Porsche 911, Mercedes AMG GT, Audi R8 – nein, wir sind nicht auf dem Nürburgring, sondern im Stuttgarter Feierabendverkehr. Supersportler gehören hier zum Straßenbild. Deshalb waren wir mit dem Wilier Cento10NDR pendeln und haben herausgefunden, ob das ACTIFLEX-System den Italian Stallion zum Super-Commuter macht.

Wilier Cento10NDR | 7,88 kg | 9.700 €

Wilier will mit dem Cento10NDR die perfekte Balance zwischen Performance und Komfort gefunden haben. Dank ausdauerorientierter Geometrie und dem ACTIFLEX-System soll man schneller und weiter fahren können. Die Aero-Rahmenformen des Vorgängermodells, eine Endurance-Geometrie und das eigens entwickelte ACTIFLEX-System – ist das der Stoff, aus dem Commuter-Träume gemacht sind? Das Wilier Cento10NDR ist von Haus aus natürlich nicht als Commuter konzipiert. Die Italiener präsentieren das Rad als Racebike mit Endurance-Charakter, das sowohl pfeilschnell als auch komfortabel sein soll. Ein interessanter Pitch, der wie für unsere Fahrten zur Arbeit und nach Hause gemacht zu sein scheint.

Was ist überhaupt Commuting?

Jeder Alltagspendler hat seine eigenen Gewohnheiten. Manche möchten ohne zu schwitzen an der Arbeit ankommen und setzen auf Endurance-Bikes oder Rennräder mit E-Unterstützung. Andere bringen auf dem Weg zur Arbeit schon die erste Trainingseinheit hinter sich. Für uns ist es Letzteres. Wir wollen nicht nur den zähflüssigen Verkehr überholen, sondern auch in Richtung Büro racen, auch wenn man mit Rucksack und Wechselsachen unterwegs ist und die eine oder Gravel-Abkürzung genauso wenig scheut wie Vollgas-Abfahrt auf sanierungsbedürftigen Straßen. Dafür braucht es ein waschechtes Racebike, welches das Thema Komfort nicht gänzlich außer Acht lässt – das perfekte Testumfeld für das Wilier Cento10NDR.

  Zwischen S-Bahn und S-Klasse schlägt die Stunde der Urban Cowboys.

Wilier Cento10NDR im Detail

Das Thema Komfort ist schon längst inmitten der Rennradgemeinschaft angekommen. So finden sich beispielsweise auch an Bikes wie dem Trek Domane SLR mit IsoSpeed und dem Pinarello K10S mit dem Dämpfer Elemente, die einen komfortorientierten Ansatz am Racebike repräsentieren. Wilier versteht Komfort dabei als Bike-Attribut, das dem Fahrer erlauben soll, nicht nur länger, sondern auch schneller zu fahren. Deshalb kommt das selbstentwickelte ACTIFLEX-System am Cento10NDR zum Einsatz. ACTIFLEX besteht aus wenigen simplen Teilen und soll dadurch auch kein erhebliches Mehrgewicht mit sich bringen. Ein beweglicher Aluminium-Link verbindet die Sitzstreben mit dem Sitzrohr. Der darin eingesetzte Elastomer aus Techno-Polymer soll die Bewegungen des hinteren Rahmendreiecks dämpfen und Schlaglöchern den Schrecken nehmen. Dabei stehen drei verschiedene Härtegrade des Elastomers zur Auswahl, wodurch unterschiedlich schwere Fahrer die Dämpfung an die persönlichen Bedürfnisse anpassen können.

Antrieb: Shimano Dura-Ace Di2 R9150 /
Bremsen: Shimano Dura-Ace R9110, 160/140 mm /
Übersetzung: Kettenblätter: 50/34 Kassette: 11–28T /
Laufradsatz: Mavic Cosmic Pro Carbon UST /
Reifen: Mavic Yksion Pro UST, 700 x 28 mm

Aber auch sonst will Wilier dem Kunden ein Maximum an Personalisierung bieten. Selbst wenn es eine gute Idee zu sein scheint, den Rahmen mithilfe der Dual Brake-Technologie sowohl für Scheiben- als auch für Felgenbremsen kompatibel zu machen, wollen die Montagemöglichkeiten der Rimbrakes an Sitzstreben und Gabel nicht ganz in das sonst so cleane und formschöne Gesamtbild passen. Alle traditionellen Racer, deren Herz noch für Felgenbremsen schlägt, sollten jedoch dank dieses Features für die Disc-Revolution gewappnet sein. Wer sich hingegen für Discs entscheidet, kann sich nicht nur über mehr Bremsperformance freuen, sondern auch bis zu 32 mm breite Reifen und Laufräder mit Steckachse montieren. Felgenbrems-Fans können dank der austauschbaren Dropouts auch weiterhin 9-mm-Schnellspanner verwenden und somit auf Laufräder aus der eigenen Sammlung zurückgreifen.

