Gravel Earth Series, UCI Gravel World Series oder Steamboat – Gravel-Racing boomt. Was als anarchistische Antithese zum etablierten Road-Racing begann, wird kompetitiver, aber auch konformer und massentauglicher. Wie viel Professionalisierung verträgt der Sport, ohne sich dabei selbst zu verlieren?

Oft ist es das Undefinierte, was uns fasziniert. Ein vergessener Feldweg, ein zugewachsener Trail, eine löchrige Piste. Die Sehnsucht, sich abseits des Asphalts neue Wege und eigene Abenteuer zu suchen, hat die Drop-Bar-Welt in den vergangenen 10 Jahren auf den Kopf gestellt. Mit dem Gravel-Bike ist ein neues Lustobjekt in unsere Fahrrad-Phantasien eingezogen. Graveln ist ein großes Freiheitsversprechen und mittlerweile auch ein großer Sport. Und die schnelle Schwester des Gravelns heißt Gravel-Racing. Die Wurzeln des modernen Gravel-Racings liegen in den USA. Doch mittlerweile locken die Rennen weltweit Tausende von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an.

Raus aus der Nische: Bei Gravel-Rennen wie THE TRAKA stehen heute Tausende von Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Start.
Rein in die Wälder: Dank Formel-1-Fahrer Valtteri Bottas ist Gravel-Racing auch in Finnland angekommen.
Ist das Gravel-Racing auf dem richtigen Weg oder führt der Boom ins Abseits?

Auch mehr und mehr Straßen-, Cyclocross- und MTB-Profis wagen den Sprung in den Staub, neue Teams entstehen und Brands geben bei der Entwicklung des Marktes Vollgas. Mit der Gravel Earth-Series und der UCI Gravel World-Series etablieren sich aktuell zwei ambitionierte Rennserien, die den Hype weiter befeuern.

Doch was machen Performance-Orientierung, Kommerzialisierung und Vermarktung mit dem Charakter des Gravelns? Oder anders gefragt: Wie viel Perfektion verträgt ein Sport, dessen Wurzeln doch eigentlich in der Improvisation liegen?

Nach dem Erfolg unseres Gravel-Race-Bike-Vergleichstests haben wir nicht lange gefackelt, sind selbst an den Start gegangen und sind mitgefahren. Mit unfassbar schönen Menschen im unfassbar schönen Gravel-Mekka Girona. Mit unfassbar schnellen Menschen beim Gravel-Rennen THE TRAKA. Mit den unfassbar erfolgreichen Gründern des Kopenhagener Labels Pas Normal Studios und mit Valtteri Bottas bei der Premiere von FNLD GRVL. Dabei haben wir – wie es sich für einen richtigen Roadie gehört 😂– reichlich Avocado-Toast gegessen, jede Menge Staub geschluckt und ordentlich Flat-White getrunken.

Hipper Gravel-Hot-Spot Girona – hier regiert der Style.
Harter Wettbewerb: Brands kämpfen um Marktanteile.
Harter Wettbewerb: Profis kämpfen um Siege.

Gravel-Racing – Ein vollkommen verstaubter Sport

Mitte der 1950er-Jahre organisierte die englische Rough-Stuff-Fellowship erstmals Ausfahrten ins Ungewisse. Mit dem Stereotyp des heutigen aero-optimierten Gravel-Racers hatten die in Tweed gewandeten Gestalten allerdings wenig zu tun. Im Zentrum standen das Entdecken und das Erleben jenseits von klar definierten Routen und Regeln. Mit Touren-Rädern rumpelten die Damen und Herren ebenso würde- wie stilvoll über miese Matschwege und erfreuten sich an ihrer Extravaganz. Graveln hatte von Anfang an etwas Freies, Unkonventionelles und Antiautoritäres. Es war die bewusste und lustvolle Entscheidung, den Asphalt und seine Konventionen hinter sich zu lassen.

Um die Jahrtausendwende herum versuchten dann Enthusiasten in den USA, die Anarchie der europäischen Frühjahrklassiker auf die vorhandenen Untergründe zu übertragen. Aus Kopfsteinpflaster wurde Hardpack und aus Paris–Roubaix wurde Barry–Roubaix.

