Mit dem Namen Marcus Burghardt verbindet jeder Radsportbegeisterte den Inbegriff von bedingungsloser Opferbereitschaft. Wir hatten die Freude, einen Nachmittag mit dem BORA-Hansgrohe-Fahrer auf dem Rad und vor dem Grill zu verbringen. Wie tickt der Typ, der seine Beine seit Jahren in den Dienst anderer stellt?

„Ich bin froh, kein Klassementfahrer zu sein.“ Keiner hat im letzten Jahrzehnt den Begriff des Domestik im Straßenradsport derart geprägt wie Marcus Burghardt, der seit 2017 die Schuhe für das deutsche WorldTour-Team BORA-Hansgrohe schnürt. Durch seine Rolle als loyaler Helfer, der sich für seine Kapitäne bis über die Schmerzgrenze hinaus in den Wind stellt, hauchte er dem früher als Wasserträger verpönten Begriff neue Popularität ein. Seine vollständige Aufopferung für das Wohl des Teams ist legendär. Marcus Burghardt ist der Fels in der Brandung, auf dem ein Leuchtturm gebaut wird. Ohne seine Stärke ist es selbst für den talentiertesten Fahrer nicht möglich, hell zu strahlen.

Ein Domestik hilft den Fahrern nach einem Sturz wieder ins Rennen, er dient als Schrittmacher, versorgt die anderen mit Snacks oder Wasser. Erst durch treue Helfer wie Marcus ist es seinen Teamkollegen Peter Sagan und Emanuel Buchmann überhaupt möglich, um Siege und Spitzenplatzierungen im Gesamtklassement mitzufahren. Aus Marcus’ Sicht wird man in diese Rolle hineingeboren und braucht das bestimmte Gespür und die richtige Einstellung, um sie perfekt zu erfüllen. Und das tut er: Wenn man sich die Highlights der großen Frankreich-Rundfahrt 2011 anschaut, sieht man den späteren Gesamtsieger Cadel Evans oft versteckt hinter dem groß gewachsenen Deutschen fahren: Der gebürtige Sachse hatte mit seiner Leistung einen Bärenanteil am Gesamtsieg des Australiers. Persönliche Podiumsplatzierungen spielen für Domestiken bei der Planung des Lebenslaufs eine untergeordnete Rolle. Trotzdem gibt es einige herausragende Meilensteine für den Edelhelfer Marcus: den Sieg bei Gent-Wevelgem, einen Etappensieg bei der Tour de France und den großen Erfolg als deutscher Straßenmeister 2017.

Das Hobby zum Beruf gemacht

Wer Marcus Burghardt auf einer der kurvigen Straßen trifft, die durch die sattgrünen Wiesen rund um das bayerische Rosenheim führen, sieht einen dankbaren Menschen. Er hat sein Hobby zum Beruf gemacht und kann damit seine Familie ernähren – und das seit knapp 15 Jahren. Natürlich gibt es auch Schattenseiten. Jede Medaille hat zwei Seiten, da macht der Hochleistungssport auf dem Rad keine Ausnahme. Ungemütliche Trainingsfahrten und Rennen bei Kälte und Nässe, Unfälle und Verletzungen bei hohen Geschwindigkeiten und der Druck der Sponsoren sind Belastungen, die den Fahrern sowohl körperlich als auch psychisch enorm zusetzen.

Lüttich, 3 °C und Dauerregen. Du wusstest: Kacke, jetzt fährst du die ganze Zeit im Regen rum. Da wünschst du dir schon mal, dass du Schwimmer oder so bist.

Als wir uns an Marcus’ Seite gesellen, hat der Fahrer von BORA-Hansgrohe bereits sechs Stunden im Voralpengebiet in den Beinen. Während wir mit mehr oder weniger frischen Beinen versuchen, die Anstrengung am ersten Anstieg zu unterdrücken und wenigstens für die erste halbe Stunde zu wirken wie ein halbwegs ebenbürtiger Begleiter, holt Marcus das Smartphone aus der Tasche und plaudert mit einer Gelassenheit drauflos, als läge er gerade am Chiemsee und würde sich das Bergpanorama anschauen. „300 Watt tun schon weh“, sagt er nebenbei – ist klar, Marcus. 😉 Zum Glück sieht er in dem Moment nicht, dass unsere Beine bereits so übersäuert sind, dass sich das Laktat bis in die Zehenspitzen ausgebreitet hat. Wir fahren bei bestem Kaiserwetter ein Stück seiner Hausrunde am Samerberg und werden direkt neidisch: Bergblick statt Hochhausallee, Kuhgemuhe statt Hupkonzert. Hier lässt es sich aushalten!

