1.145 km durchs marokkanische Atlasgebirge in 6 Tagen: Das PEdAL ED Atlas Mountain Race hat beim Team Terrible Heaven deutliche Spuren hinterlassen und noch jetzt finden Marc und Alex Staub in ihren Wohnzimmern. Wie sie ihren Einstieg in die Welt des Ultracyclings erlebt haben, lest ihr hier.

Da stehen wir nun, mit Bikes, die aussehen wie Schlachtrösser aus Mad Max, zwischen den Ultra-Endurance-Athleten und Helden der Ausdauerszene. Stramm bepackte Waden und maximal austrainierte Körper sucht das Auge vergebens und auch die ein oder andere Startzigarette lässt schon durchscheinen, dass das Radfahren in den nächsten Tagen eher eine untergeordnete Rolle spielen wird. Wir, das sind Marc Lehmann und ich, Alexander Bethge, oder auch: Team Terrible Heaven. Die Wortschöpfung verweist auf unsere beiden Bike-Projekte, Terrible Twins und Heaven and Hell. Tief verwurzelt in der Stuttgarter Bike-Szene, fasziniert und angezogen von den Abenteuern der Ultracycling-Events. Das PEdAL ED Atlas Mountain Race ist für uns die erste Gelegenheit, in ein solches Rennformat einzutauchen. Mit knapp 1.150 km, 20.000 hm und einer gut zu erreichenden Start-Location waren die Eckdaten das erste Mal günstig, um sich in einem vernünftigen Zeitfenster zwischen Job und Familie einer solchen Challenge zu stellen.

Die Szenerie am Vorabend des Bikepacking-Rennens gleicht einer Family-Reunion, bekannte Gesichter werden gesichtet, Leute umarmt, Instagram-Bekanntschaften werden zu realen Begegnungen. Ein letzter Equipment-Check, um die gespannten Nerven etwas zu beruhigen, und dann die aufkommende Erkenntnis, dass jetzt der erste reale „Test“, ein voll beladenes Bike durch grobes Gelände zu steuern, bevorsteht. Shit – Bikepacking-Erfahrung gleich null!

Samstag, 9 Uhr: Nelson Trees, Renndirektor und Ausrichter des Silk Road Race und des Atlas Mountain Race, lässt die Hunde von der Leine. Eskortiert von der marokkanischen Polizei geht es aus der Hektik der Medina hinaus aus Marrakesch – Vollgas Richtung Atlas-Gebirge. Mit unseren Kits und den bis aufs Detail abgestimmten Bikes wirken wir im Peloton der Ausdauer-Freaks fast schon wie die Mitglieder einer Boyband. Doch als ich im Windschatten abtauche und das richtige Hinterrad suche, gerate ich wieder voll in den Race-Modus. Die Schreie von Urgestein Jay Petervary machen kurz darauf allerdings klar, dass Windschatten keine Option ist. Um nicht in Schwierigkeiten zu kommen, peitscht Jay im dicken Gang wie ein Ackergaul auf der linken Straßenseite davon. Kurz danach geht das Rodeo los und mein überdimensional großer Fressbeutel schlägt aufs Vorderrad auf. Erste Pause, einatmen, kurz runterkommen, Tasche richten – welcome to the Atlas Mountain Race.

Die erste Etappe hält bereits den Anstieg auf den höchsten Punkt des Rennens für uns bereit. Wir können noch gut mit den führenden Teams mithalten und schrauben uns auf 2.500 m hoch. Die Sackgasse am Gipfel und die danach folgende Hike-a-Bike-Passage für die nächsten zwei Stunden macht schnell deutlich, welche Spezialitäten Nelson für uns im Köcher hat.