Auch die Belgian Waffle Rides gehen auf den Wunsch zurück, die „Unwegbarkeiten“ eines Frühjahrsklassikers in Flandern auf den Schotterpisten Kaliforniens Wirklichkeit werden zu lassen. Einige Teilnehmer schmissen irgendwann, frustriert von den Härten des Kurses, ihre dünnbereiften Rennräder in den Staub und kamen im nächsten Jahr mit breiteren Schlappen zurück. Gravel-Racing war also immer schon fordernd und auch kompetitiv. Es ging dabei jedoch nicht nur um schnelle Beine, sondern auch um die mentale Ausdauer. Frustrationstoleranz, Improvisationstalent und Ambiguitätstoleranz (die Fähigkeit, Vieldeutigkeit und Unsicherheit zur Kenntnis zu nehmen und ertragen zu können) waren unverzichtbarer Teil des Skillsets. Gravel-Racing war Adventure-Racing.

Hartes Rennen oder großes Abenteuer? Nach ein paar Hundert Kilometern weicht der Ehrgeiz dem Überlebenstrieb.

An keinem Rennen lässt sich die Entwicklung des Gravel-Racings besser nachvollziehen als am UNBOUND. Das heutige Mega-Event lockte 2006 als Dirty Kanza gerade einmal eine Handvoll Bastler und Abenteurerinnen in den mittleren Westen. Heute ballern über 4.000 Fahrerinnen und Fahrer auf ruppigen Farm Tracks durch die Flint Hills und haben das Kleinstädchen Emporia zum Epizentrum des globalen Gravel-Racings gemacht. UNBOUND ist DIE Ikone des Gravel-Racings. Ein Sieg hier kann eine Karriere verändern. Es geht nicht mehr nur um Spaß. Sondern auch um Geld. UNBOUND ist eine ernste Sache geworden. Dementsprechend hart wird gefahren und dementsprechend hart wird diskutiert. Wie viel Abenteuer und Improvisation kann noch in einem solchen Rennen stecken?

Die 2023er-Ausgabe war geprägt von heftigem Regen, der Teile der Dirt Roads in materialmordende Matsch-Passagen verwandelte. Abgerissene Umwerfer, malträtierte Rahmen und eine hohe Ausfallquote ließen den Ruf nach einer Entschärfung der Strecke aufkommen. Ist das noch Gravel-Racing? Oder ist gerade das Gravel-Racing?

Kimo Seymour, der Vizepräsident der Dachorganisation von UNBOUND, hat sich hierzu klar positioniert und an die Wurzeln des Events erinnert.

„Der Ethos dieser Veranstaltung besteht darin, dass sie immer eine Abenteuerfahrt war, die sich jetzt in ein Abenteuerrennen verwandelt hat.“

Wem UNBOUND heute schon zu viel Rennen und zu wenig Abenteuer ist, der findet bei mehrtägigen Gravel-Adventure-Races wie dem Silk Road Mountain Race oder dem Atlas Mountain Race noch die Unberechenbarkeit, die den Nährboden für große Emotionen und epische Geschichten bietet.

Doch wie viel Unberechenbarkeit ist noch möglich, wenn sich der Sport weiter professionalisiert, Fahrerinnen und Fahrer um steigende Preisgelder kämpfen, Events um mediale Aufmerksamkeit buhlen und Veranstalter um Sponsoren? Ein professioneller Sport braucht Bedingungen, die Leistungen vergleichbar machen und Ausfälle minimieren. Der Trend geht also weg vom abenteuerbehafteten Gravel-Spirit hin zum altbekannten Leistungsgedanken.

In Girona ist der Bike-Tourismus fest im Stadtbild verankert.

Graveln in Girona – Welcome to Graveldise!

Wer in Europa das große Gravel-Abenteuer sucht, der landet wahrscheinlich irgendwann beim THE TRAKA in Girona – und wer in Girona landet, der staunt erstmal. Gebräunte Beine formen sich in bordeaux-farbenen Bibs zu potenten Gesamtkunstwerken und treiben leichtgewichtige Custom-Laufradsätze durch die pittoreske Altstadt. Dort buhlen stilsicher designte Cycling-Cafés mit ebenso pittoresken Breakfast Bowls um die Gunst von Influencern, und edle Boutiquen heben das Thema Bike-Couture auf ein neues Ästhetik- und Preislevel.

Der Aufstieg Gironas zur europäischen Bike-Metropole begann, als Road-Pros die Stadt mit den perfekten Klima- und Trainingsbedingungen zu ihrem Lebensmittelpunkt machten. Ein Teil des Profi-Pelotons ist mittlerweile nach Andorra weitergezogen und hat Platz geschaffen für ein neues touristisches Standbein: Gravel.