Kein Wunder, dass Marcus in diesem Umfeld sehr reflektiert mit seiner Karriere umgehen kann. Er erzählt uns, wie er und seine Sichtweise sich im Laufe der Zeit verändert haben. Was auf den Rennen passiert, nimmt er nach neun Teilnahmen an der Tour de France und mehr als 30 Klassiker-Rennen anders wahr als noch zu Beginn seiner Laufbahn. Zum Beispiel das Engagement der Fans: „Die Leute pilgern für dich hoch nach Alpe d’Huez und feuern dich mit frenetischem Beifall an – Wahnsinn!“ Aus dem Grund möchte Marcus auch mal etwas zurückgeben, nachdem er so viele Jahre etwas bekommen hat. Die Fans neben der Strecke sind ihm unglaublich wichtig und er ist für ihre Unterstützung immer dankbarer geworden.

Wurzeln in Sachsen, Herz in Bayern

Auch wenn Marcus Burghardt vor 37 Jahren in der Nähe von Chemnitz das Licht der Welt erblickt hat: Er ist leidenschaftlicher Bayer und wohnt mit seiner Frau Maria und den beiden Töchtern in Samerberg/Rosenheim in der Nähe des Chiemsees. Wenn man als Radprofi die Liebe seines Lebens kennenlernen will, muss man das am besten bereits vor der Karriere machen oder eben während des Bikens. So war es auch bei Marcus: Während einer Rundfahrt hat er Maria getroffen und sie direkt zur Tour de France eingeladen. Würden wir altes Videomaterial aus dieser Zeit anschauen, fänden wir bei einer Tour garantiert einen Marcus Burghardt wieder, der etwas abgelenkt ständig zum Streckenrand blickt und hofft, seine Maria unter den Fans zu finden. Sie ließ ihn jedoch lange zappeln: Erst an den Champs-Élysée hat sie ihren zukünftigen Mann in Empfang genommen. Seitdem ist Maria aus dem Leben des Familienmenschen nicht mehr wegzudenken und schaut sich jedes seiner Rennen an, um zu sehen, ob alles passt – auch wenn sie die Angst vor einem Unfall nie vollständig ausblenden kann.

Lederhosen und Kohlrabi

Marcus liebt die Berge, das bayerische Leben und die Traditionen. Laut Maria gibt es für ihren Mann genau zwei Outfits: das BORA-Hansgrohe-Kit auf dem Bike und die Lederhosen, sobald er nicht mehr im Sattel sitzt.

Als wir im gemütlichen Garten Platz genommen haben, kommt der Vater von Maria vorbei. Er bekommt ein Bier gereicht, stößt mit uns an und erzählt vom Wettstreit mit seiner Tochter: Wer hat den größten Kohlrabi im Garten!? Kein Wunder, dass sich der Radprofi hier pudelwohl fühlt! Auch wenn er angesichts unseres Feierabendbiers beteuert, dass er Alkohol nur selten zu Gesicht bekommt und das Herbstfest in Rosenheim dem Oktoberfest in München vorzieht. Mit einem Radler muss man Marcus aber nicht kommen, denn das wird hier in Bayern nur im kleinen Fanta-Glas ausgeschenkt.

Bayern? ‘sch guad, oder?

Während der gemeinsamen Ausfahrt und dem anschließenden Beisammensein wird einem in Marcus Burghardts Gesellschaft schnell klar: Hier ist jemand trotz der zahlreichen Erfolge und der Popularität auf dem Boden geblieben. Marcus ist kein Typ für große Auftritte im Rampenlicht, Podiumsplatzierungen am Laufband oder selbstverherrlichende Videos auf YouTube, das überlässt er gerne anderen. Der BORA-Hansgrohe-Fahrer ist von Grund auf ein bescheidener und nahbarer Mensch, der durch seine warmherzige und gesellige Art gut ankommt. Wer ihn in vollem Elan und in völliger Offenheit erleben möchte, sollte ihn in Lederhose am Grill antreffen – das Glück hatten wir!

Vom Bike an den Grill und zurück

Neben einem gut strukturierten Training ist das A und O vieler Radsportler ein Ernährungsplan, der perfekt auf den Fahrer und seine jeweiligen Bedürfnisse abgestimmt ist. Da darf in Bayern natürlich auch frisches Wild nicht auf der Speisekarte fehlen! Wie kommt es, dass Marcus der Koch im Haus ist, obwohl er früher nie in der Küche stand? Zu Weihnachten hat er Maria ein Kochbuch von Jamie Oliver geschenkt, ganz ohne Eigennutz und Hintergedanken natürlich. Nachdem es unter Umständen – und das ist reine Spekulation – nicht sofort genutzt wurde, hat Marcus die Initiative ergriffen und die Sache selbst in die Hand genommen. Seitdem duftet es aus der Küche der Burghardts regelmäßig köstlich nach Gams, Rind und Hühnchen.

