Es war ein schräges Gefährt, das mit allerlei Messsensorik ausgestattet Tausende Kilometer durch die USA rollte. Für die Entwickler der Laufradschmiede Reserve Wheels begann mit dem umgebauten Scooter ein neues Aero-Kapitel. Mit einem innovativen Ansatz möchten die Kalifornier das Aero-Segment aufwirbeln. Bye-bye, Aero. Bühne frei für Turbulent Aero.

60 Sekunden schneller auf 45 Kilometer, 17 Watt Ersparnis, 30 % Vorteil gegenüber anderen Aero-Bikes – die neueste Generation der High-End Aero-Boliden trumpft Jahr für Jahr mit begeisternden Effizienzgewinnen auf. Untermauert werden die Werte mit illustrierten Luftströmen, die auf Kammtail-Rohrprofile, Aero-Deflektoren oder tiefgezogene, angewinkelte Sitzstreben treffen. Doch was hat die aerodynamische Theorie mit der Praxis im Peloton, auf einem Alpenpass oder in den Häuserschluchten einer Großstadt zu tun? Nicht viel, behauptet der kalifornische Komponentenhersteller Reserve und bringt mit dem Turbulent Aero-Ansatz Bewegung in das Thema Wind.

Willkommen im virtuellen Windkanal

Ein Großteil der Entwicklungsarbeit erfolgt heute am Rechner. Mit einer Luftstromsimulations-Software namens Computational Fluid Dynamics (CFD) wird das Zusammenspiel aus Rahmen, Komponenten, Laufrädern und Fahrer simuliert und aerodynamisch optimiert. Im virtuellen Windkanal spulen digitale Test-Dummies unzählige Kilometer bei verschiedene Front- und Seitenwindszenarien ab, erklimmen Berge und stürzen sich in Abfahrten. Die Integration des Fahrers entlarvt bereits in der Frühphase der Entwicklung aerodynamische Irrwege und spart Zeit und Ressourcen. Erst die finalen Designs werden dann im echten und echt teuren Windkanal validiert. Doch egal, ob der Luftstrom von Prozessoren oder Turbinen erzeugt wird, er ist in den meisten Fällen laminar. Ein laminarer Luftstrom ist frei von Verwirbelungen oder Turbulenzen, er lässt sich leichter simulieren, konsistent reproduzieren und attraktiv visualisieren. Er hat viele Vorteile, aber einen entscheidenden Nachteil: Er existiert nur im Windkanal.

Das echte Leben ist turbulent – nicht laminar

Wo Wind auf Hindernisse trifft, bilden sich Turbulenzen. Bäume, Häuser, Autos und andere Fahrer machen aus den pittoresken, parallel verlaufenden Strömungslinien ein schwer zu simulierendes Chaos aus Verwirbelungen. Statt einer laminaren Strömung entsteht eine turbulente Strömung. Um dieses Strömungsverhalten in einer Simulation zu reproduzieren, braucht man einerseits eine enorme Rechenleistung und andererseits Referenz-Strömungsdaten aus der realen Welt.

Bisher konnten Windkanäle die realen Bedingungen auf der Straße nur unzureichend simulieren. Kurven, andere Fahrer oder Verwirbelungen blieben unberücksichtigt. Die Ergebnisse von Aero-Tests ließen das Potenzial von Bauteilen erahnen, mussten aber in der Praxis verifiziert werden. Die Jungs und Mädels von Reserve sind angetreten, um Aero-Testing neu zu definieren.

Wird Turbulent Aero der neue Standard?

Mithilfe eines speziellen Mess-Scooters sammelten die Kalifornier Winddaten für unterschiedliche Orte und Szenarien. Wichtiger als die absolute Windstärke waren die gemessenen Turbulenzen an den unterschiedlichen Sensoren. Auf Grundlage dieser Strömungsdaten wurde der virtuelle Luftstrom in der Software bewusst verwirbelt. Ziel war es, bereits am Rechner die turbulenten Bedingungen der realen Welt zu simulieren. Klingt nerdig? War aber noch nicht das Ende des Gedankens. Denn bevor Komponenten es aus dem virtuellen Windkanal auf die Straße schaffen, werden sie in einem echten Windkanal verifiziert. Ein auf turbulente Anströmung optimiertes Design braucht dazu einen Windkanal, der die Luft gezielt verwirbeln kann. Hierzu mieteten die Entwickler eine spezielle Anlage, die sonst zur aerodynamischen Erprobung von Architekturmodellen genutzt wird, platzierten drei turmartige Konstruktionen vor den Turbinen und sorgten so für die gewünschten Turbulenzen.

Watt bringt das?