Von der anarchistischen Aufmüpfigkeit und dem Nonkonformismus, die das Graveln groß gemacht haben, ist hier jedoch nichts mehr zu sehen. Girona ist Perfektion vom ersten Gravel-Kilometer bis zum letzten Basilikum-Minz-Eis. Verdammt lecker, aber auch ein bisschen rundgelutscht.

Bei Rennen wie THE TRAKA stehen heute auch Frauenteams am Start.
Die Cycle-Cafés in Girona sind legendär …
… ebenso wie die abendliche Atmosphäre in der Altstadt.
Zu viel Perfektion macht müde. Gravel-Racing ist mittlerweile massenkompatibel.

THE TRAKA – Der europäische Gravel-Thron steht in Girona

Einmal im Jahr wird Girona zur Bühne für das größte europäische Gravel-Festival. THE TRAKA lockte 2023 über 2.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer an, die auf Strecken zwischen 50 und 360 Kilometern Länge die traumhaften Trails zwischen Pyrenäen-Ausläufern und Costa Brava unter die profilierten Pneus nehmen.

THE TRAKA ist Teil der Gravel Earth Series. Die Serie ist ein Zusammenschluss acht sehr unterschiedlicher Events. Von einem Etappenrennen in Kenia, über einen Dayride durch die spektakuläre isländische Vulkanlandschaft, bis hin zu einer Sternfahrt zu 8 Schweizer Berggipfeln – es geht darum, Gravel in all seinen Facetten zu erfahren. Worum es auf den ersten Blick nicht geht, ist kompetitives Gravel-Racing. Stattdessen vermittelt die Serie einen respektvollen Umgang mit der Natur und propagiert in ihrem Kodex Hilfsbereitschaft unter den Teilnehmenden.

THE TRAKA ist das größte europäische Gravel-Event. Auf 4 Strecken zwischen 50 und 360 km lassen die meisten es hier richtig krachen.

Wer will, kann bei der Anmeldung auf das obligatorische Event-T-Shirt verzichten und stattdessen einen Baum pflanzen lassen, und im Ziel bekommt man einen für die Ewigkeit gemachten Metallbecher ausgehändigt, den man sich mit Getränke-Highlights wie frisch-gepresstem O-Saft befüllen lassen kann. Wer rund um THE TRAKA in Girona unterwegs ist, bekommt irgendwie das Gefühl, dass sich auf und mit dem Gravel-Bike so ziemlich alle Probleme der Welt lösen lassen.

THE TRAKA: zwischen hartem Racing …
… epischem Abenteuer …
… und fetter Party.

Doch der Weg zu O-Saft und Weltrettung ist lang und schottrig. Dafür wird er verdammt schnell absolviert. THE TRAKA ist, zumindest auf der 200-km-Route, ein knüppelhartes Rennen. Am Start liegt die Rasierte-Beine-Quote bei gefühlten 95%, und laute Bombast-Mucke, hektisches Pedal-Klicken und nervöses Garmin-Fiepen treiben schon im Stand den Puls nach oben. Die ersten Steigungen zerlegen das Feld in kleine Gruppen, die später um jedes Watt Windschatten feilschend über die Gravel-Autobahnen ballern, und erst der Hauptanstieg des Tages nach 120 Kilometern macht aus verbissenen Gravel-Racern wieder freundliche Bike-Packer.

An den Tagen vor dem Rennen werden fleißig Kohlenhydrate gebunkert, Ernährungspläne ausgetüftelt und das Bike-Setup optimiert. Für die meisten hier geht es um mehr als Ankommen. Es geht um die eigenen Grenzen, es geht um den maximal möglichen Erfolg. So ganz anders als bei einem klassischen Radmarathon durch die Alpen ist das nicht.

Dafür sehen die Menschen anders aus. Hier gibt es keine grellen Teamtrikots aus den späten 90ern, keine mit grenzwertigen Motivationssprüchen beflockten Leibchen, keine Jerseys lokaler Radsportvereine. Stattdessen sieht man überall unfassbar geschmackvoll zusammengestellte Kits in erdigen Pastelltönen und Typen, die wirken, als ob sie gerade einem Instagram-Account entstiegen wären – und man sieht Pas Normal Studios.

From dawn till dusk: Wer die 360 km bei Tageslicht absolvieren möchte, muss Gas geben.

