Tag 2 – Kind sein, frei sein!

9 Uhr morgens, Deulowitzer See. Die Sonne erhebt sich über die Baumwipfel. Zwei behaarte Badenixen steigen aus dem frischen Nass. Rein in die Schuhe und los geht’s! Zum Frühstück gibt es Lausitzer Leckerbissen: frisch geschmierte Stullen! Heute wird Strecke gemacht – stilsicher im Adventure-Modus: Bike tragen und Brennesseln kappen, Räuberleiteraktion und Kirschen klauen (verdammt leckere Kirschen!), Kebap mampfen und Parkplatz belagern.

140 Kilometer später brennen die staubgebräunten Beine, eine letzte Dosis Kopfsteinpflaster, bevor wir im flammenden Sonnenuntergang die letzten 30 Kilometer in Angriff nehmen. Wir hatten uns die Nationalparkstadt Schwedt an der Oder ausgesucht.

 Déjà-vu mit einem Tankstellen-Dinner, dieses Mal Magnum-Eis, Coca-Cola und ein Mars. Gesund und reichhaltig – Mama wäre stolz! Kontostand: 67,31 €.

Tag 3 – das Unheil naht…

Was ein geiler Tag… der gestrige! Auch wenn wir am Vortag spät nachts den halben örtlichen Bootsverein kennengelernt haben, lehnen wir die großzügigen Angebote zur Nächtigung im Bootshaus dankend ab und ziehen das bereits bewährte Sternehotel unter freiem Himmel vor. Eine gute Entscheidung, denn die Morgensonne und Nebelschwaden grüßen uns mit magischen Momenten. Wer braucht schon ein Dach über den Kopf oder gar ein Champagner-Frühsück in St. Tropez?

Heute wollen wir es auf die Sonneninsel Usedom schaffen. Dem Ziel nahe, tauschen wir Trikot gegen T-Shirt und realisieren ganz plötzlich: So fühlt sich Gravel an. Enger Spandex weicht weitem Stoff, unsere Freiheit flattert im Fahrtwind. Wir haben Rückenwind, im Schnellzug queren wir die schöne Uckermark – yeah! Ein kleiner Sturz mit verkraftbaren Wunden holt uns von unseren Hochgefühlen in die Realität zurück. Das zufällige Philosophieren beim Mittagessen über den weiteren Tagesverlauf auch. Bei sechs (!) Hackepeter-Brötchen vom Tante-Emma-Laden googeln wir glücklicherweise, wann die letzte Fähre von Ückermünde Richtung Usedom fahren würde: 15.30 Uhr. Verdammt – dann mal los!

Der starke Rückenwind verwandelt sich in ein Gewitter, die Route führt uns über militärisches Sperrgebiet. Mit dem plötzlichen Zeitdruck im Nacken ist uns dies jedoch egal, wir wollen schließlich heute noch ankommen. Die letzten Kilometer nach Ückermünde werden dann zur Katastrophe, es hat wochenlang nicht geregnet, der knöcheltiefe Staub verwandelt sich in Morast. Jetzt geht es nur noch im Schritttempo (ja Schritt… – also zu Fuß!) weiter. Doch wir kämpfen uns heroisch durch unser selbstverschuldetes Schicksal. Wer planlos startet, muss eben sehen, wie er seine Schäfchen ins Trockene bringt.

Strahlend und zufrieden, es noch rechtzeitig geschafft zu haben, kommen wir in der Hafenstadt an. Dort dann der Hochgefühle-Konter beim Fährmann und dem Matjes-Brötchen-Kauf – scheint so, als habe man in Ückermünde vieles, nur keinen Spaß und keine Freundlichkeit! Aber was soll’s, wir nehmen es locker! Richtig schlucken müssen wir erst, als wir den Fährpreis erfahren. Ich erinnere mich an die Antwort auf die Frage, ob Anatol denn wüsste was die Fähre kosten würde. „Ja, vielleicht so 2,50 €… mehr nicht.“ Am Ende ist es das knapp 10-fache! Das Rechenzentrum im Gehirn schnell aktiviert: Bis hierhin sind wir mit rund 54 Euro durchgekommen, jetzt bleibt gerade noch genügend übrig, um einen lauwarmen Tee auf der Fähre einzuflößen. Ouch!

Meine Beine zittern, ich schaue zurück und sehe unsere verwaschenen Spuren im Sand. Wir sind am Ziel! Wir haben es geschafft! Wir ziehen uns aus, rennen los: Zeit für ein letztes Bad in der warmen Ostsee! Die letzten Stunden waren wie im Flug vergangen: Die Fährfahrt, die letzten Kilometer nach Heringsdorf auf der Insel Usedom, das starke Highfive beim Überqueren des Ortsschilds. All die Augenblicke und Stunden der letzten Tage ziehen an meinem inneren Auge vorbei. Mein Gefühl wandelt sich in Erkenntnis: Ein solcher Mehrtagestrip hat eine tiefgründigere Dimension als eine kurze Fahrt von A nach B.

