Es gibt sie noch, die Unternehmen, die ihre Produkte mit Leidenschaft und nach handwerklicher Tradition fertigen und damit voll im Trend liegen. Wir haben eine Zeitreise nach England unternommen und beim Sattelhersteller Brooks viel gelernt über Nachhaltigkeit, Zeitgeist und darüber, was ein Sattel mit einem guten Freund gemeinsam hat.

Ein Besuch bei Brooks ist wie eine Reise in die Vergangenheit. Zunächst. Denn wer vor dem unscheinbaren Gebäude in Smethwick in der Nähe von Birmingham steht, fühlt sich wie Marty McFly ein wenig aus der Zeit gefallen. Die Fabrikhalle wirkt unscheinbar, nur ein paar kleine Etiketten und ein verblichenes großes lassen erkennen, dass in diesem alten Backsteingebäude die legendären Ledersättel von Brooks hergestellt werden. Um es auf den Punkt zu bringen: Von Glamour und Fanciness keine Spur. Und dennoch wird diese Marke von allen gefeiert. Vielleicht, weil sie ganz selbstverständlich und scheinbar mühelos Tradition, Nachhaltigkeit und Handwerk verknüpft? Brooks passt durch ihre Handmade-Sattel zum aktuellen Zeitgeist und steht für Qualität, Langlebigkeit und Reparierbarkeit. Wir wollten beim Fabrikbesuch herausfinden, ob das auch der Realität entspricht.

Green oder Greenwashing? Tradition oder Trend?

Ohne Nachhaltigkeit geht heute gar nichts mehr – zumindest wenn es nach Marketingversprechen und Produktkommunikation geht. Egal ob Mineralölkonzern, Lebensmittel-Start-up oder Luxusautohersteller – fast jedes Unternehmen hat mittlerweile Nachhaltigkeit als Mission für sich entdeckt und will mit Innovations- und Hightech-Versprechen seinen Teil für ein besseres Morgen beitragen. Oftmals sind das leider jedoch mehr Worte als Taten, um das eigene Image aufzupolieren. Irreführung und Greenwashing stehen auf der Tagesordnung. Auf der anderen Seite hat über die letzten Jahre eine Rückbesinnung auf Tradition und Handwerk stattgefunden, die Craft-Kultur ist am Florieren. Während noch vor wenigen Jahren in Deutschland jeden Tag ein Bäcker seinen Laden für immer schließen musste, haben inzwischen trendige Back-Läden mit handgefertigten Broten eine Renaissance erlebt. Tradition wurde wieder zum Trend – und hier kommt Brooks ins Spiel, deren Produktionsstätte in Smethwick immun gegenüber jeglichem Trend- und Greenwashing-Gedanken scheint: Dass man hier nicht dem großen Strom folgt, wurde uns sofort klar – hier wird einfach so gearbeitet, wie schon immer.

Schnelllebigkeit und Wegwerfmentalität

Obwohl Handwerk und Craft-Produkte wieder wertgeschätzt werden, hat sich unsere Erwartungshaltung über die letzten Jahre dennoch stark geändert. Instant Gratification und Smart Convenience sind die Buzzwords der heutigen Wirtschaft – alles muss schnell und immer verfügbar oder möglich sein. Das beginnt bei Flug-Mangos im Supermarkt und endet bei flüchtigen Likes auf Instagram oder schnellen Dates via Tinder. Für echte Vorfreude, Nachhaltigkeit oder Qualität ist da selten Zeit.

Dass früher alles besser war, stimmt natürlich nicht. Dennoch wird heute viel lieber schnell ausgetauscht und neu gekauft, statt sich die Zeit zu nehmen, etwas zu reparieren. Viele Produkte sind heute gar nicht mehr darauf ausgelegt, repariert zu werden. Dabei ist genau das einer der wichtigsten Aspekte moderner Nachhaltigkeit, mit der wir den Ressourcenverbrauch reduzieren können. Damals hieß das übrigens einfach Qualität statt Nachhaltigkeit.

