Gebäude kann man bauen. Maschinen kann man kaufen. Eine Produktion kann man planen. Aber mit Expertise ist es so eine Sache. Expertise kann man nicht kaufen. Expertise muss wachsen. Und sie wächst langsam – manchmal über Generationen hinweg. Expertise gedeiht in einem Ökosystem aus Fähigkeiten, die sich gegenseitig ergänzen. Sie ist nicht planbar. Und so langsam sie entsteht, so schnell kann sie wieder verschwinden. Wir sind an einem Ort, an dem Expertise gewachsen ist. Der Ort heißt Markina-Xemein – und er liegt in der baskischen Provinz Bizkaia.

Kaum jemand würde bei „Wer wird Millionär?“ laut „Baskenland!“ rufen, wenn nach einer der ältesten Industrieregionen Europas gefragt würde. Dabei wäre die Antwort ein echter Volltreffer. Denn schon im 12. Jahrhundert wurde hier Erz aus den immergrünen Bergen geklöppelt und in einfachen Lehmöfen zu Eisen geschmolzen. Parallel dazu entwickelte sich auch die Metallverarbeitung. Heute ist das Baskenland ein Hightech-Standort. Maschinenbau, Luft- und Raumfahrt, Automobil- und eben auch die Bike-Industrie machen die autonome Region im Norden Spaniens zu einem Geheimtipp für Freunde feiner Fertigungstechnik und exquisitem Metallverarbeitungs-Know-how.



Kollektiv erfolgreich – OQUO Wheels ist eine Kooperative
Nach einer kurzen Nacht in Vitoria und einer langen Fahrt durch die baskischen Berge stehe ich vor einer unscheinbaren „Nave“ in einem schmucklosen Gewerbegebiet – der Heimat von OQUO Wheels. Eine Nave ist eine Fertigungs- oder Lagerhalle. Aber auch das Mittelschiff einer Kirche wird „Nave“ genannt – und ein Raumschiff? Auch „Nave“. Und tatsächlich passt der Anspruch von OQUO ganz gut unter das gemeinsame Dach: viel lokale Fertigungskompetenz, ein gewisser missionarischer Eifer in Bezug auf Fertigungstoleranzen und Oberflächenqualitäten – und ein Hauch von Science-Fiction.
Das Unternehmen mit dem sperrigen Namen hat seine Wurzeln im Orbea-Kosmos, versteht sich aber als eigenständige Marke und ist – wie vieles im Baskenland – genossenschaftlich organisiert. Jeder Mitarbeiter kann Anteilseigner werden, die Entlohnung erfolgt entlang transparenter Gehaltsstufen, und die Entscheidung darüber, ob Gewinne ausgeschüttet oder reinvestiert werden, wird im Kollektiv getroffen. Das Unternehmen gehört den Mitarbeitern. Das wirkt auf den ersten Blick etwas sperrig und abstimmungsintensiv, hat sich aber bewährt.
Bei so viel Vorzeigeunternehmertum müsste der Firmenname eigentlich stolz auf dem Hallendach thronen. Dass er das nicht tut, hat einen profanen Grund: die Sorge vor bikeaffinen Langfingern. Denn hinter der schmucklosen Fassade lagert ein Schatz aus Kohlefaserfelgen, CNC-gefrästen Nabenkörpern – und eben Expertise.


Fugenlos glücklich – die Q10-Nabe von OQUO möchte mit hoher Fertigungsqualität beeindrucken
Kurz nach Betreten der Produktion stehe ich schon hoffnungslos überfordert im Entwicklungslabor. Eingriffswinkel, Sperrklinkenprofile, Aluminiumlegierungen – in einem euphorischen Spanisch-Englisch-Stakkato prügelt mir Juan Carlos Cambronero, Wheel Engineering Manager bei OQUO, ein Proseminar zum Thema Nabenentwicklung in den Kopf. Mein Hirn kapituliert. Einige Café Solo später beginnen sich die Fragmente zu einem Bild zusammenzufügen. Der Grund für die Euphorie des Entwicklerteams heißt Q10. Q10 ist kein Droide aus dem neuen Star Wars-Sequel. Q10 ist eine Nabe – aber nicht irgendeine. Sie ist die erste vollständig selbst entwickelte Nabe der Basken. Und sie ist nicht nur „Designed in the Basque Country“, sondern auch „Manufactured in the Basque Country“. Nabenkörper, Achse und Freilaufkomponenten werden von OQUO und seinen lokalen Zulieferern vor Ort produziert und von Hand montiert. Lediglich die Lager stammen von einem Partner aus Japan.