Aktuelle Aero-Designs sind auf Szenarien optimiert, die im Alltag kaum realistisch sind. Die wenigstens von uns fahren auf gerader, verwirbelungsfreier Strecke eine Stunde lang mit 45 km/h. Hinzu kommt, dass jeder Hersteller unterschiedliche Entwicklungs- und Testparameter verwendet. Die daraus resultierenden Aussagen in Bezug auf Wattersparnis und Effizienzsteigerung sind schwer vergleichbar. Das Ergebnis sind zehn verschiedene Aero-Weltmeister und ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Reserve spricht im Zusammenhang mit Turbulent Aero von einem Projekt. Der Anspruch sei ein neuer Standard in der Aero-Entwicklung. Eine gemeinsame Grundlage, die Aero-Konzepte alltagstauglicher und Fortschritte vergleichbarer macht. 2019 starteten die Kalifornier zusammen mit der Schwestermarke Cerveló ihre aerodynamische Grundlagenforschung. Mit dem Reserve 52/63 Carbon-Laufradsatz ist jetzt das erste Ergebnis dieser Entwicklungsarbeit auf dem Markt.

Der Reserve 52/63-Laufradsatz: Design und Specs

Wer bei Turbulent Aero an wilde Oberflächenstrukturen oder futuristische Zackenprofile denkt, wird erst mal enttäuscht. Der Laufradsatz wirkt auf den ersten Blick unauffällig. Felgenhöhen von 52 mm vorne und 63 mm hinten lassen überzeugende Aero-Eigenschaften vermuten und eine gewisse Windanfälligkeit befürchten. Die Felgen haben einen opulenten Innendurchmesser von 25 mm vorne bzw. 24 mm hinten und kreisen um 180er-Naben von DT Swiss. Wer möchte, kann das Set auch mit günstigeren 240er- oder 350er-Naben ausstatten. Das Gesamtpaket wiegt wettbewerbsfähige 1.514 Gramm und wird dankenswerterweise nicht von überdimensionierten Decals verschandelt. Einzig eine dezente Banderole weist auf den Hersteller hin. Reserve bietet übrigens für alle Laufräder eine lebenslange Garantie.

So weit, so normal? Fast. Wer sich die Profile von Vorderrad- und Hinterradfelge genauer anschaut, erkennt, dass das Vorderrad nicht nur weniger tief, sondern auch etwas bauchiger ist. Reserve verweist in diesem Zusammenhang auf eine bessere Stabilität im turbulenten Luftstrom. Das Hinterrad hat laut Reserve eine andere Aufgabe und daher auch ein anderes Profil. Es baut schmaler und höher, ist weniger bauchig und wurde auf maximale Reduktion des Luftwiderstands ausgelegt. Durch ihr asymmetrisches Profil rückt die Felge außerdem ein Stück weg von der Kassette, was das Laufrad theoretisch robuster und langlebiger macht. Es herrscht also Arbeitsteilung. Das Vorderrad ist für Stabilität und Fahrsicherheit zuständig, das Hinterrad für aerodynamische Effizienz.

Wer spürt den Unterschied?

Turbulent Aero ist ein Prozess. Ein aerodynamischer Quantensprung wird in Bezug auf die aktuelle Laufrad-Generation auch von Reserve selbst nicht postuliert. Das Potenzial des Ansatzes zeigt sich aber nicht zuletzt in der Kooperation mit dem Jumbo-Visma WorldTour-Team. Nachdem 2022 bereits das Damen-Team sowie die Nachwuchs-Teams auf Reserve Wheels fuhren, werden die Kalifornier 2023 auch exklusiver Laufrad-Partner von Van Aert und Co. Neben dem Anspruch, von Anfang an konkurrenzfähige Laufräder für sämtliche Rennprofile zu haben, liegt der Fokus der Zusammenarbeit auf der Weiterentwicklung und der Praxiserprobung von Turbulent Aero. Auch wir haben aktuell einen Laufradsatz im Dauertest, den wir an unterschiedlichen Bikes und in verschiedenen Szenarien testen. Ob der Ansatz unserer Meinung nach das theoretische Versprechen in der Praxis erfüllt, können wir noch nicht abschließend beurteilen. Wir halten euch auf dem Laufenden.


Die willkürlichen Berechnungen von Zeitersparnissen auf Phantasiestrecken haben ihren Reiz verloren. Sie haben wenig Relevanz im Alltag und sorgen für ein Glaubwürdigkeitsproblem. Der Gedanke, mit Turbulent Aero einen neuen Entwicklungsstandard zu schaffen, ist nachvollziehbar und richtig. Noch fehlen Praxiserfahrungen und Testkilometer, um das Potenzial des Ansatzes zu beurteilen. Wenn die Entwicklung transparent weitergeführt und die Theorie mit nachvollziehbaren Praxisergebnissen untermauert wird, kann Turbulent Aero die Zukunft von Aero sein. Gelingt es nicht, droht in Zukunft noch mehr Verwirrung um virtuelle Wattzahlen und proprietäre Teststandards.


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Text: Nils Hofmeister Fotos: Mike Thomas, Steve Loughlin