Carbon-Laufräder sind das Performance-Upgrade fürs Drop-Bar-Bike. Die Zauberformel aus Speed, Komfort und Leichtbau macht die schwarzen Kohlefaser-Ringe zu den It-Pieces im Komponenten-Universum. Doch wie viel Entwicklungsarbeit steckt wirklich in einem Felgenprofil und wie fühlen sich 40 Joules Aufprallenergie an? Wir haben uns nach Südengland aufgemacht und mit HUNT Wheels einen Hersteller besucht, der uns das genau erklären kann.

Wer südlich von London von der A23 abbiegt, der lässt sich von den efeuumrankten Sträßchen schnell ins Klischee führen. Ein verwachsenes Ortsschild, eine liebreizende Sandwich-Lady, die mich konsequent „Darling“ nennt, während sie zentimeterdick Thunfisch-Mayonnaise auf mein Weißbrot pinselt, ein Pub, der Laufräder noch aus einer Zeit kennt, als sie an Postkutschen montiert wurden, und ein Ensemble alter Backsteingebäude, bei dem man nicht weiß, ob die Ziegel von Mörtel oder Herzblut zusammengehalten werden. Willkommen in Partridge Green, der Heimat von HUNT. Ich wäre nicht wirklich überrascht, wenn ein Mitarbeiter gleich mit einem Ast aus dem Wald käme und anfangen würde, Holzspeichen zu schnitzen. Stattdessen stehe ich vor einem orange schimmernden 3D-Prototypen-Drucker.
Geschichten von 1001 Rad – HUNT Wheels hat für jedes Bike das passende Laufrad
HUNT Bike Wheels wurde 2015 von den Brüdern Tom und Peter Marchment gegründet. Seitdem ist viel passiert. Schneller, leichter, weniger windanfällig und vor allem immer breiter – Laufräder haben in den letzten 10 Jahren enorme Entwicklungssprünge gemacht. Sie prägen den Charakter eines Bikes, erweitern oder beschränken die Einsatzmöglichkeiten und sind zu einem integralen Bestandteil der Aero-Optimierung geworden. So integral, dass viele große Hersteller Laufräder nicht mehr zukaufen, sondern diesen Teil der Wertschöpfungskette direkt mit abbilden. Egal, ob Specialized mit Roval, Trek mit Bontrager oder Giant mit Cadex, ein hochwertiger Laufradsatz wird heute oft schon ab Werk geliefert und nicht mehr als Upgrade nachgerüstet.

Eigentlich ein schwieriges Umfeld für einen unabhängigen After-Market-Ausrüster. Aber „eigentlich“ gilt nicht. HUNT-Wheels ist auf Wachstumskurs. Zu Coronazeiten haben bis zu 400 Laufradsätze am Tag das Lager verlassen, und auch wenn die „Crazy Times“ vorbei sind, geht die aktuelle Krise der Bike-Branche weitestgehend an den Engländern vorbei. Wem ein neues Bike gerade zu teuer ist, der greift stattdessen zum Wheel-Update oder macht das Gravel-Bike mit einem zweiten Laufradsatz zum Road-Racer. Die Krise als Chance.
Wer sich durch das Portfolio von HUNT klickt, dem wird erstmal schwindelig bei der enormen Bandbreite an Laufradsätzen für fein abgestimmte Einsatzzwecke. „Purpose built wheels“ nennt sich der Ansatz, der jeder Fahrerin und jedem Fahrer zum individuell optimalen Laufradsatz verhelfen soll. Ob Alu, Carbon, Rim, Disc, Keramik oder Stahllager, niedrig- oder hochprofil Felge, Gravel, Road oder MTB-Einsatz – das Angebot ist gigantisch. „Ist das nicht ein wenig verwirrend?“, frage ich ein wenig verwirrt und sehne mich heimlich nach klaren Positionierungen und griffigen Marketingclaims.

„We don’t make wheels for product managers but for riders“, kontert Tom meinen Wunsch nach Vereinfachung. „We want to build the wheels we want to ride ourselves.“ Und tatsächlich scheint jeder der rund 50 Mitarbeiter bei HUNT Wheels eine besondere Beziehung zum Bike zu haben. Von der Single-Speed-Fraktion, die auf eine glorreiche, feucht-fröhliche Historie von Single-Speed-WM-Besuchen zurückblickt, über Abbie, die mit ihren Cyclocross-Erfolgen meinen Angstpuls schon vor dem Group-Ride in die Höhe treibt, bis hin zu Entwicklungsingenieur Paddy, der beim Blick auf meine unrasierten Beine fast beschämt zugibt, tief im „Aero-Game“ zu stecken.