Wenn man von außen auf das Thema Produktion schaut, werden Produktionsstandorte zu Variablen, die sich beliebig hoch- und runterskalieren oder aus Kostengründen direkt verlagern lassen. In der Realität sieht das anders aus. Nicht alles ist austauschbar oder beliebig reproduzierbar. Juan Carlos zerlegt vor meinen Augen einen Freilauf und demonstriert, wie die verschiedenen Bauteile ineinandergreifen. Ich nicke beeindruckt. Juan Carlos schüttelt energisch den Kopf. Falscher Freilauf. Ein Wettbewerber. Erst jetzt ist der Q10-Freilauf an der Reihe. Tatsächlich ist die Formschlüssigkeit der Bauteile auf einem anderen Level. Der Freilauf verschwindet fast fugenlos im champagnerfarbenen Nabenkörper. Das hat etwas sehr Befriedigendes. Ich beginne zu verstehen, was OQUO mit Expertise meint, wenn sie über lokale Fertigungskompetenz sprechen.
Dann zieht das Erklärtempo wieder an: acht Prozent Eingriffswinkel, keramikbeschichtete Oberflächen und ein aus dem Vollen gefräster Nabenkörper aus einer 7075-T6-Aluminiumlegierung – Luft- und Raumfahrt halt. Wie war das noch mit Science-Fiction?
Es ist schwer, die Vorteile all dieser Features in Zahlen zu fassen, doch eines wird klar: Jedes Detail wurde einzeln betrachtet, hinterfragt und optimiert – bis hin zur Wartungsfreundlichkeit. Die Q10 lässt sich komplett werkzeugfrei zerlegen und wieder zusammensetzen. So kann auch das eigens entwickelte Öl-Fett-Schmiermittel leichter appliziert werden. Je nachdem, wie großzügig die Schmierung aufgetragen wird, verändert sich der Freilaufsound. Akustisch dezent bleibt das Räderwerk in seinem fein gelaserten Gehäuse aber auf jeden Fall – sehr zum Unmut mancher Tour-de-France-Profis, wie wir beim Tourstart in Lille feststellen durften.

Rollenspiele – Ein Laufradleben auf dem Prüfstand
Die Q10-Nabe ist das Herzstück von OQUOs neuen Ltd-Laufrädern.
Die Ltd Wheels bilden eine eigenständige Road-Serie, ergänzt durch das Gravel-orientierte Modell RP50 Ltd. Am Orbea Terra Race haben die Wheels zumindest schonmal Schotterpotential andeuten können.
Doch bevor irgendein Wheel Richtung Podium abbiegen darf, muss es erst einmal auf dem Prüfstand seine Runden drehen. Denn auf jede Neuentwicklung wartet ein mehrstufiges Testprozedere. Den Auftakt macht die UCI-Zulassung. Um die grundsätzliche Resistenz eines Laufrads zu testen, hat der Weltverband ein Standardverfahren ersonnen, das klingt, als stamme es direkt aus der mittelalterlichen Folterkammer: Ein silikonbeschichteter Stahlblock fällt mit 40 Joule Wucht auf eine unbereifte Carbonfelge – Game-of-Thrones-Vibes im Namen der Sicherheit. Übersteht die Felge den Einschlag ohne sichtbare Schäden, ist der UCI-Haken gesetzt.
Mit den realen Belastungen des Asphalt- oder Schotteralltags hat dieser Test allerdings nur bedingt zu tun. Vor allem sagt er wenig über die Langlebigkeit eines Laufrads aus. Die meisten Hersteller haben deshalb eigene Testverfahren und proprietäre Standards entwickelt. OQUO setzt dabei auf die Rolle – beziehungsweise den Rollenprüfstand: Reifendruck, Fahrergewicht, Geschwindigkeit – aus diesen Parametern mixt das Team um Quality Manager Aitor Juaristi ein künstliches Laufradleben. Das Äquivalent von 50.000 Straßenkilometern muss jeder Prototyp hier abspulen. Danach wird zerlegt: Naben auseinander, Felgen ins Röntgengerät.
Das Gleiche gilt übrigens für die Laufräder, die am Ende der Saison aus dem WorldTour-Zirkus zurück ins Baskenland rollen. Seit 2025 rotieren OQUO-Wheels in den Bikes des belgischen Lotto-Teams. Für die Basken geht es dabei nicht nur darum Likes und Siege zu sammeln, sondern vor allem Erfahrungen. Ein Laufrad, das nach einem Streusalzwinter auch noch einen Kopfsteinpflasterfrühling und einen Tour-de-France-Sommer in den Speichen hat, ist für OQUO ein Hauptgewinn – ein Stück rollende Empirie.
Es liefert Erkenntnisse über Belastung, Verschleiß und Materialverhalten, die keine Software der Welt simulieren kann. Zusammen mit dem Feedback der Fahrer und des Teams – besonders, wenn es um Steifigkeit, Aerodynamik und Handling geht – fließen diese Erkenntnisse in die Entwicklung der nächsten Laufradgeneration ein. Und die braucht Zeit: Drei Jahre hat es im Fall der OQUO-Ltd-Wheels gedauert, bis aus der Idee ein fertiges Laufrad wurde.