Checkpoint 1 erreichen wir zeitgleich mit dem späteren Sieger-Team um Federico Damiani und Andrea Galanti. Die Jungs ballern direkt weiter, während wir uns erst mal eine Tajine, ein marokkanisches Schmorgericht, gönnen und dann gut gelaunt in die aufkommende Dunkelheit starten. Im kleinen Lichttunnel unserer Lampe wird das harte Geläuf zu einem Bonanza-Fest und als wir Ernie und Scotti Lechuga (Siegerteam des Silk Road Race 2019) passieren, erklären uns die beiden für verrückt, weil wir uns als Team den Lichtkegel einer einzigen Lampe teilen. Aber Stromsparen geht vor – deutsche Effizienz. Die Unnachgiebigkeit des Gesteins lässt gleich ein paar Bar Reifendruck entweichen und der darauf folgende Ventilabriss soll unsere Teamfähigkeit auf die erste Probe stellen. Mein Reserve-Ventil? Natürlich zu kurz! Aber diese Situation ist schnell mit dem passenden Ventil von Marc geklärt.

Die karge Schönheit der ständig wechselnden Felsformationen beeindruckt uns jedes Mal aufs Neue. Endlose Steinwüsten geben sich die Hand mit steilen Hangabbrüchen, in die mühevoll die Pfade ins Gestein geschlagen wurden. Die erklärten Highlights sind die Morgenstunden, nachdem wir uns aus unseren Biwaksäcken geschält haben – sie machen den Rennstress vergessen. Besondere Lichtspiele lassen den Atlas dann in seiner ganzen Schönheit erstrahlen. Das ist die beste Entschädigung für das gnadenlose Gehämmer, das sich zum Teil über Stunden hinzieht. Eine Kneipenschlägerei, bei der dein Rad vor der Tür zertreten wird, würde sich genauso anfühlen. Deshalb sind wir froh, unsere geprügelten Knochen ab und zu auf einer richtigen Matratze in einer Auberge hinlegen zu können. Zwischendurch verfluchen wir unsere Entscheidung, auf Gravel-Bikes gesetzt zu haben. 650B+ Adventure-Mountainbikes hüpfen munter an uns vorbei und lassen uns blass aussehen. Unsere Stunde schlägt auf dem Asphalt, aber selbst in Zeitfahrpose lassen sich kaum Geschwindigkeiten über 20 km/h erreichen.

Hier herrscht eine völlige andere Dynamik als die, die wir sonst von Radrennen kennen. Generell ist der Aspekt Radfahren nur einer der Bestandteile, die uns an die Ziellinie führen werden. Schlafbedarf, Erholungsfähigkeit, Versorgung mit Wasser und hochwertiger Nahrung (Berber-Omelettes) sowie allem voran die große Bereitschaft, Schmerzen anzunehmen, fallen deutlich mehr ins Gewicht, als wir vorher angenommen hatten. Schnell stellen wir fest, dass wir als Novizen eigentlich nur unsere Bikes beherrschen und alles andere erst lernen müssen.

Die ausgewählte Strecke schickt uns öfter mal in lange Konzentrationsphasen. Mitunter fragen wir uns, an was wir in den letzten Stunden eigentlich gedacht haben. Die Antwort: an nichts. Wir waren völlig darauf konzentriert, nicht vom Rad zu fallen, nicht abzurutschen und das Hinterrad des Teampartners zu halten, und wir haben dabei ausschließlich im Jetzt gelebt. Ist das der Zen, dem alle in unserer reizüberfluteten Gesellschaft hinterherrennen? Gerade die Dunkelheit verschluckt alles um uns herum. Wir sind im Tunnel, der uns auf manchen Abschnitten direkt in die Hölle schickt und wir sind froh, irgendwann wieder am Stück ausgespuckt zu werden. Dass unser Teamname Terrible Heaven dieses Rennen so treffend beschreiben wird, wirkt fast schon grotesk.