Das ACTIFLEX-System wird mit 3 unterschiedlich harten Elastomeren angeboten
Die Ausfallenden sind austauschbar. Somit lassen sich Laufräder mit 9 mm Schnellspanner oder 12 mm Thru-Axle verbauen.
Dual Brake-Technologie zur Montage von Felgenbremsen

In Sachen Geometrie setzt Wilier auf kompaktere Abmessungen. So beträgt der Reach in Größe L kompakte 384 mm bei einem recht entspannten Stack von 586 mm und einem 177 mm langen Steuerrohr. Der Fahrer soll bequemer auf dem Rad sitzen und frei von Nacken- oder Rückenschmerzen Gas geben können.

Wilier Cento10NDR Geometrie

Größe XS S M L XL XXL
Oberrohr 517 mm 532 mm 547 mm 558 mm 574 mm 592 mm
Kettenstreben 406 mm 406 mm 408 mm 408 mm 411 mm 411 mm
Lenkwinkel 71° 71,5° 72° 72,5° 72,5° 72,5°
Steuerrohr 117 mm 136 mm 157 mm 177 mm 196 mm 217 mm
Sitzwinkel 74,5° 74° 73,5° 73,5° 73° 72,5°
Reach 369 mm 374 mm 379 mm 384 mm 389 mm 395 mm
Stack 527 mm 546 mm 566 mm 586 mm 604 mm 625 mm

Das Thema Integration spielt beim Cento10NDR eine zentrale Rolle. Um dem Kunden bei seinem Bike-Fitting möglichst freie Hand zu lassen, verzichtet Wilier auf das einteilige Alabarda-Cockpit, wie es am Cento10AIR verbaut ist, und montiert stattdessen einen hauseigenen Carbonvorbau und -lenker. Sämtliche Züge bzw. Hydraulikleitungen und Di2-Kabel bleiben dabei intern verlegt. Bei Bedarf können herkömmliche Lenker nachgerüstet werden. Auch die Ritchey Pro Carbon-Sattelstütze im Standardmaß 27,2 mm lässt Spielraum zur Personalisierung nach dem Kauf.

Da die Di2-Kabel und Bremsleitungen durch Lenker und Vorbau verlaufen, sind die Spacer nach hinten geöffnet. Die Höhenverstellung des Vorbaus soll damit einfacher sein.
Aufgeräumt: Die Junction-Box der Dura-Ace-Di2-Schaltgruppe ist in das Lenkerende integriert

Das Wilier Cento10NDR auf den Straßen rund um Stuttgart

Im Antritt entwickelt das Wilier guten Vortrieb und beschleunigt dank des steifen Tretlager- und Steuerrohrbereichs spritzig. Dabei schluckt das ACTIFLEX-System die Pedalkraft nicht weg und bleibt auch im Wiegetritt angenehm im Hintergrund. Die spritzige Art des Rahmens sorgt dafür, dass der Ampelsprint lediglich mit leichteren Laufrädern und mehr Zug auf der Kette noch schneller gelingen würde. Ist die Reisegeschwindigkeit erreicht, spielen der effiziente Rahmen und vor allem das ACTIFLEX-System ihre Stärken aus: Während im kraftvollen Pedalieren im Sattel viel Gewicht auf dem Hinterrad lastet, sorgt der „Federweg“ des Hinterbaus dafür, dass Vibrationen und kleinere Schläge den Tritt des Fahrers nicht aus dem Rhythmus bringen. Einzig bei größeren Kompressionen wirkt die Nachgiebigkeit der Carbonsattelstütze in Kombination mit der Dämpfung des Hinterbaus wie ein Durchschlag des Reifens bis auf die Felge. Während die Sattelstütze langsam mit der Pedalbewegung geht, lässt uns das schnellere Nachgeben des Hinterbaus öfter nach hinten schauen, um zu checken, ob denn noch genügend Luft auf dem Reifen ist. Hat man sich jedoch einmal daran gewöhnt, lernt man die Vorzüge des Rahmens schätzen und kann die Entlastung der Nacken- und Rückenmuskulatur genießen, während man sich gänzlich auf den runden Tritt fokussiert.