Wohin führt der Schotterweg – Gravel ist eine Goldgrube

Pas Normal Studios – Das Kit, das die Community zusammenhält, oder Uniformismus für ehemalige Freigeister?

Das Label aus Kopenhagen ist so etwas wie das Girona der Bike-Bekleidungsbranche. Der Aufstieg verlief kometenhaft, und das Thema Gravel ist längst ein Schwerpunkt im edlen Portfolio der Dänen. Wir treffen die Gründer Peter und Karl-Oskar am Tag vor dem Rennen. Dass sie dabei selbst am Start stehen, ist ebenso selbsterklärend wie das Design der Kollektionen. Pas Normal Studios setzt auf schlichte, geradlinige Kits mit minimalistischer Typographie. Das Design hat die Marke auf der Straße groß gemacht, und wenn man sich in Girona umschaut, wird man das Gefühl nicht los, dass der Pas Normal-Look auch stilprägend für das ästhetische Empfinden der globalen Gravel-Community ist.

Der Pas Normal Studios-Look ist stilbildend für die Gravel-Community in Girona.

Diese Entwicklung ist zugleich interessant und kurios. PNS hat es als Marke geschafft, ihre Produkte zu transzendieren. Ästhetisch sind die Kopenhagener taktgebend, man will die Marke tragen und dazugehören – ganz gleich, ob die Bib oder das Trikot nun technologisch und funktional besser ist als seine Mitbewerber oder nicht. Der Style zählt. Girona liefert hierfür das perfekte Setting. Zwischen Flat-White und Avo-Toast multipliziert eine Instagram-inspirierte Generation von Dropbar-Ridern tausendfach den gleichen Look. Wir gehören selbst dazu, aber dennoch wirft diese Entwicklung Fragen auf: Braucht Gravel einen einheitlichen Look? Oder stirbt mit dem wachsenden Uniformismus auch der wilde Gravel-Spirit?

Dass die Skandinavier abseits der Straße ein enormes Potenzial sehen, wird deutlich, wenn man sich das Gravel-Engagement der Marke anschaut. Die Dänen sind nicht nur einer der Hauptsponsoren von THE TRAKA, sondern auch Partner der UCI Gravel World Series. UCI und Gravel? Ja, richtig gehört. Bei eingefleischten Gravelistas rollen sich bei dem Gedanken, dass der oft kritisierte Weltverband eine eigene Weltcup-Serie ins Leben ruft, wahrscheinlich die Fußnägel hoch. Pas Normal Studios geht sogar noch einen Schritt weiter und hat gleich die Siegertrikots der Serie gestaltet. Überhaupt ist Mitgestalten ein entscheidendes Thema für die Jungs und Mädels aus Kopenhagen. Anders als im hart umkämpften Road-Bereich ist es in der noch jungen Gravel-Welt leichter, eigene Vorstellungen einzubringen und als Marke sichtbar zu sein.

Für Pas Normal-Co-Gründer und Creative Director Karl-Oskar Olsen bieten sich abseits der Straße neue Wachstumschancen.
Mit den UCI Gravel World Series-Siegertrikots, erklimmt PNS den Gravel-Thron.

Dazu unterstützt Pas Normal Studios auch Gravel-Teams. Eines davon ist das ENOUGH CYCLING COLLECTIVE. Der Gedanke an Teams und Gravel-Racing ist erstmal gewöhnungsbedürftig. Denn bisher war Graveln eine Individualsportart. Doch mit der zunehmenden ökonomischen Relevanz und der Professionalisierung steigt auch der Erfolgsdruck – und hier kann es irgendwann Sinn machen, von Teamkollegen Windschatten, Wasser oder ein neues Laufrad zu bekommen. Das ist jedoch nicht die Idee hinter ENOUGH CYCLING.

Das ENOUGH CYCLING COLLECTIVE definiert sich nur am Rand über Siege und Platzierungen. In dem Manifest des Teams geht es viel um gemeinsames Erleben und gegenseitiges Inspirieren. Und es geht um Glück. Wer aber die Unbeschwertheit und Freude, die das Team auf seinen Social-Media-Kanälen vermittelt, mit Ambitionslosigkeit verwechselt, der hat sich getäuscht. Hier wird mit hohem Anspruch Rad gefahren, trainiert und auch gelitten. Doch anders als in Pro-Road-Teams findet all das nicht in einer abgeschlossenen Bubble statt, sondern im Herzen der Community.