Lessons Learned: Lass deine Kreditkarte zu Hause
Wenn du die sportliche Herausforderung in den Hintergrund verlagerst, lehrt dich ein solcher Trip Achtsamkeit und Menschlichkeit. Die Entbehrungen durch das künstlich gesteckte Budgetlimit schulen deine Kreativität und Spitzfindigkeit, sie zwingen dich auf Menschen zuzugehen. Gleichzeitig lernst du mit verschiedensten Ängsten umzugehen: mit der Angst abgewiesen zu werden, der Angst den unbekannten und unbefestigten Weg zu wählen, der Angst die falsche Entscheidung zu treffen und der Angst, nicht zu wissen, wo du heute schlafen wirst. Deine Sparsamkeit lehrt dich weniger zu essen. Deine Nahrung nicht in dich hineinzuschlingen, sondern bewusst zu genießen. Mit der Zeit beginnst du darüber nachzudenken, was du tatsächlich brauchst, und nicht, was du dir alles kaufen könntest. Bedarf ist nur eine kleine Nebensächlichkeit am Konsum. Das Gefühl des Hungers und das monotone Treten in die Pedale sind die Dosis Meditation, die dein rastloses Denken und die Sorgen deines Alltags durchbricht und die das Leben klarer sehen lässt. Graveln als Zuflucht und Lehrmeister. Erst im Rückblick erkennt man die weite Strecke und all die Erfahrungen, die man gemacht hat – das macht Lust auf mehr! Anatol, wann rufst du wieder an?!

Gravel-Tipps:
  • 1. Im Zweifel: Erst machen, dann fragen.*
  • 2. Teile dein Geld nicht mathematisch strikt ein; dennoch solltest du grob wissen, was du Pi mal Daumen ausgeben kannst.
  • 3. Kauf dir nicht nur Süßigkeiten und anderen Scheiß!
  • 4. Zögere nicht! Dieser Trip lehrt dich Entscheidungen zu treffen und diese auch durchzuziehen. Nur wenn mal Steine im Weg liegen, heißt das noch lange nicht, dass du nicht durchkommst und die Wegwahl die falsche war. Gleiches gilt für die zwischenmenschlichen Beziehungen: Nutze jede Möglichkeit, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Es kommt nicht darauf an, wie du es sagst, sondern erstmal, dass du etwas sagst! Das ist wie in der Bar, nur wer sie anzusprechen traut, bekommt die Braut. Den Mutigen gehört die Welt!
  • 5. Der Garmin Edge 1020 erwies sich – entgegen unseres Vergleichstests – als super Begleiter für die Graveltour. Denn er kennt alle Forstwege. Man kann einfach einen Punkt auf die Karte setzen und sich dorthin navigieren lassen. Die detaillierte Kartendarstellung hilft bei Sackgassen und Navigation im Gelände.Gravelprofis navigieren jedoch mit Landkarte und Kompass und fragen die Einheimischen nach Tipps! Das ist nicht nur verdammt „Hipster“ und „Vintage“, sondern lässt einen die Region und das örtliche Leben deutlich bewusster wahrnehmen.
  • 6. Vermeide große Supermärkte und Fastfood-Ketten! Auf solch einem Trip solltest du neue Dinge ausprobieren. Oder willst du deinen Freunden zu Hause erzählen, dass du dich von McDonald’s zu McDonald’s durchgeschlagen hast und die Rechnung mit Happy Meals aufgegangen ist? Frag im Lokal nach einer nahrhaften und günstigen Speise und erzähle von deiner Mission.
  • 7. Dein begrenztes Budget verlangt von dir nach kreativen Lösungen. Also lass deiner Fantasie freien Lauf!
  • 8. Überwinde deinen Ekel, deine Eitelkeit und Angst vor Einsamkeit. Frage dich: Was ist das Schlimmste, das passieren könnte?
  • 9. Übernehme volle Verantwortung für dein Tun! Lerne mit deinen eigenen Entscheidungen zu leben!
  • 10. Geh’ spielen! Tobe dich aus! Habe Spaß! Vergiss die anderen und was sie denken. Sei du selbst und tue genau das, was du willst! Du wirst sehen, es fühlt sich toll an.
  • 11. Nimm zwar eine Bankkarte mit, doch packe sie in einen verschlossenen Umschlag und vermerke darauf in ernsthaft gemeinten Worten: „Nur im absoluten Notfall benutzen!“. Du hast diese Challenge angenommen, also zieh’ es auch durch!

*Es sei denn, du bist in einem Land, in dem Waffengebrauch gang und gäbe ist.

Dieser Artikel ist aus GRAN FONDO Ausgabe #009

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Inhaltsübersicht
  1. Tag 1
  2. Tag 2 und Tag 3