Profil mit Charakter – HUNT Wheels setzt eigene Schwerpunkte
Wer hofft, in Partridge Green auf Kohlefasermatten, Rohlinge, Backformen und Carbon-Öfen zu treffen, wird enttäuscht. HUNT entwickelt vor Ort, fertigt in Asien und verschickt die Laufräder in den meisten Fällen direkt an die Endkunden. Dass der Direktvertrieb und die Fremdproduktion kosteneffizient sind, erschließt sich, aber wie viel eigenes Know-how steckt wirklich in den Laufrädern?
Viele moderne, aerodynamisch optimierte Felgenprofile sehen sich auf den ersten Blick ziemlich ähnlich. Ohne Decals wäre es für den Durchschnittsfahrer schwer zu erkennen, welche Marke gerade am eigenen Hinterrad kreiselt. „The devil is in the detail“, erklärt mir Entwicklungsingenieur Oli und flutet meine Synapsen mit einer Flut an Informationen zu Materialstärken, Kurvenradien und Belastungsspitzen. Doch bevor Oli und sein Team in die Details eintauchen können, steht erstmal die Grundsatzentscheidung an, was das Laufrad eigentlich können soll – und hier landet man im Drop-Bar-Bereich schnell beim Thema Reifenbreite.

Egal ob Road- oder Gravel-Racer, aktuell ist noch kein Ende des Pneu-Wachstums in Sicht. Reifenbreite rauf, Luftdruck runter lautet die aktuelle Zauberformel für maximale Effizienz und minimalen Luftwiderstand. Damit diese Gleichung aufgeht, müssen allerdings die Felgenbreiten nachziehen. Denn nur ein Reifen, der sich nicht bauchig vor der Felge wölbt, sondern U-förmig mit ihr abschließt, kann wirklich Watt sparen. Eine Felge sollte daher mindestens genauso breit sein wie der Reifen, aerodynamisch ausgereift, wenig windanfällig, tubeless ready und natürlich trotzdem leicht. Vor- und Hinterrad müssen dabei nicht zwangsläufig gleich aufgebaut sein. Da die Luft zuerst aufs Vorderrad trifft, ist das Aero-Optimierungspotenzial hier am höchsten. Hohe Felgenprofile und breite Felgen können da besonders punkten. Das Hinterrad rotiert aerodynamisch indifferenter im Windschatten des Sitzrohrs. Hier kann eventuell ein niedrigeres Felgenprofil die Windanfälligkeit minimieren oder eine schmalere Felge Gewicht sparen.

Am Rechner spielen die HUNT-Entwickler auf Basis dieser Zielvorgaben verschiedene Profile und Designideen durch und verändern in einem iterativen Prozess Nuancen am Radius der Felgenflanke oder an der Materialstärke des Felgenbetts. Ziel ist es, auftretende Kräfte über die gesamte Konstruktion zu verteilen und materialermüdende Belastungsspitzen zu vermeiden. HUNT setzt dabei nicht auf Superlative. Es geht nicht darum, 0,3 Watt aus einer Konstruktion zu kitzeln und an der Grenze des technisch Machbaren divenhafte Nischenprodukte für eine spitze Zielgruppe zu kreieren, sondern um Langlebigkeit und auch Reparierbarkeit der Produkte.
Wenig exzentrisch ist laut Paddy auch die Charakteristik der Felgen bei Seitenwind. Die Kräfte nehmen dank des extrem bauchigen Profils linear zu, und plötzliche Böen lassen sich entspannter aussteuern als bei spitzer zulaufenden Designs. Die Engländer setzen hier eigene Entwicklungsschwerpunkte und versuchen, Berührungsängste mit High-End-Laufrädern abzubauen.


Mein Haus, mein Boot, mein HUNT-Limitless-Felgenhorn
Mit den wachsenden Felgenbreiten wachsen auch die Anforderungen an die Endverbraucher, sich mit der Kompatibilität von Reifen-Felgen-Kombinationen auseinanderzusetzen – Hookless macht es da nicht einfacher. Die European Tyre and Rim Technical Organisation (ETRTO) definiert hier Standards, welcher Reifen mit welcher Innenmaulweite benutzt werden darf. In der Praxis bedeutet das, dass z. B. ein 28-mm-Reifen nur für eine Innenmaulweite von bis zu maximal 23 mm freigegeben ist. Bei Felgen mit Breiten von 30 mm und mehr stellt das Hersteller vor konstruktive Herausforderungen. Wie schafft man es, eine breite Felge zu konstruieren, die auch mit schmaleren Reifen noch funktioniert? Der ETRTO-Standard ist keine gesetzliche Vorgabe, eher eine Selbstverpflichtung. HUNT hat sich entschieden, ihn für jedes Laufrad einzuhalten. Schließlich werden die Produkte nicht mit passenden Reifen am Werk vorkonfektioniert oder im Bike-Shop montiert, sondern sind oft die Basis für Selbstaufbauten und Eigenkreationen. Die Endkunden sollen alle Optionen haben und trotzdem sicher unterwegs sein.

