Müssen Abenteuer und Quality Time zwangsläufig mit hohem Aufwand und langer Vorbereitung verbunden sein? Ist es wirklich so schwierig, dem Alltag zu entfliehen, wenn man nur ein paar Stunden Zeit hat? Unsere US-amerikanischen Freunde haben ein neues Rezept für die lang-vergessene Sorglosigkeit zusammengestellt: den Fondolito.

Eine lockere Vorbereitung und eine amerikanische Zero-Fucks-Given-Haltung sind wie bei jeder Entdeckungstour der Schüssel zum Erfolg. Denn worauf es am Ende ankommt, sind die Stunden, die man mit guten Freunden auf dem Rad verbringt und bei denen man die Energiereserven wieder auflädt. Lasst es locker angehen, und der Rest ergibt sich dann schon von ganz alleine.

Es ist nicht schwer, dem Glauben zu verfallen, dass „richtige“ Touren erst bei 175 km anfangen, und dass alles, was sich zu tun lohnt, ein gewisses Maß an Anstrengung mit sich bringen muss. „Was dich nicht umbringt, macht dich stärker“ und die Vorstellung vom Triumph über alle Widrigkeiten sind fester Bestandteil der Storys, die wir lesen, und der Events, die wir uns in den Kalender eintragen. Aber müssen Abenteuer und Entdeckungstouren immer unseren vollen Einsatz, wahnsinnige Planung und unsere ungeteilte Aufmerksamkeit fordern? Was ist mit der anstrengenden Arbeitswoche und dem Familienleben? Wenn sich unsere Welt noch um ein paar andere Dinge dreht als nur um die Abenteuer auf dem Rad – bleibt uns dann das Beste am Radfahren, nämlich neue Menschen und Orte kennenzulernen, verwehrt? Ist es unmöglich, eine erfrischende Auszeit zu finden, wenn man nur ein paar Stunden zur Verfügung hat?

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An dieser Stelle kommt der Fondolito, der perfekte Kurztrip, ins Spiel. Er definiert sich darüber, was er nicht ist. Er ist kein gehetztes Rennen, für die ihr monatelang trainieren müsst, obwohl ihr durchaus den ganzen Tag fahren könnt. Es gibt keine Startgebühr und keinen Stress. Sucht euch einfach einen Ort auf der Karte aus, packt das Zeug ins Auto, und los geht’s. Hotel oder Campingplatz? Selbst kochen oder essen gehen? Vielleicht ein bisschen von allem. Entscheidend ist, sich nicht zu viele Gedanken und vor allem keine Sorgen um die richtige Vorbereitung zu machen – es sei denn, man möchte eine Antarktis-Expedition fahren.

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Unsere Pläne für dieses Wochenende konzentrierten sich auf eine Gegend, durch die ich bisher oft mit dem Auto gefahren war. Sie liegt zwischen mehreren Nationalparks in den USA und an einer dieser bizarren Kreuzungen mit Kühen, leeren Straßen und charmanten 4-Sterne-Tankstellen mit Supermarkt, wie es sie nur mitten im Nirgendwo, aber an einer vielbefahrenen Strecke zu bekannteren Reisezielen geben kann. Der Ort Boulder in Utah – nicht zu verwechseln mit der Uni-Stadt in Colorado – liegt am nördlichen Ende des Burr-Trails. Er ist der Ausgangspunkt für die Erkundung großer Teile des Grand Staircase Escalante National Monuments und damit Beginn eines riesigen Gebiets, das Bill Clinton 1996 in einer umstrittenen Entscheidung unter Naturschutz stellte. Wütende Öl-Lobbyisten und Vertreter der Kohleindustrie protestierten, hier gäbe es nichts. Glaubt was ihr wollt, aber kommt nicht auf die Idee, hier gäbe es nichts zu sehen!

“Denn worauf es am Ende ankommt. sind die Stunden, die man mit guten Freunden auf dem Rad verbringt.”