Betreutes Schrauben – Bei OQUO Wheels unterstützt die Messtechnik den Menschen
Wer beim Thema Carbon-Laufräder an Autoklaven und Carbon-Moulds denkt, wird enttäuscht. OQUO definiert in der Felgenentwicklung die Charakteristika der Rims und gibt Profile und Materialstärken vor. Die Felgen selbst werden jedoch in Asien produziert. Carbonproduktion vor Ort? Es gibt nur wenige, zumeist kleine Manufakturen, die Carbon-Komponenten in Europa herstellen. Neben den Produktionskosten spielt auch hier das Thema Expertise eine Rolle. Das Carbonfertigungs-Know-how liegt in Asien. Hier werden die Kohlefaserteile in skalierbaren Stückzahlen mit konsistent hoher Qualität produziert – und das zu einem Preis, der mit europäischen Lohnkosten kaum abbildbar ist. Denn Carbonherstellung ist noch immer viel Handarbeit.
Etwas erleichtert stelle ich fest, dass auch im Laufradbau noch immer die feinmotorischen Fähigkeiten der OQUO-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter gefragt sind. Zumindest bei den High-End-Laufradvarianten passiert hier fast alles von Hand. Zuerst werden die Speichen in die Nabe gehängt, durch die Felge geführt und mit den Nippeln gekontert.
Die eigentliche Magie geschieht danach: In einer speziellen Station werden die Laufräder eingespannt und die Speichen schrittweise auf Spannung gebracht. Ein Messgerät an der Felge überwacht dabei kontinuierlich den Rundlauf. Die Live-Daten sieht man auf einem Screen. Der Toleranzbereich ist winzig – laterale oder radiale Abweichungen im Zehntelmillimeter-Bereich lassen den Kontrollscreen sofort rot aufleuchten. Erst wenn das Display auf Grün springt, darf das Laufrad entnommen werden.
Bei jedem Wheel ist so dokumentiert, mit welcher Speichenspannung und Rundlaufabweichung es aufgebaut wurde – und von wem. In der Praxis führt das dazu, dass die Mitarbeiter selbst dann noch nachjustieren, wenn die Zentrierampel längst auf Grün steht.



Laufradyoga im Dreivierteltakt
Könnte das eine Maschine nicht präziser? Nein. Denn es reicht nicht, einfach alle Speichen mit einer vordefinierten Anzahl von Nippelumdrehungen auf Spannung zu bringen. Jede Felge hat ihren eigenen Charakter, jede Speiche eine minimal andere Länge, und auch kein Nippel ist genau wie der vorherige. Ein gutes Laufrad entsteht nicht durch maschinelle Präzision, sondern durch einen iterativen Prozess aus Spannung und Entspannung. Die Kunst des Laufradbaus liegt darin, sich über feinfühlige Justierung einzelner Speichen Schritt für Schritt an den idealen Rundlauf heranzutasten – und dabei eine möglichst homogene Gesamtspeichenspannung zu wahren. Hier drei Viertelumdrehungen vor, dort eine Achtel zurück. Was nach einer Mischung aus Laufradyoga, langsamem Walzer und patinabehafteter Radromantik klingt, geschieht bei OQUO in atemberaubender Geschwindigkeit und im großen Stil. Auch das ist Expertise.
OQUO ist kein Nischenhersteller: 100 Mitarbeiter, acht Produktionslinien, 1.500 Laufräder pro Tag. Von Alu-Einstiegsmodellen mit zugekauften Naben bis hin zu den exklusiven Hochprofil-Ltd-Wheels mit den vor Ort produzierten Q10-Hubs decken die Basken mit ihrem Portfolio eine enorme Bandbreite ab. Aber Hand aufs Herz – ginge das nicht letztlich auch in Asien? Theoretisch vielleicht. Doch der Fokus der Basken liegt woanders. Flexibilität, Leidenschaft für den Radsport und Lieferketten-Autonomie: All diese Standortvorteile sprechen für Markina-Xemein. „Und natürlich die Expertise“, sagt Juan Carlos und lächelt, während er den Freilauf ein letztes Mal passgenau im Nabengehäuse verschwinden lässt.
Hinter mancher Markenfassade steckt bei genauerem Hinsehen lediglich ein klangvolles Marketingversprechen, garniert mit einem Hauch eigener Entwicklungskompetenz. Die Produktion? Outgesourct. Bei OQUO Wheels ist das anders. Mit großer Ernsthaftigkeit und voller Überzeugung testen die Basken Konzepte, sammeln Feedback, produzieren Komponenten und bauen eigenständige Laufräder. Vor Ort. Im Baskenland. Im Kollektiv.
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Text: Nils Hofmeister Fotos: Nils Hofmeister