ENOUGH CYCLING COLLECTIVE-Fahrer Mattia de Marchi kann verdammt schnell radfahren …
… und dabei verdammt enstpannt rüberkommen.

Der Charakter von ENOUGH CYCLING lässt sich vielleicht am besten erfassen, wenn man den Fahrer Mattia de Marchi durch sein THE TRAKA-Wochenende begleitet.
Am Samstag gewinnt der ehemalige Profi zum dritten Mal in Folge das Rennen über 360 Kilometer, am Sonntagmorgen wechselt er für seine Teamkollegen Reifen. Am Sonntagmittag finisht er das 100-km-Rennen in den Top 10. Am Sonntagnachmittag steht er mit einem Bier in der Hand auf einer After-Party. Alles entspannt, alles in Echtzeit auf Instagram.

ENOUGH CYCLING ist Gravel-Team und Content-Maschine gleichzeitig. Dem Team gelingt der Spagat zwischen Leistung, Leichtigkeit und Happiness. Für Pas Normal Studios sind die Fahrerinnen und Fahrer dadurch perfekte Markenbotschafter. Graveln als Glücksgarantie.

FNLD GRVL– Schotter, See und Sauna

Auch Amy Charity sieht ziemlich glücklich aus, als sie im Licht des endlosen Mittsommerabends auf die Premiere von FNLD GRVL zurückblickt. Aus dem Stand hat das Team um Amy, Canyon-SRAM-Fahrerin Tiffany Cromwell und Finnlands Formel-1-Ikone Valtteri Bottas es geschafft, über 1.000 Teilnehmende in die Wälder Lahtis zu locken. Amy ist in der Gravel-Szene allerdings keine Unbekannte.

Das Rennen rund ums finnische Lahti endet standesgemäß an der Skischanze – zum Glück mussten wir da nicht rauf.
Wer vorne fährt, sieht mehr von der grandiosen Strecke.
Perfekte Temperaturen bei der Premiere des Rennens.

Mit dem Steamboat Race hat sie eines der angesagtesten Gravel-Rennen der USA an den Start gebracht. Steamboat eilt der Ruf voraus, Gravel-Racing mit Good-Vibes und Festival-Flair zu verbinden. Dazu gibt es für Gravel-Standards hohe Preisgelder zu gewinnen. In Lahti stehen aber auch Menschen am Start, denen es weder um Vibes noch um Preisgelder geht. Für einige ist FNLD GRVL schlicht der Erstkontakt mit dem Thema Bike-Racing. Die Einstiegs-Distanz von 40 km und ein Höhenprofil, das ohne die ganz bösen Zacken auskommt, machen’s möglich.

Doch bei aller Entspanntheit. FNLD GRVL ist eines der schnellsten Gravel-Rennen, die man finden kann. Zwar haben es Valtteri und Co. geschafft, jeden Höhenmeter aus der eigentlich flachen Landschaft rauszukitzeln, aber der Kurs hat Flow und auf den Abfahrten lässt sich der Speed mitnehmen.

Laut Valtteri sind die Tracks rund um Lahti die „Happiest Gravel Roads“ der Welt in einem der glücklichsten Länder der Welt. Bei so viel Glück fühle ich mich schon fast schlecht, als ich innerlich die ersten 10 welligen Kilometer des 177-km-Hauptevents verfluche. Auf beeindruckend steilen Langlaufstrecken geht es rund um die Skisprungschanze und dann raus in die Wälder. Dort steigt dann auch mein Glückslevel, und spätestens bei den ersten roten Bilderbuch-Bauernhäusern inmitten lupinen-blauer Felder muss ich grinsen. Aber nur kurz. Denn dann fliegt mir eine Fliege in den Rachen.

Selbst der schönste Wald schützt nicht vor Laktat in den Beinen.
Der nächste See ist nie weit weg.
Rote Holzhäuser, blaue Lupinen: Die Landschaft sieht aus wie im Bilderbuch.
Egal, wann man beim FNLD GRVL ins Ziel kommt – wahrscheinlich ist es noch hell.

Den Macherinnen und Macher von Steamboat ist es wichtig, die Spielregeln bei ihren Events selbst zu bestimmen. Sie haben sich daher bewusst dagegen entschieden, mit ihren Events unter das Dach der UCI Gravel World Series zu schlüpfen. So starten die Pro-Rider hier weiterhin zusammen mit allen anderen in einem Block, dennoch gibt es Preisgelder. Gerade letzteres wird durchaus kontrovers diskutiert. Auf den ersten Blick passt die monetäre Incentivierung eher nicht zum Steamboat Festival-Charakter. Doch Amy sieht genau in der finanziellen Würdigung starker sportlicher Leistungen eine Chance, den Sport nach vorne zu bringen.