In diesem Fall hat HUNT das Thema Innenmaulweite zum Anlass genommen, sich das Felgenhorn genauer anzuschauen. Ziel war es, nicht nur maximale Reifenkompatibilität zu gewährleisten, sondern diesen Teil der Felge so ins Aerodynamikkonzept einzubinden, dass das Rad auch schneller, stabiler und berechenbarer wird. Hierzu wurde das Felgenhorn massiv verbreitert. Um Gewicht zu sparen, wird dafür Polyethylen in einen Carbon-Kanal an der Seitenwand der Felge injiziert und mit einer Carbonschicht überzogen. Die neu gewonnene Fläche am Felgenhorn nutzen die Engländer, um mit dem Schriftzug „LIMITLESS PATENT TECHNOLOGY“ ihren Anspruch auf Technologieführerschaft zu unterstreichen.
Da die Laufräder aber nicht nur am Rechner und vor der Eisdiele überzeugen müssen, erfolgt die eigentliche Feuertaufe im Windkanal. Die vielversprechendsten Profile werden hierzu in Segmenten 3D-gedruckt, zu Modellen zusammengesetzt und eingespeicht. Wie ausdifferenziert der Laufradbau mittlerweile ist und wie tief man in jede Subkomponente einsteigen kann, lässt sich vielleicht am besten am Beispiel der Speichen nachvollziehen.



HUNT Wheels weiß, wie man ein Gewinde an eine Carbonspeiche bekommt
Carbonspeichen sind im Rahmen des von „Marginal Gains“ getriebenen Drop-Bar-Denkens eigentlich ein No-Brainer. Komfort, Steifigkeit und Gewichtsersparnis – wenn doch eh fast alles aus Carbon ist, dann doch bitte auch die Speichen. Also her damit. Aber halt! So einfach ist es nämlich nicht. Carbonspeichen erfordern hohe Fertigungskunst. Die Achillesferse des carbonbespeichten Laufrades sind die Übergänge der Speiche zur Nabe auf der einen und zur Felge auf der anderen Seite. Ein Gewinde wie bei Stahlspeichen kommt bei Carbon nicht in Frage. Die unidirektionalen Fasern reagieren allergisch auf Gewindeschneider. Manche Hersteller lösen das Problem, indem sie die Carbonspeichen fest mit der Felge verkleben. Das funktioniert so lange, bis eine Speiche bricht und das Laufrad dann nur teuer und aufwändig zu reparieren ist. Also doch ein Gewinde? HUNT setzt hierzu auf eine Technologie, bei der während des Aushärtungsprozesses des Carbons Metallelemente auf die konischen Speichenenden aufgesetzt werden. Am Felgenende erhält die Speiche so ein Stahlgewinde und am Nabenende einen Alu-Dorn. Was in der Produktion kompliziert ist, macht den Alltag mit dem teuren Material einfacher. Das Laufrad kann auf diese Weise ganz normal zentriert, repariert und gewartet werden.



Im Windkanal müssen die bespeichten Modelle dann zeigen, was sie draufhaben. HUNT veröffentlicht übrigens zu jedem aerodynamisch optimierten Laufrad umfangreiche Daten und Vergleichsdaten. Und zwar nicht nur, wenn das eigene Design am schnellsten ist, sondern auch, wenn mal andere Hersteller die Aero-Nase vorn haben. Für das Gewinnerprofil geht es dann in den Prototypenbau. HUNT definiert hier genaue Zielwerte, externe Partner übernehmen die Produktion. Der letzte Schritt vor der Serienfertigung sind die Sicherheitstests.
In der HUNT Wheels Felgenfolterkammer
Die UCI definiert Standards, welchen Belastungen ein Laufrad mindestens standhalten muss. Bei den UCI-Tests trifft ein flacher, mit einem Silikonpad gedämpfter Stahlblock mit einer Kraft von 40 Joules auf die unbereifte Felge. Die Felge muss den Einschlag ohne sichtbare Schäden überstehen. Im echten Leben sehen die Belastungen anders aus. Schlaglöcher, Bordsteinkanten, spitzer Schotter – die Real-Life-Hindernisse üben meist punktuelle und keine flächigen Belastungen auf die Laufräder aus. HUNT und andere Hersteller setzen daher zusätzlich zu den UCI-Tests auf eigene Testprotokolle.