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Was Escalante an Linoleum und Parkhäusern fehlt, macht sie an anderer Stelle mehr als wett: Die Ausblicke hier sind grandios und so detailreich, dass man gar nicht anders kann, als einen Gang runterzuschalten und in den Genießermodus zu wechseln. Gerade das Nichts zieht einen hier in seinen Bann und verleitet dazu, innezuhalten: Endlos erscheinende Schotterstraßen durchziehen die unfassbar weite Landschaft, und ein Netz aus Strade Bianche, das es fast mit der Toskana aufnehmen kann, erstreckt sich über die Canyons und Berge bis zum Horizont. Entfernungen werden hier entweder in „genau hier“ oder „verdammt weit weg“ angegeben. Letzteres kann dabei durchaus 100 km entfernt sein, so klar ist hier die Sicht.

Von einem solchen Aussichtspunkt aus wollten wir auch in den ersten Tag unserer Tour starten. Der Plan war es, dem Burr-Trail durch den Capitol Reef National Park zu folgen, dann nach Norden abzubiegen und wieder zurückfahren zu unserem Heim fürs Wochenende, einer günstigen Airbnb-Wohnung in einem winzigen nahegelegenen Städtchen.

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Die geplante Tour war ganz schön ambitioniert und deutlich mehr, als mir lieb war. Aber hey, was sollte es? Um meinen Kollegen machte ich mir keine Sorgen, der schaffte eine solche Distanz mit links. Seine entspannte Art sprang bald auch auf mich über und entfachte eine unbedarfte Vorfreude. Und so zogen wir die Beinlinge aus, die uns gegen die frühmorgendliche Kälte schützten, und rollten los.

Vielleicht war es unvermeidlich, vielleicht auch nicht. So oder so führte eine unglückliche Entscheidung in Sachen Fahrradtransport dazu, dass unsere elektronischen Schaltungen uns nach der Hälfte des ersten asphaltierten Teilstücks hängen ließen. Im Nachhinein muss ich sagen: Man hätte es ahnen können – es ist nicht besonders clever, die Lenker auf dem Fahrradträger mit einem Stück Rohrisolierung dazwischen zusammenzuschnüren. Außer man ist gerade zufällig dabei, die Akkudauer der elektronischen Schaltungen auszutesten. Jedenfalls waren sie von der Abfahrt zu Hause bis zum Abladen der Bikes am nächsten Morgen 16 h lang ununterbrochen in Betrieb. Um’s mal positiv zu sehen: Es war ein wunderbarer Tag für eine Singlespeed-Tour.

Zum Glück ging es bergab, als wir auf die Serpentinen trafen. Doch nicht lange nach der Abfahrt ereilte uns ein Anfall von Selbstzweifeln. Wir stellten unsere geplante Route infrage und mussten einsehen, dass es sinnlos war, daran festzuhalten. Wegen des Mangels an Gängen und der vielen Gravel-Abschnitte würden wir ziemlich viel schieben müssen, was bedeutete, länger zu brauchen und das Tagesziel erst im Dunklen zu erreichen. Ohne uns übermäßig darüber zu ärgern, entschieden wir uns, eine kürzere Route zu nehmen.

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Am Ende ging unsere verkürzte Tour über 120 km mit 2.300 m Anstieg, und es machte uns nichts aus, uns die „große Runde“ für Zeiten aufzuheben, in denen kräftigere Beine und geladene Batterien einen solchen Wahnsinn zu einer realistischen Option machen.

Für den zweiten Tag wollten wir dann eine kleinere Ausfahrt Richtung Escalante unternehmen, eine Stadt im Südwesten von Boulder. Etwas müde und von der Sonne verbrannt, erschien uns die Vorstellung von langen, schnellen Abfahrten attraktiver als jede andere Option – und Hell’s Backbone bot davon eine ganze Menge. Der berühmte, malerische Abschnitt „Hogback“ auf dem Highway 12, über den schon Etappen der Tour of Utah führten, hat ein Alter Ego in Form einer in den 1930ern angelegten, unbefestigten Straße, die auf den über 3.000 m hohen Boulder Mountain hinaufführt. Dass wir nicht einmal in die Nähe des Gipfels kommen würden, war nach ein paar Kilometern bergauf klar, denn Schnee und Matsch machten die Weiterfahrt unmöglich. Doch die neblige, kühle Abfahrt bot eine willkommene Abwechslung zur heißen Wüstenluft des Vortages. Als wir wieder zurück auf dem Asphalt waren, zogen wir unsere Jacken aus, da hier unten die Sonne schon wieder durch den diesigen Dunst hindurch brannte.