In der Bike-Branche lässt sich dieser Austausch- und Wegwerfprozess natürlich vor allem bei besonders günstigen Produkten wahrnehmen. Die Billigteile kosten wenig und halten nicht lange, sollen sie ja auch nicht. Sie müssen eben über einen gewissen Zeitraum funktionieren und werden im Zweifel ausgetauscht statt repariert. Aber kurioserweise gilt das genauso für das andere Ende der Preisspirale. Viele High-End-Komponenten sind auf maximale Performance statt Haltbarkeit ausgelegt. Im Rennsport müssen sie genau so lange halten und funktionieren, wie das Rennen dauert. In beiden Fällen ist das ein echter Nachhaltigkeits-Fail. Umso erfrischender bzw. erkenntnisreicher war der Firmenbesuch bei Brooks, wo man sieht, dass traditionelle Fertigung und vor allem Fertigungswerte genau das sind, was es heute wieder mehr braucht. Brooks selbst bezeichnet sich als Traditional Manufacturing Company und fertigt seit 1866 ihre Produkte weitgehend von Hand aus langlebigen und sorgfältig ausgesuchten und verarbeiteten Materialien.

Die Produktphilosophie von Brooks: Ein guter Sattel ist wie ein guter Freund

Ein guter Sattel ist wie ein guter Freund: Mit ihm erlebt man viel, aber nach vielen gemeinsamen Stunden kann es anfangen, hier und da etwas zu zwicken. Ein Sattel und eine Freundschaft brauchen Pflege, sonst gehen sie kaputt. Und im besten Fall halten beide ein Leben lang. Die Produktion eines solchen Freundes findet bei Brooks in Smethwick mit vielen fein aufeinander abgestimmten Arbeitsschritten in mehreren Hallen und Abteilungen statt, in die wir Einblicke erhalten durften.

Die Fabrik selbst hat keinen Eingang für Besucher und so befindet man sich, wenn man sich für die falsche Tür entscheidet, schon mitten im Geschehen. Es riecht nach Öl und Leder, es ist brutal laut und ein Haufen Menschen wuseln um die großen Maschinen herum. Hier findet man keine tätowierten Yuppies mit nachhaltig produzierten Shirts, crafted Specialty-Coffee mit Latte Art aus Hafermilch, die davon überzeugt sind, dass sie die Welt retten, während sie auf ihrem neuesten iPhone eine Story nach der anderen auf Insta mit dem Hashtag #sustainable hochladen (Ja, auch wir haben Spiegel). Hier arbeiten Menschen, die ohne Frage zur Working-Class gehören, reale Arbeiter, ohne Tamtam, ohne Attitüde. Steve Green ist einer von ihnen. Er ist der heutige Tour-Guide und UK Sales Manager. Steve arbeitet seit knapp 45 Jahren bei Brooks und hat dort als Junior Buchhalter angefangen. Die Wurzeln gehen tiefer: Auch sein Vater hat schon in der Brooks-Factory gearbeitet.

Bevor es aber losgeht mit der Führung durch die heiligen Hallen, sollte man doch noch einmal kurz dem Begriff und der Bedeutung Nachhaltigkeit nachgehen. Im Prinzip kann sich jedes Unternehmen nachhaltig nennen, ohne dafür einen bestimmten Nachweis erbringen zu müssen. Vom Gefühl her hat Nachhaltigkeit etwas mit Natur zu tun und damit, Ressourcen zu schonen. Das Gefühl trügt dabei auch nicht, denn – auf den Ursprung zurückgeführt – bedeutet Nachhaltigkeit, nur so viel Holz im Wald zu schlagen, wie auch nachwachsen kann. Hans Carl von Carlowitz hat das 1713 in diesem Kontext angewandt und den Begriff manifestiert. Seitdem ist viel passiert, der Terminus Nachhaltigkeit hat sich weiterentwickelt und wurde ausgedehnt.

Der Rundgang durch die Fabrikhalle beginnt bei den größten Maschinen, die aussehen, als hätten sie schon mindestens ein halbes Jahrhundert in den Schrauben und Scharnieren. Tatsächlich wurde ihre älteste Maschine in den 1920er Jahren gebaut. Wenn man vor diesen großen, lauten und stählernen Anlagen steht, dann ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich, was deren Aufgabe ist. Erst wenn am Ende dieses oder jenes metallisch glänzende Teil den Schlund verlässt, ist vorstellbar, wofür es später mal zuständig sein wird. Eine ganze Menge verschiedener kleiner und großer Teile wird so produziert. Es gibt Maschinen für das Sattelgestell, Maschinen für die Federn und selbst für die Herstellung der ikonischen Schlüssel zum Nachspannen des Leders gibt es eine große schnaufende Apparatur. Bei einem Blick über diese schwer arbeitenden, teilweise über 100 Jahre alten Maschinen denkt man unweigerlich an die industrielle Revolution, die von England aus ihren Lauf nahm. Auch der Rest der gesamten Haupthalle wirkt wie aus der Zeit gefallen. Auf jedem Teil haftet irgendeine Art von Patina: sei es auf den alten Produktpostern, auf den Wänden, den Schmiermitteln, die überall herumstehen, oder auf den Holzständern, an denen die fertigen Sättel abhängen.

