Paris–Roubaix ist ein Mythos: archaisches Kopfsteinpflaster, schneidender Wind und das patina-behaftete Velodrom von Roubaix. Mit dem Specialized Roubaix SL8 gehen wir auf Zeitreise. Trifft in Roubaix die Vergangenheit des Radsports auf die Zukunft des Road-Bikes? Wie schlägt sich das Roubaix in der Hölle des Nordens?
2004 war die Roadie-Welt noch in Ordnung. Carbon war ein Synonym für Leichtigkeit, Komfort ein Synonym für Schwäche, und Compliance … Compliance gabs noch nicht. Mit brettharten Kohlefaser-Racern ballerte man auf 23 mm schmalen Reifen zu neuen Stiffness-to-Weight-Rekorden. Der Schlüssel zu einer neuen Performance-Dimension schien gefunden: konsequente Gewichtsreduktion und kompromisslose Härte. Zu jener Zeit erblickte ein seltsames Gefährt den Asphalt bzw. das Kopfsteinpflaster – das Specialized Roubaix.
Lange Kettenstreben, gestreckter Radstand, aufrechte Sitzposition und semitransparente Elastomer-Inserts in Sitzstreben, Sattelstütze und Gabel. Nicht nur ich habe es belächelt und ein wenig bemitleidet, weil ich mir sicher war, dass es bald wieder verschwinden würde. Aber es ist geblieben. Es blieb, als die ersten Aero-Bikes kamen; es blieb, als die ersten Gravel-Bikes kamen; und es blieb, als die ersten Endurance-Bikes versuchten, eine Kategorie zu definieren, die das Specialized Roubaix selbst begründet hatte.


Das Roubaix ist benannt nach der Königin der Kopfsteinpflaster-Klassiker. Paris–Roubaix – die Hölle des Nordens. Das Rennen mit der Zielankunft im historischen Velodrom von Roubaix ist das vielleicht mystischste Event im Rennkalender. Eine 260 km lange Zeitreise zu den Wurzeln des Radsports. Hier sind es nicht Berge oder Wind, die den Fahrern Tränen in die Waden treiben. Es sind die 29 Kopfsteinpflaster-Segmente. Sie werden von Treckern befahren, von Ziegen begrast und von Weltkriegsbunkern bewacht. Gefühlt waren sie schon da, als noch Dinosaurier durch die von jeglicher Lieblichkeit entkernte Landschaft zogen. Sie waren da, als das Fahrrad erfunden wurde. Sie waren da, als es noch Vollgummi-Reifen gab. Sie waren normal. Heute sind sie eine Attraktion. Der Wald von Arenberg oder der Carrefour de l’Arbre sind Kultstätten für Radsport-Jünger. Paris–Roubaix steht für das, was Rennrad früher mal war. Und das Roubaix? Es möchte für das stehen, was Rennrad heute sein kann. Eine Pavés-fressende, aero-optimierte Allroad-Sau?
Wir hatten schon die Chance, das Specialized Roubaix SL8 im Allroad-Bikes 2024 Shootout an der Cote d’Azur zu erleben. Jetzt lädt es uns zu sich nach Hause ein. In die Hölle des Nordens. Wir fahren nach Roubaix, um mit dem Roubaix, den Gran Fondo Paris–Roubaix zu absolvieren.



Born to be mild – Komfort-Monster Specialized Roubaix
Es regnet. Das Wasser sickert durch die Pflaster-Furchen und sammelt sich an den Rändern zu lehmigen Pfützen. Carrefour de l’Arbre heißt dieses verstörende Pavès-Segment. Das Kopfsteinpflaster hier hat wenig mit dem zu tun, was man in pittoresken Altstädten auf dem Weg zur Lieblingseisdiele findet. Pferdefuhrwerke, Panzer, Trecker und was auch immer hier in den letzten 150 Jahren drüber gerollt ist, haben das klobige Pflaster an den Rändern tief in den Schlamm gedrückt. In der Mitte ist eine Art Kuppe entstanden. Ich erkenne Ansätze einer Ideallinie. Doch einzelne Steine stehen über, andere fehlen komplett, wieder andere sind extrem scharfkantig. Es ist so rutschig, dass ich schon beim Laufen meinen Helm aufsetze. „Choose your line well“, sagt Peter Sagan, der das Rennen dreimal gewinnen konnte. „Back to the hotel“, antworte ich in Gedanken.
Unser S-Works Roubaix SL8 steht im gedeckten Grau im Regen und kann sich nicht so recht entscheiden, ob es schnell oder komfortabel aussehen soll. Die Unterseite des Oberrohrs ist organisch geschwungen, was ein wenig undynamisch wirkt. Das Sitzrohr oberhalb der tief angesetzten Sattelstreben mündet hingegen in einem aerodynamisch extremen Kammtail-Profil, was ultra-dynamisch wirkt. Mit leichtem visuellen Versatz führt das Rohr nun mit rundem Profil weiter Richtung Tretlager – was komisch wirkt. Zugunsten von maximaler Flexibilität bei der Wahl von Vorbau- und Lenker-Kombi verzichtet Specialized auf eine vollständige Integration der Kabel. Standardmäßig kommt jedes Roubaix mit einem Hover-Drop-Lenker, der leicht ansteigend für eine entspannte Sitzposition sorgt. Gut für den Rücken, schlecht fürs Auge, denke ich und freue mich, dass mein Bike mit klassischem Lenker am Start steht.