Eine Küche ist Lebensqualität.

Besonders stolz ist Marcus auf die neue Küche und den 13-Liter-Suppentopf: „Ich könnte euch jetzt innerhalb von 10 Minuten eine geile Suppe kochen.“ Mitten in der Küche prangt eine große Kochinsel aus Stein, um die alle herumsitzen können. Marcus ist abseits der Radtrubels gerne Koch, lädt mit einer Schürze um den Hals Freunde und Verwandte ein und verwöhnt seine Gäste mit Freude. Das können wir uns nach den ersten Eindrücken und gemeinsamen Stunden bildlich vorstellen! Heute steht aber keine Suppe auf der Karte, sondern eine Gams vom Samerberg. Köstlich! Eins ist sicher: Mit Marcus als Freund sollte man sich an möglichst vielen Trainingsausfahrten beteiligen, um nicht in kurzer Zeit eine stattliche Plauze vor sich her zu schieben!

Sein liebstes Arbeitsgerät – Das Specialized S-Works Roubaix Team

Aber wann wurde eigentlich der Grundstein für diese erfolgreiche und lange Karriere als Radprofi gelegt? Im Alter von neun Jahren hat Marcus ein Diamant-Rennrad mit Rahmenschaltung geschenkt bekommen und ist seitdem mit ziemlicher Sicherheit einmal von der Erde bis zum Mond geradelt; die knapp 385.000 km erreicht unsereins höchstens in seinem alten Diesel. Wer so lange im Rennradkosmos herumgeflogen ist, ist viele Bikes gefahren und hat noch mehr gesehen, und so hat auch Marcus die Bike-Entwicklung der letzten Jahrzehnte voll mitbekommen. Sein derzeitiger Favorit? Das Specialized S-Works Roubaix, das wir auch bei unserem letzten Vergleichstest dabeihatten.

Für lange Trainingsfahrten, auch bei kalten Temperaturen und schlechten Straßenverhältnissen, legt der Domestik unseres Vertrauens großen Wert auf viel Komfort, will aber auf High-Performance nicht verzichten; da ist er mit dem Komfort-Renner aus dem Hause Specialized definitiv gut aufgestellt.

Paris-Roubaix? Oh ja. Endlich ein Männerrennen!

Klassiker-Rennen wie Paris-Roubaix sind für Marcus und seine Helferkollegen immer eine Riesengaudi. Während die Klassementfahrer leiden, drückt Marcus richtig aufs Gas und lässt sich auch von den fiesesten Kopfsteinpflastern nicht beeindrucken. Die Future Shock-Dämpfung lässt er die meiste Zeit geschlossen und öffnet sie erst im Sektor. Mindestens genauso wichtig ist beim Hahnenkampf auf dem Pavé regelmäßiges Essen, da wird die Dämpfung auch mal schnell vergessen. Zwar hat der Wahl-Bayer seine Lieblings-Bikes, doch spielt das Material für ihn eine untergeordnete Rolle – Hauptsache, es geht vorwärts. Mit einem Specialized Venge fährt man natürlich deutlich schneller als mit vielen anderen Bikes und zum Siegen braucht es heute spezielle Technologien. Für das Ausleben seiner Passion tut es aus Marcus’ Sicht aber eigentlich alles auf zwei Rädern. So einfach kann das Leben eben manchmal sein!

Ob auf dem Bike oder vor dem Grill, wir hatten mit Marcus eine wahnsinnig gute Zeit. Es ist toll zu sehen, wie nahbar und ehrlich einer der beständigsten deutschen Radsportler der letzten zehn Jahre uns Normalos gegenübertritt. Starallüren? Fehlanzeige! Der BORA-Hansgrohe-Fahrer hat uns auf seine sächsisch-bayerische Art einen tollen Einblick in sein Leben als Radsportler und auch als Familienvater gegeben. Vielen Dank, lieber Marcus, und dir weiterhin alles Gute!


Hier findet ihr unseren ersten Test zu Marcus Burghardts Lieblingsrad, dem Specialized S-Works Roubaix.


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Text: Benjamin Topf, Philipp Schwab Fotos: Benjamin Topf