“48h im Niemandsland können wunder bewirken und reichen aus, um mit frischen Energiereserven und Erinnerungen in den Montag zu starten.”

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Die Abfahrt zum Escalante River von Calf Creek sollte man im Leben mindestens einmal gefahren sein. Sie ist nicht besonders anspruchsvoll, das Gefälle ist moderat und die Kurven sind weit. Die Landschaft aber sieht aus wie aus einer anderen Welt. Die Straße beginnt auf einem hohen Grat zwischen den beiden Canyons und schneidet sich dann durch urzeitliche Steilwände in nur etwa 8 km bis nach unten zum Fluss hindurch. An diesem Morgen begegneten uns nur ein paar wenige Autos, in krassem Gegensatz zu den Tausenden von Mietwohnmobilen, die hier in der Hauptsaison täglich entlangtuckern. Statt der roten Landschaften des Vortages umgaben uns heute Formationen aus weißem Navajo-Sandstein, und die mehr als beschränkte Gangwahl unserer Bikes „zwang“ uns, etwas langsamer zu fahren als üblich und die Landschaft noch mehr auf uns wirken zu lassen.

Als wir zum gegenüberliegenden Tafelberg hochfuhren, war mein Kollege Jake, dessen Bike in einem etwas kleineren Gang feststeckte als meins, ein paar hundert Meter hinter mir. Normalerweise würde mir diese Art von mechanischem (oder besser gesagt: elektronischem) Problem ziemlich schlechte Laune bereiten, aber die letzten zwei Tage hatte ich es so genossen, hier in die Pedale zu treten, dass ich mir einfach nicht die Laune vermiesen ließ. Als wir oben ankamen, bogen wir in irgendeine unbefestigte Straße ein – getreu unserer Philosophie für dieses Wochenende: „Riding around, checking shit out.“ Einmal mehr wurden wir mit grandiosen Aussichten und noch mehr Sandstein, aber vor allem mit einem perfekten Platz zum Lunch belohnt, bei dem wir unsere Rückfahrt planten.

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Letztendlich sind wir nicht die Strecke gefahren, die wir wollten. Aber da unsere Vorstellungen nicht besonders festgefahren waren, sorgte das nicht für Frust. Stattdessen habe ich eine wertvolle Lektion in Sachen Biketransport und Aufladegerät-Mitbringen gelernt und die noch wichtigere Entdeckung gemacht, dass einem mit der richtigen Einstellung wirklich nichts die Laune vermiesen kann. 48 h im Niemandsland können Wunder bewirken und reichen aus, um mit frischen Energiereserven und Erinnerungen in den Montag zu starten. Und im Laufe der gesamten Woche immer wieder ein verstohlenes Lächeln bzw. breites Grinsen ins Gesicht zu kriegen.

Man sagt ja gerne mal, dass man wieder kommt, wenn man mehr Zeit hat, oder wenn die Beine besser trainiert oder die äußeren Bedingungen besser sind. Aber wahrscheinlich ist es besser, sich einzugestehen, dass man möglicherweise nicht wieder zurückkehrt und deshalb die Zeit, in der man hier ist, einfach nur in vollen Zügen genießen sollte. Unser Fondolito war kurz und schön, teils Desaster, teils großes Kino. Und auch, wenn ich vielleicht nie wieder diese Straßen hier in Boulder fahre werde, könnt ihr sicher sein, dass ich bereits die nächsten Wochenendabenteuer in meinen Kalender kritzle.


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