Wer GRAN FONDO liest, ist privilegiert, beschäftigt sich mit den schönen Dingen des Lebens, hat überdurchschnittlich viel Bildung, Erfolg und Geld. Trendbewusstsein, ein hoher Anspruch an uns selbst und coole Statussymbole gehören zu unserem Leben – wie unsere jährliche Leserumfrage mit über 6.000 Teilnehmern zeigt. Und das ist auch toll, aber …

Hast du dich schon einmal wegen eines dicken Kratzers an deinem neuen Bike aufgeregt? Dir Sorgen darüber gemacht, ob dein Bike sicher abgeschlossen vor dem Café steht? Dich nicht mehr so gut gefühlt, weil auf deinem zwei Jahre alten Carbon-Renner nicht mehr die neuste Dura-Ace-Gruppe verbaut ist oder dein KOM geklaut wurde?

Luxus – und damit sind wertvolle Produkte genauso gemeint wie Immaterielles – kann uns tolle Momente bescheren, aber er kann uns leider auch belasten und dafür sorgen, dass wir lediglich auf Instagram oder Strava ein scheinbar perfektes Leben führen; während wir in der Realität unter dem Erfolgsdruck und den Erwartungen der anderen ächzen und in einem Hamsterrad gefangen sind. Wir arbeiten immer mehr, feiern immer krasser und fahren immer weiter, doch finden dabei kaum noch Zufriedenheit und Glück. Warum? Weil kein Erfolg, kein Geld der Welt uns auf Dauer glücklich und zufrieden machen kann. Schauen wir uns die besten Athleten, die erfolgreichsten Geschäftsmänner, die mächtigsten Politiker dieser Welt an – wer von ihnen strahlt dauerhaft vor Glück? Klar, ein Erfolg sorgt für eine kurze Siegerpose, ein triumphierendes Lachen und vielleicht eine ausgelassene Party. Aber kurz darauf geht es mit ernster Miene weiter.

Diese Menschen stellen sich genauso wie wir Normalos einige der folgenden Fragen: Bin ich heute besser als die anderen? Was machen meine Konkurrenten? Bleibt der Aktienkurs stabil? Was wird mein Amtskollege zu dem Thema sagen? Die Gedanken rattern. Verlustängste und Erwartungsdruck, sprich Sorgen über die Zukunft plagen uns und vernebeln einen klaren Blick auf die Gegenwart – den einzigen ewigen Moment, in dem das Leben stattfindet.

Während wir uns mit Zukunftssorgen oder belastenden Gedanken aus der Vergangenheit auseinandersetzen, sind wir nicht voll bei der Tätigkeit, der wir in diesem Moment nachgehen (diesen Text lesen!), performen schlechter, erkennen weniger Möglichkeiten und können das, was da gerade passiert, gar nicht so richtig genießen. Scheiße, oder?

Also stellt sich die Frage, wie wir zu ungeteilter Aufmerksamkeit in der Gegenwart kommen. Der Schlüssel zum Hier und Jetzt ist unser Körper. Kaum etwas lässt uns unsere Sorgen schneller vergessen als ein Sprung ins kalte Wasser oder gar ein leichter Sturz, der uns wachrüttelt, ohne zu stark weh zu tun. Sport selbst, insbesondere Biken führt zu einem Flow – man muss nur lange genug in die Pedale treten. Gleiches gilt für Meditation oder jede andere Tätigkeit, bei der wir durch Aufmerksamkeit Körper und Geist bündeln.

„I am an old man and have known a great many troubles, but most of them never happened. Worrying is like paying a debt you don’t owe. I have spent most of my life worrying about things that have never happened.“ Mark Twain

Wer am Lebensende nicht die gleichen Worte wie der bekannte amerikanische Schriftsteller in seine Memoiren schreiben will, der versteht: Wenn man seine mentale Einstellung ändert, kann man viele unnötige Sorgen und Gedankenschleifen einfach zerschneiden. Vor allem, wenn es um die oben genannten Luxusprobleme geht.