Good Vibrations – Future Shock am Specialized Roubaix
Auch ohne Hover-Drop geht das Roubaix beim Thema Komfort in die Vollen. Wer will, kann bis zu 40 mm breite Pneus montieren und damit so manchen Gravel-Biker ins Grübeln bringen. In Kombination mit der tief angesetzten Sattelklemmung und der flexenden Sattelstütze ist zumindest das Heck schon mal maximal hinternfreundlich unterwegs. Das eigentliche Highlight und das Alleinstellungsmerkmal des Roubaix versteckt sich jedoch im Steuerrohr. Das Future-Shock-System. Wo andere Hersteller auf Elastomer-Elemente, flexende Gabeln oder voluminöse Reifen setzen, verbaut Specialized einen High-End-Dämpfer.
Die dritte Future-Shock-Generation lässt sich über unterschiedliche Federhärten und Preload-Spacer an Fahrer und Terrain anpassen. Bei den Top-Modellen S-Works Roubaix SL8 und Roubaix SL8 Pro kann man den Dämpfer außerdem während der Fahrt verstellen. Wer am Knöpfchen dreht, kann der Front den Federweg nehmen. Eine Konzession an Puristen, die der neuen Weichheit nicht so recht trauen wollen. Doch wer nicht gerade an jedem Ortsschild im Unterlenker zum Tigersprung ansetzt, der wird das System meist offen, also komfortabel fahren.
Die Einstiegsvarianten Roubaix Standard und Roubaix Sport verzichten hingegen komplett auf Dämpfer und setzen lediglich auf eine Stahlfeder. Für die gedämpften Versionen verspricht Specialized über 50 % Vibrationsreduktion im Vergleich zu anderen Endurance-Bikes. Doch was bedeutet 50 % Reduktion auf den Kopfsteinpflaster-Sektoren? Die Hälfte von Hölle ist noch immer Hölle, oder etwa nicht?



wunderBAR – Der richtige Reifendruck für Roubaix
4? Nein. 3,5? Nein. 3? Nein. Wir haben gerade die erste Konfigurations-Runde auf dem Carrefour de l’Arbre beendet und ich feilsche mit John Cordoba, dem Specialized Produkt-Manager für Road & Gravel, um jedes Zehntel Bar Luftdruck. Ziel der Aktion: das perfekte Race-Setup für den morgigen Gran Fondo Paris–Roubaix. Federhärte, Anzahl der Preload-Spacer, Reifenbreite, Felgenhöhe und natürlich Reifendruck sind die Variablen, mit denen wir unser Roubaix zum Cobble-King tunen. Doch gerade macht der Regen der Technikgläubigkeit einen Strich durch die Rechnung. Als schwerer Fahrer wähne ich mich im Vorteil. Aber nur schwer ist auch keine Lösung. Ich rutsche von der Kuppe, das Hinterrad sucht im Schlamm nach Traktion, Bremspunkte verschwinden in Pfützen und die Ideallinie diffundiert zu einem abstrakten Konzept. Peter Sagan dieselt unbeeindruckt neben mir her. „Any tip for riding on wet cobbles?“ „Stay on the bike.“ Doch dann: Sonne. Das Pflaster trocknet, die Lernkurve zieht an und es macht auf einmal richtig Laune, mit dem Roubaix zu spielen. Kein anderes Road-Bike lässt sich über die Dämpferkonfiguration und den Reifendruck so feinfühlig und nachvollziehbar einstellen wie das Roubaix in Roubaix.
Am Ende lande ich bei der mittleren Future-Shock-Federhärte ohne Preload-Spacer und Roval Rapide CLX II-Laufrädern mit 51 mm Felgenhöhe vorne und Roval Terra CLXII-Laufrädern mit 35 mm Felgenhöhe hinten. 51 mm? Klingt exotisch, fährt sich aber trotz böiger Seitenwinde beeindruckend stabil. Die bahnbrechende Erkenntnis ist jedoch, dass mit wenig Reifendruck viel mehr möglich ist, als mein klassisch konditioniertes Roadie-Hirn für möglich gehalten hätte. Auf den 32 mm breiten S-Works Mondo-Reifen rolle ich am Ende der Session schlauchlos glücklich mit 3,1 Bar vorne und 3,5 Bar hinten zurück in den Service Course. Dass bei mir letztlich eine 3 vor dem Komma steht, hat dabei eher psychologische denn technische Gründe. Die Reifen-Laufrad-Kombi hätte auch weniger toleriert, aber mein Kopf macht nicht mit. Ich kann mich nicht überwinden, das sündhaft teure Material mit noch weniger Polster über das Pavés zu prügeln. Der Gran Fondo kann kommen.