Mich bringt nach 100 Kilometern nur noch ein beherzter Griff in die mit Lakritz gefüllte Top-Tube-Tasche nach vorne. Ich finde ein gnädiges Hinterrad und tausche für ein paar Kilometer den Blick auf die Lichtspiele in den Kiefernwäldern gegen den Fokus auf einen 40-mm-Mixed-Profil-Pneu, der mir beharrlich Staub ins Gesicht schaufelt.

Von Hardpack über tiefen Schotter, Sand, Waldwege und gemähte Trails durch saftig grüne Wiesen bietet FNLD GRVL so ziemlich alles, was das Gravel-Herz begehrt. Die Route ist perfekt beschildert, Straßenquerungen sind von Freiwilligen abgesichert und die Locals an der Strecke scheinen sich wirklich zu freuen, dass so viele Menschen den Weg in Ihre Wälder gefunden haben.

Bei aller finnischen Entspanntheit – FNLD GRVL macht schon auf den ersten 10 km deutlich, dass es ein Rennen ist.
Nur echt mit Formel-1-Fahrer am Start – FNLD GRVL ist Teil der amerikanischen Steamboat-Serie und geht auf die Gravel-Leidenschaft von Valtteri Bottas zurück.
Tausche Gravel-Bike gegen Pisten-Bully. FNLD GRVL geht am Ende ordentlich in die Beine.
Die Organisation hat wirklich jeden Höhenmeter aus der sonst eher flachen Landschaft rausgekitzelt.

Wenn es nach Amy geht, ist FNLD GRVL erst der Beginn einer Reihe von europäischen Steamboat-Events. Gravel-Racing ist nicht nur für Bike- und Apparel-Brands zum Eckpfeiler ihrer Portfolios geworden, sondern auch für Veranstalter. Gravel-Races kommen weitestgehend ohne den bürokratischen Albtraum von Straßensperrungen und Ampel-Deaktivierungen aus und bieten Tourismusverbänden die Chance, ihre Region als Gravel-Mekka zu positionieren. Für eine Wintersportdestination wie Lahti ist das doppelt interessant. Einerseits wird teils die herausragende Langlauf-Infrastruktur in die Routenführung eingebunden und andererseits werden die Hotelkapazitäten auch im Sommer genutzt.

Auch ich freue mich auf Hotel und Dusche, als ich auf die finalen 10 km einbiege, dem Fotograf an der letzten Rampe noch ein paar Impressionen epischen Leidens liefere und schließlich am Fuße der Skisprunganlage ins Ziel rolle. Doch natürlich endet ein Gravel-Rennen in Finnland nicht unter einem Ziel-Banner. Es endet in einer Sauna. Zwischen Foodtrucks, Livemusik und den kreischenden Möwen steht eine buchenholz-befeuerte Schwitzhütte und lädt zur Reflektion ein.

So endet ein Race-Day in Finnland: Mittsommer, Sauna und See.

Fazit

Gravel ist heute Sport und Lebenseinstellung zugleich. Und auch Gravel-Racing möchte mehr sein als ein Wettbewerb. Es geht um Sinn. Es geht um Werte und es geht um Glück. Doch Gravel-Racing ist zu groß geworden, um glaubhaft zu vermitteln, dass es nur ein großer Spaß ist. Die Gravel-Pros starten bei vielen Events mittlerweile in eigenen Startblöcken und werden auf der Jagd nach steigenden Preisgeldern von eigenen Crews und bald vielleicht auch von eigenen Teams unterstützt. Die großen Brands haben es geschafft, den Nonkonformismus in Markentreue zu verwandeln und ehemalige Freigeister treten zu Tausenden in uniformen Kits bei weltweiten Mega-Events an. Noch macht es richtig Bock, auf dieser Welle mitzuschwimmen. Doch je höher die Welle, desto größer ist auch die Chance, dass sie bricht.


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Text: Nils Hofmeister Fotos: Nils Hofmeister, Guillem Casanova, Jordi Isasa, Marc Rius, Oriol Batista, Orial Gonzalvo, Sixt Visuals, Roger Salanova, Wil Ohmann, FNLD GRVL, THE TRAKA, Felusch