Oli steht stolz vor einer archaisch anmutenden Maschine und hält einen Block mit einem fies aussehenden Metallkeil in der Hand. Dieser fällt in der hauseigenen Felgen-Folterkammer, ähnlich wie bei einer Guillotine, mit einer Kraft von 40 bzw. 70 Joules auf die bereiften Prototypen. 40 Joules entsprechen in diesem Szenario ungefähr der Begegnung eines 30 km/h schnellen 90-Kilo-Fahrers mit einem Bordstein. Autsch. Der Anspruch ist, dass die Felge den Aufprall schadlos übersteht. Und bei 70 Joules? Hier darf die Felge zwar Schäden aufweisen, soll dem Fahrer aber noch ein sicheres Abbremsen bis zum Stillstand ermöglichen, sofern er nicht beim Aufprall 15 Meter weiter im Gebüsch liegt. Bei den auftretenden Kräften ist das ehrlich gesagt das realistischste Szenario. Bei Gravel-Laufrädern liegen die Anforderungen noch mal höher. Ich nehme mit, dass ein Laufradbruch eines der unwahrscheinlichsten Sturzereignisse in einem HUNT-Biker-Leben ist.
Mit Liebe aus Dresden – Neuer HUNT-Hub mit eigenem Wheel-Building
Im kleinen, aber feinen Wheel-Building-Department werden gerade mit großer Sorgfalt ein paar rustikale Alu-Laufräder neu eingespeicht, die aussehen, als ob Tom und Pete 2015 auf ihnen zur Firmengründung geradelt wären. Das Wheel-Building-Department ist der Service-Hub für HUNT Wheels UK. Hier bekommen nicht nur online bestellte Laufräder ein wenig feinmechanische Zuneigung, sondern auch die Produkte, die über Bike-Shops verkauft wurden. HUNT nimmt den Serviceanspruch sehr ernst: drei Jahre Garantie, eine lange Ersatzteilversorgung und einen Crash-Replacement-Discount.
Seit 2020 bedient ein eigener Standort in Boulder, Colorado, den amerikanischen Markt, und seit Sommer 2024 gibt es auch einen HUNT-Hub in Dresden. Europäische Kunden bekommen ihre HUNT Wheels jetzt direkt aus Deutschland, und auch mögliche Reparaturen und Garantiefälle werden vor Ort abgewickelt. Das Beste daran: Endlich ist das durch den Brexit verursachte Zoll- und Steuerchaos Geschichte. Wer schon einmal eine Sendung beim Hauptzollamt seiner Wahl abholen musste, wird dem DHL-Boten vor Freude um den Hals fallen.



Weniger Geschichte und mehr Zukunft ist das Sustainability-Programm von HUNT. Eine Zukunft, die allerdings schon sehr konkrete Formen annimmt. Einerseits setzt HUNT auf eine Technologie, bei der sich Harz und Carbonfasern am Ende eines Laufrad-Lebens wieder separieren und weiterverwenden lassen. Aus einem alten Laufrad wird so zwar noch kein neuer Rahmen, aber vielleicht ein Flaschenhalter oder ein GPS-Mount. Andererseits finden sich auch heute bereits recycelte Carbonfasern in den weniger belasteten Bereichen einiger HUNT-Laufräder. Wenn man mit Abbie, der Produktmanagerin für UK und US, und Tom über das Thema Nachhaltigkeit redet, merkt man, dass es ihnen wichtig ist. Seit Mai 2024 gibt es auch eine eigene Produktlinie, bei der die beliebtesten Laufräder nochmal unter Nachhaltigkeitsaspekten neu entwickelt wurden.
Bei der Frage nach seiner Vision für das Unternehmen kommt Tom ins Schleudern. Kein vorformuliertes Mission-Statement, kein Performance-Versprechen, stattdessen ein unsicheres Lächeln. „I guess, I just want this to be a place where people enjoy to work and build wheels.“ Dann entschuldigt er sich. Das nächste Meeting ruft. Ich glaube, er geht Radfahren.




Weitere Infos findet ihr unter huntbikewheels.com
Hat dir dieser Artikel gefallen? Dann würde es uns sehr freuen, wenn auch du uns als Supporter mit einem monatlichen Beitrag unterstützt. Als GRAN FONDO-Supporter sicherst du dem hochwertigen Bike-Journalismus eine nachhaltige Zukunft und sorgst dafür, das die New-Road-Welt auch weiter ein kostenloses und unabhängiges Leitmedium hat. Jetzt Supporter werden!
Text: Nils Hofmeister Fotos: Nils Hofmeister