Gedämpfte Freude – Der Mythos Roubaix wird weggefedert
Siebenmal hat das Specialized Roubaix Paris–Roubaix gewonnen. Auch 2024 stehen diverse World-Tour-Teams auf Specialized-Maschinen am Start. Mit Lotte Kopecky holt sogar eine Specialized-Fahrerin den Sieg bei den Frauen – auf einem Roubaix? Nein. Auf einem Tarmac. Ist das Roubaix etwa doch nicht das perfekte Bike für den Höllenritt auf dem Kopfsteinpflaster? Während das Roubaix seinen Grundtugenden treu geblieben ist, hat sich das Rennen in den letzten Jahren verändert. Es ist schneller geworden. Die entscheidenden Moves finden oft nicht mehr auf, sondern vor den Segmenten statt. Die Positionierung entscheidet, und da zählt Aerodynamik noch immer mehr als Komfort. Wer gewinnen will, muss ins Risiko gehen. Die schnellsten Reifen, das schnellste Bike, die aerodynamischste Position auf dem Bike.



Ich will nicht gewinnen und stehe mit dem guten Gefühl am Start, mit dem richtigen Bike am richtigen Ort zu sein – und bin dann fast ein wenig enttäuscht. Das Roubaix nimmt Roubaix das Drama. Keine zitternden Hände, keine vor Erschöpfung leeren Blicke, keine Schmerzen. Wo zur Hölle ist die Hölle hin? Das Future-Shock-System zeigt dem Pflaster die Grenzen auf, die Laufräder trotzen lächelnd dem Seitenwind, und die Reifen denken nicht an einen Durchschlag. Mir ist es fast ein wenig unangenehm, mit meinem Super-Bike an den Massen ungedämpfter und schmalreifiger Radsport-Romantiker vorbeizufliegen. Wenn es das Specialized Roubaix schon vor 100 Jahren gegeben hätte, wäre das Rennen nicht zum Mythos geworden. Es fühlt sich ein bisschen an wie Mogeln. Genau deshalb macht es so viel Spaß. So viel, dass ich mich zwingen muss, auf den Bildern angemessen episch auszusehen. Bei der Ankunft im Velodrom stelle ich peinlich berührt fest, dass ich den Future Shock-Dämpfer nicht ein einziges Mal geschlossen habe. Komfort macht süchtig.



Abwegiger Alleskönner – Das Specialized Roubaix kann vieles besser
Was ist das Specialized Roubaix jetzt also für ein Bike? Der Name Roubaix macht es zum König einer Nische, zum Herrscher einer vergangenen Zeit. Roubaix steht für unwirkliche Entbehrung, archaisches Leid und epische Qualen. Doch das Roubaix ist das genaue Gegenteil von Roubaix. Auf dem Pflaster brilliert es, aber erst abseits des Pavés spielt es sein volles Potenzial aus. Es ist komfortabler als alle anderen Endurance-Bikes, vielseitiger als manches Gravel-Bike, leichter (in der von uns gefahrenen S-Works-Version) als viele Climbing-Bikes und, abgesehen von der Sitzposition, aerodynamisch auf der Höhe der Zeit. Das Roubaix macht es einfach, schnell zu sein. Wer bereit ist, sehr viel Geld für ein Bike auszugeben, was sehr viel sehr gut kann, der wird mit dem Roubaix wahrscheinlich sehr glücklich. Specialized positioniert das Tarmac mit dem Claim „One bike to rule them all“. Wer nicht gerade World-Tour-Pro ist, der könnte sich diesen Satz auch auf sein Roubaix pinseln lassen.
Das Specialized Roubaix löst nicht den „muss ich haben“-Reflex aus, der uns ekstatisch die Tausender aus der Tasche ziehen lässt. Dazu ist es optisch zu unentschlossen. Es taugt auch nicht wirklich als Statussymbol im Feierabend-Gruppetto. Dazu ist es konzeptionell nicht extrem genug. Was es aber kann: einem immer und überall ein fettes Grinsen ins Gesicht tackern – selbst in der Hölle des Nordens.

Hat dir dieser Artikel gefallen? Dann würde es uns sehr freuen, wenn auch du uns als Supporter mit einem monatlichen Beitrag unterstützt. Als GRAN FONDO-Supporter sicherst du dem hochwertigen Bike-Journalismus eine nachhaltige Zukunft und sorgst dafür, das die New-Road-Welt auch weiter ein kostenloses und unabhängiges Leitmedium hat. Jetzt Supporter werden!
Text: Nils Hofmeister Fotos: Nils Hofmeister, Specialized