Alle 28 Arbeiter in der Halle haben unterschiedliche Aufgaben. Je nach Skill-Level wird oft durchgewechselt, damit es nicht langweilig wird. Im Bereich der Lederbearbeitung ist die meiste Erfahrung nötig. Oft arbeiten die Werktätigen schon länger als 10 Jahre bei Brooks und geben mit Begeisterung Auskunft.

In der kleineren Halle nebenan dreht sich fast alles ums Leder. In einer Kühlzelle werden die großen Lederteppiche bei 21 Grad Celsius gelagert. Das Rohmaterial muss erst verschiedene Verfahren durchlaufen, bevor es den Strapazen unzähliger Outdoor-Einflüsse und kleinen wie großen Gesäßen standhalten kann. Am Anfang steht der Zuschnitt, der mithilfe einer großen Stanze vorgenommen wird. Die Lederreste werden zu anderen Brooks-Artikeln weiterverarbeitet oder an weitere lokale Produzenten verkauft. Um das Leder in die geschwungene Form bringen zu können, muss es im Anschluss für 20 bis 40 Minuten in einem großen Bassin mit Wasser baden. Das weiche Leder wird dann in eine Art Form-Presse gesteckt und ist danach als Sattel identifizierbar. Es folgen Prägung, Veredelung, Abschleifen und ganz am Ende der große Backofen für die „Imprägnierung”.

Der nächste Bereich in der Brooks-Factory ist dafür zuständig, alle Teile miteinander zu verbinden. Das sind die einzelnen Parts des Sattelgestells sowie im nächsten Schritt das Aufziehen des Leders. Diese Verfahren sind alle enorm kleinteilig. Es wird gebohrt, geschweißt, geschraubt und gehämmert. Auch das Leder wird an den Seiten noch mal abgehobelt. Nach jedem Schritt denkt man: Okay, jetzt ist das Ding fertig. Aber dann wird der Sattel doch nochmal irgendwo eingespannt und bearbeitet. Insgesamt dauert die Herstellung eines Sattels im Schnitt auch 10 Stunden, mehr als einen ganzen Arbeitstag. Am Ende stehen noch das Eintüten und Einlagern. Trotz des aufwendigen und langwierigen Procederes werden hier pro Tag bis zu 1.000 Sättel hergestellt.

An einem Bereich sind wir bisher immer vorbeigeschlichen. Es handelt sich um die Reparatur-Abteilung. Neu Kaufen ist heutzutage bei vielen Produkten objektiv betrachtet einfacher, schneller und meistens sogar günstiger als Reparieren. Bei Sätteln von Brooks ist das nicht so, wie wir von Steve erfahren können: Je nach Sattel-Modell ist eine Lebenszeit von 40 bis 50 Jahren zu erwarten. Steve empfiehlt, Leder und Gestell alle 6 Monate durch Einfetten und Nachspannen zu behandeln. Wenn doch mal was kaputt gehen sollte, kann ein Sattel in den meisten Fällen in Smethwick repariert werden. Im Schnitt werden 5 Stück pro Woche zur Reparatur geliefert. Das ist natürlich nur der offensichtlichste Hinweis auf die gelebte und unaufgeregte Nachhaltigkeit bei Brooks. Im Prinzip lassen sich beim genauen Hinsehen alle drei Säulen der Nachhaltigkeit bei Brooks erkennen: ökologisches, ökonomisches und soziales Handeln. Sogar die in der Wissenschaft diskutierte vierte Dimension der Nachhaltigkeit, nämlich den Beitrag zur Kultur, bindet Brooks mit ein, sie gehören ohne Zweifel fest zur Fahrradkultur dazu, sogar genreübergreifend.

Unser Besuch bei Brooks hat uns einen Blick zurück in die Zukunft offenbart und gezeigt, dass Nachhaltigkeit keine Errungenschaft unserer heutigen Zeit ist. Vielmehr gibt es traditionelle Prinzipien und Werte, die wir über die letzten Jahrzehnte bei vielen Produkten vergessen haben. Handwerkliche Fertigung, durchdachte Funktionalität, Reparierbarkeit und eine lange Lebensdauer sind heute mehr denn je gefragt. Genau deshalb haben Sättel von Brooks weltweit Kultstatus, vielleicht auch weil sie die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft schlagen.


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Text & Fotos: Martin Staffa