Auf dem letzten Abschnitt beschließen wir, den Sack zuzumachen. 300 km bleiben uns noch und wir entscheiden nach unserem letzten Stopp, so weit in die Nacht hineinzufahren, bis wir nicht mehr können. Die Asphaltpassagen machen uns fast schon euphorisch und wir kommen gut voran. Als die ersten Fahrer sich wie Engerlinge in ihren Biwaksäcken am Straßenrand schlafen legen, fühlen wir uns weiter gepusht. Irgendwann ist der Point of No Return gekommen und es kommt nicht mehr infrage, ein Nachtlager aufzuschlagen. Hätte Organisator Nelson Trees ein apokalyptisches Computerspiel entworfen, wären wir nun definitiv in den Fortgeschrittenen-Levels. Immer neue Stufen des Grauens eröffnen sich in der Nacht. Als wir in die Augen von 5 Wildschweinen blicken, verschwimmt die Wahrnehmung zwischen Traum und Realität. Nächste Kurve, neues Glück. Was hat Nelson noch für uns auf Lager? Lockere Sandpassagen, in denen sich die Räder nicht mehr drehen, unterbrochen von Kakteenhecken, die unsere Pneus auf die letzte Probe stellen.

Im aufkommenden Nebel sind wir total verloren; der Gestank von Müllplätzen und aggressive Hunde lassen uns in der totalen Apokalypse ankommen. Doch wir wissen, der Endgegner ist noch nicht geschlagen und selbst auf der letzten Asphaltpassage werden unsere geschundenen Nerven nicht geschont. Busse donnern in der dichten Nebelsuppe mit über 100 km/h zentimeterdicht an uns vorbei und wir müssen um unser Leben fürchten. Die Uhr tickt gnadenlos runter und wir erkennen die Chance, noch unter 6 Tagen zu finishen, als wir in eine ca. 6 km lange Sandpassage einbiegen.

Wir können es kaum fassen, das sollen die letzten Kilometer zum Ziel sein? In unseren Köpfen hatten wir Bilder von einer Triumphfahrt hinunter ans Meer. Jetzt könnten wir es mit Mathieu van der Poel aufnehmen und packen die letzten CX-Skills aufs Tablett. Schieben, rennen, sprinten – alle Reserven werden ausgequetscht und wir erreichen nach 5 Tagen 23 h und 45 min völlig am Ende das Ziel.

Die Gefühlsmelange der Mitfahrer am Ziel ist nicht zu beschreiben und reicht von totaler Leere über die Freude, gesund das Ziel erreicht zu haben, bis hin zu Wut, dass man noch mehr einstecken musste, als man schon am Boden lag. Nach 27 h nonstop auf dem Bike sinken wir zusammen und kommen erst 4 h später in unseren Schlafsäcken wieder zu klarem Bewusstsein. Dass wir die Pedale für einen so langen Zeitraum in Bewegung halten konnten, war eine völlig neue Erfahrung. Der menschliche Körper kommt uns heute vor wie ein Wunder.

Für einen Einstieg in die Ultracycling-Szene war das Atlas Mountain Race sicher ein Sprung ins ganz kalte Wasser. Aber mit einem großen Haufen an Erfahrungen, Lob von Szenegrößen und der Genugtuung, nicht in die Knie gezwungen worden zu sein, können wir unseren Heimweg nach good old Stuttgart wieder antreten.

Ali und sein 45 Jahre alter Benz sind dann noch das letzte Abenteuer auf dem Weg zum Flughafen. Die Lässigkeit der Marokkaner ist beeindruckend, da werden 7.000-Euro-Bikes mit Paketschnur auf dem Dach des Taxis vertäut.

Mit der ersten Ausgabe des Atlas Mountain Race haben Nelson Trees und sein Team ein richtiges Brett abgeliefert. Von über 190 Startern konnten knapp 130 das Ziel in Sidi Rabat erreichen. Ob das Team Terrible Heaven im nächsten Jahr offene Rechnungen begleichen wird, steht noch zur Debatte. Jetzt heißt es erst mal: Wunden lecken und wieder im schwäbischen Winter ankommen.

Mehr zum PEdAL ED Atlas Mountain Race findet ihr auf pedaled.com


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Text: Alexander Bethge Fotos: Jonathan Hines, Marc Lehmann, Nils Laengner