Die kompakt-aufrechte Sitzposition profitiert von der relativ hohen Front. Im Zusammenspiel mit dem recht steilen 72,5°-Lenkwinkel reagiert die Front direkt. Verbleibt man im Sattel, ergibt sich ein harmonisches und gutmütiges Lenkverhalten. In dieser Fahrerposition bedarf es Nachdruck, um enge Kurven carven zu können. Wechselt die Gewichtsverteilung des Fahrers jedoch mehr in Richtung Vorderrad, wie beispielsweise beim Wiegetritt oder bei aggressiven Abfahrten, müssen Lenkimpulse dosierter gegeben werden, um das Rad nicht überreagieren zu lassen. Hier wird deutlich, wie Wilier Race- und Endurance-Gene in das Cento10NDR verpflanzt hat.

Im Grenzbereich schneller Abfahrten verhält sich das Wilier berechenbar. Vor allem die kraftvollen und hydraulischen Dura-Ace-Bremsen motivieren dazu, später und härter zu bremsen. Auf unserem Stadt-zu-Stadt-Rennen konnten wir auch die 140 mm kleine Bremsscheibe am Heck nicht ans Limit bringen. Die Downhillperformance ist gutmütig – hier zeigt das Rad wenig Temperament und lässt sich berechenbar um Kurven zirkeln. Leider können uns die Mavic Yksion Pro mit ihrem relativ schmalen Grenzbereich auch in 28 mm Breite nicht überzeugen. Die Stärken des Wilier liegen klar im kraftvollen Highspeed-Tritt auf anspruchsvollen, ebenen Straßen und in Anstiegen mit einstelligen Steigungsgraden. Wird es einmal richtig steil, fehlt dem Bike mit 7,88 kg in Größe L die nötige Leichtfüßigkeit, um als Supersportler jeden KOM zu jagen.

Egal ob am Arbeitsplatz oder beim Warten an der Ampel – es ist überall das Gleiche: staunende und verlegen-neidische Blicke. Die harmonische Formsprache überzeugt ungestört von jeglichen Bremsleitungen oder Schaltungskabeln und balanciert ausgeklügelt zwischen kantigen und runden Rohr-Shapes. So sticht das Design aus der Masse heraus, ohne zu polarisieren. Bella Italia auf zwei Rädern – genau das Richtige für alle Urban Cowboys mit dem nötigen Kleingeld. Natürlich glänzt das Bike nicht nur im urbanen Raum, sondern bietet gleichermaßen eine Bereicherung auf den langen Etappen aller Weekend-Warrior. Mit 9.700 € ist das Cento10NDR ähnlich bepreist wie italienische Sportwagen. Angesichts der durchdachten Lösungen, des erstklassigen Ausstattungspakets und der Raceperformance mit innovativem Komfortbonus geht dieser Preis aber in Ordnung.

Fazit

Das Wilier Cento10NDR garantiert Geschwindigkeit durch Compliance und nicht durch geringes Gewicht oder pure Aerodynamik. Am Ende ist es die Summe aller Features, die das Konzept aufgehen lässt: ein Rad für jeden Tag und jeden Straßenbelag. So ist das komfortable Racebike genauso prädestiniert für das Gran Fondo am Samstag wie für den langen Ausdauer-Ride am Sonntag. Für die Gravel-Abkürzung ist das Cento10NDR lediglich bedingt geeignet. Ab Montag werden alle Work-Day-Heroes auf dem Wilier ins Büro katapultiert. Kette rechts, Blinker links – der Commuter-Cup ist eröffnet!

Stärken

– ACTIFLEX-System
– Cockpit
– Individualisierbarkeit bei hoher Integration
– sexy Optik

Schwächen

– Bremsaufnahmen für Felgenbremse stören Gesamtoptik
– Mavic-Reifen
– Spacer


Mehr Infos findet ihr unter: wilier.com

Dieser Artikel ist aus GRAN FONDO Ausgabe #009

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Text: Benjamin Topf Fotos: Valentin Rühl