Anstatt sich über einen Kratzer im neuen Bike pauschal aufzuregen (weil man das eben so macht), sollte man sich die Frage stellen: Warum echauffiere ich mich eigentlich gerade wirklich – ist es wegen des Wiederverkaufswerts, wegen meines perfektionistischen Drangs nach Makellosigkeit oder wegen der Angst, dass das Bike beschädigt und nicht mehr sicher ist? Gleiches gilt für die Dura-Ace vom Vorjahr: Ist meine Schaltung tatsächlich schlechter, weil es eine neue Modellgeneration gibt? Komme ich in meiner Clique jetzt nicht mehr so gut an, weil ich nicht mehr den neuesten Scheiß besitze? Macht mich das Radfahren an sich glücklich oder geht es mir primär um den Besitz des geilsten Materials? Je nach Antwort kann man mit einem oder mehreren „Warums?“ noch tiefer bohren und seine Sorgen als doch gar nicht so „sorgenvoll“ entlarven. Oder man kommt zu dem Schluss, dass man mit den falschen, oberflächlichen Leuten abhängt und besser seine Clique wechseln sollte 😉

Was auch immer wir uns vom Leben wünschen, mehr Anerkennung, das neuste Bike, beruflichen Erfolg, einen tollen Partner, mehr Geld, Gesundheit oder alle Strava-KOMs dieser Welt – letzten Endes laufen all diese Wünsche auf dasselbe hinaus: Hinter all diesen Sehnsüchten, jenseits all dieser Symbole steckt der Wunsch, glücklich zu sein und endlich anzukommen.

Und genau dabei können uns Luxus und Überfluss im Weg stehen. Wenn wir nur noch Personal sehen statt Menschen, die Marke des Produktes statt den tatsächlichen Produkteigenschaften oder den Preis statt dem persönlichen Wert einer Sache. Oftmals nehmen wir nur die Beschreibung einer Sache oder Tätigkeit wahr statt die Sache bzw. Tätigkeit selbst, weil wir davon ausgehen, dass wir genau wissen was uns erwartet und wir uns von der Routine blenden lassen. Wenn man das durchdringt und wieder die kleinen Dinge im Leben zu schätzen lernt, dann kommt man zu Luxus des wahren Glücks – so wie in diesem Fall beim Schreiben dieses Textes: der Klang der Tastatur beim Schreiben unter sternenklarem Himmel auf der Terrasse, der braun-schwarz tropfende Kaffee aus der Siebträgermaschine in der Pause, ein erfrischender Schluck Wasser, während ich meine Gedanken auf Wanderschaft schicke und mich frage, wie dieser Text weitergehen soll …

Wenn wir es schaffen, unsere volle Aufmerksamkeit auf auf den Moment zu legen, in dem wir uns befinden, dann merken wir, wie schön die kleinen Dinge, die Feinheiten des Alltags sind. Dann erfahren wir, dass es im Leben keinen Alltag und keine Routine gibt, sondern dass jeder Moment etwas Besonderes zu bieten hat. Und dann verstehen wir auch, dass es genügt, etwas zu tun, nur um es zu tun. Wir fahren, weil uns das Fahren glücklich macht, wir lesen, weil Lesen Spaß macht, ich schreibe, weil das Schreiben mich befriedigt. Wenn wir im Trubel der Gedanken und Sorgen anhalten und unsere Aufmerksamkeit zu lenken lernen, werden wir sensibler für die außergewöhnlichen Momente des Alltags und erkennen, dass die Befriedigung in der Tätigkeit selbst liegt: Kann es etwas Schöneres geben, als Rennrad zu fahren, um Rennrad zu fahren? Als die verborgene Schönheit von Technik zu bewundern? Als sich von einem Moment so faszinieren zu lassen, dass man alles andere ausblendet?

Müssen wir jetzt den Luxus aus unserem Leben verbannen? Nein. Aber wir können aus Luxus wahren Reichtum machen – indem wir etwas nicht tun, weil wir unbedingt irgendwo hin müssen, sondern weil es uns befriedigt. Gelingt das, dann erreichen wir das Ziel meist nicht nur einfacher, sondern das Resultat ist meistens auch deutlich besser, weil wir mit ungeteilter Aufmerksamkeit und mehr Spaß daran gearbeitet haben. Und das ist toll, ohne Wenn und Aber!


Dieser Artikel ist aus GRAN FONDO Ausgabe #012

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Text: Robin Schmitt Fotos: Diverse