohne Schotter ein fieser Brocken ist. Man wählt schon den einfachen Weg und stellt dann fest, dass er alles andere als einfach ist. Schlecht für den Kopf, schlecht für die Beine. 13 % sind … leider steil. Bei 7 Grad und mal wieder Regen eiern wir gen Passhöhe und Refugio, wundern uns über bayerische Volksmusik, freuen uns über die vielen schönen Rennräder und wärmen uns mit Kräutertee. Den hätte es damals … Ihr wisst schon.

Oben geht Dominik auf Zeitreise. Er trifft seinen alten Sportlehrer. Wahrscheinlich gibt es für einen Sportlehrer nichts Größeres, als einen ehemaligen Schüler 30 Jahre später beim Bikepacking auf dem Gavia-Pass zu sehen. Erfüllt von innerer Wärme treten wir in die Nebelkälte und lassen uns auf der frostigen Abfahrt jeden Hauch von Sentimentalität aus dem Körper prügeln. Etwas lustlos fahren wir danach durch die beeindruckende Hässlichkeit eines Skigebiets im September zum Passo Tonale und suchen sehr gezielt eine Unterkunft mit Sauna.

Tag 5 – Endlich wieder 12

Nur noch kurz hoch nach Madonna di Campiglio, und dann gehts ja bloß noch runter zum Lago. Die Euphorie des letzten Tages ist immer trügerisch. Ich verfalle ihr hemmungslos. Auf der Abfahrt überholt uns ein Roadie. Mein Ehrgeiz ist geweckt. Über 15 km jagen wir hinterher, klemmen uns hinter Autos, schneiden Kreisverkehre. Wir sind wieder 24. Nein, wir sind wieder 12. Dann biegt der Gejagte ab, ohne je mitbekommen zu haben, dass er gejagt wurde. Mein Hammerhead blinkt wild. Wir hätten vor 5 km rechts ab gemusst. Sorry Jungs. Als wir oben auf dem Pass ankommen, sind wir 64.

Wir rollen runter, essen Pizza, trinken Unmengen Limo und lassen uns im Zuckerrausch auf einem Dorffest zu einem Wettbewerb im Baumstammziehen hinreißen. Unsere Performance ist blamabel. Wahrscheinlich haben die Dorfkinder in 1.000 Jahren Dorfgeschichte noch nie eine derart verstörende Darbietung gesehen. Irgendjemand bringt uns 3 Bier und erlöst den Baumstamm aus seinem Elend. Mit Mitte 20 hätten wir entweder die Vermessenheit besessen zu glauben, dass wir den Wettbewerb gewinnen, oder die Angst gehabt, uns krachend zu blamieren. Heute ist es irgendwie egal. Weniger egal ist der gezerrte Rückenmuskel, der mich auch eine Woche später daran erinnern wird, dass Alpencross im Vergleich zu Waldarbeit wahrscheinlich ein ziemlicher Ponyhof ist. Unsere Qual ist Luxus. Das sinnlose Verballern von Energie schon fast dekadent. Darum fühlt es sich wahrscheinlich auch so gut an.

Eher verrottet das Holz, als dass wir den Stamm bewegen. Dafür gibt´s am Ende ein Bierchen.
Wir haben Bären gesehen.

Der Rest ist Rollen. Irgendwann reißt nochmal eine Kette, aber wir sind mittlerweile so gechillt, dass es uns nicht groß überrascht, dass wir das Kettenschloss auf dem Weg wiederfinden und das Problem in 5 Minuten lösen können. Mit jedem Kilometer, der verstreicht, gewinnen wir an Präsenz. Wir gleiten durch die Masse der Tagestourenfahrer, Unaufgeregt, bestimmt und souverän. Wir spüren den See, wir hören die Wellen. Die Räder knirschen auf dem Kies. Wir strecken den Rücken, steigen vom Rad, blicken uns um, blicken uns an – kein Stefan weit und breit. Wir ziehen die Schuhe aus und … Autsch! Der Scheißkies.

Wir sehen uns in 20 Jahren, Lago di Garda. Vielleicht tun dann auch die Steine nicht mehr so weh.

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Text: Nils Hofmeister Fotos: Hendrik Kellner, Dominik Daling, Nils Hofmeister