Zwei Zwischenfälle im Profi-Peloton haben zu einer breiten Diskussion über die Sicherheit von Hookless-Felgen geführt. Die UCI prüft Konsequenzen. Aber was heißt das alles für uns Endverbraucher? Wir beleuchten die Hintergründe und haben wichtigen Playern aus der Industrie die Gretchenfrage gestellt: Hooked- oder Hookless-Felgen?
Das sah schon übel aus: Durchschlagschutz gerissen, Dichtmilch überall und ein von der Felge gesprungener Reifen. So stand das Bike von Thomas De Gendt nach seinem Sturz auf der 5. Etappe der UAE Tour an der Leitplanke. Noch im vergangenen Jahr hatte die ETRTO (European Tyre and Rim Technical Organisation) Änderungen an den Empfehlungen für kompatible Reifen- und Felgengrößen mit hakenlosen Tubeless-Systemen vorgenommen, die kaum Beachtung fanden. Erst die Dramatik der Bilder, die nach diesem live übertragenen Sturz durchs Internet eilten, brachte die Diskussion über die Sicherheit von Hookless-Felgen so richtig ins Rollen. Die eigentliche Frage aber ist: Welche Vor- und Nachteile bietet diese Technologie für den Endverbraucher ohne Materialwagen und Team-Mechaniker wirklich? Und ist ihre Verwendung sicher?
Guter Deal, theoretisch
Aber von vorne. Der Deal, den die Hersteller von Hookless-Felgen anbieten, geht theoretisch so: Wir können durch einen vereinfachten Herstellungsprozess, der wiederum Arbeitsschritte, Material und Abfallprodukte reduziert, theoretisch bis zu 20 % der Herstellungskosten einsparen. Ihr fahrt dafür nur noch Tubeless-Reifen, bekommt verbesserte Aerodynamik, Gewichtsvorteile, mehr Kurvengrip, Stoßresistenz und Federung. Und das alles bei günstigeren Preisen. Klingt erstmal gut. Es ist also nicht verwunderlich, dass einige Brands mittlerweile ausschließlich auf die hakenlose Felge setzen. Darunter Branchenriesen wie Zipp (SRAM) und CADEX (GIANT).
Doch leider ist es nicht ganz so einfach. Erstens konnten Windtunneltests bislang keinen signifikanten Aerodynamikvorteil von Hookless-Felgen nachweisen, wie auch Ralf Eggert von DT Swiss bestätigt: „Wir haben Aero-Tests in Kooperation mit Swiss Side durchgeführt und die Performance von Felgen mit sowie ohne Haken miteinander verglichen. Wir konnten keinen aerodynamischen Vorteil von hakenlosen Felgen feststellen. Im Gegenteil: Unsere Messungen zeigten einen kleinen Vorteil der Hakenfelgen.“
Zweitens gibt es Felgen, die auch beim Gewicht der Hookless-Topmodelle mithalten können – und dabei nicht auf ein Felgenhorn verzichten. Drittens sind die beanspruchten Vorteile im Fahrverhalten auf ein vergrößertes Luftvolumen im Reifen und einen geringeren Reifendruck zurückzuführen. Beides kommt bei Hooked-Felgen mit breiten Innenweiten ebenso zum Tragen. „Bei niedrigem Luftdruck verbessert sich die Seitenwandstabilität auf Hookless-Felgen leicht, da die Karkasse nicht von einem Haken eingedrückt wird. Aber diese Unterschiede sind schwer zu quantifizieren und marginal”, sagt Patrick Brown, Entwicklungsingenieur bei HUNT. Aber: „Das Feedback der Fahrer und die Arbeit mit unseren Profis spricht für einen kleinen Vorteil.”
Und die Stoßresistenz? Ralf Eggert sagt: „Felgenprofile sind widerstandsfähig. Am Ende kommt es auf die Kombination von Reifen und dem richtigen Luftdruck an.“ Man könne den Luftdruck so weit absenken, dass jede Felge bricht.
Bleibt der Preisvorteil – wobei 2.900 € für die Zipp 454 NSW nicht gerade ein Schnäppchen sind. Die neuen Black Inc 48/58 liegen im selben Preissegment, sind 100 g leichter als die 454 NSW und haben eine Innenweite von 23 mm – und sind damit an dieser Stelle baugleich mit den Zipp. Nathan Schickel, Produktmanager bei SRAM, gibt jedoch zu bedenken: „Inflationsraten eingerechnet, kostet ein Firecrest-Laufradsatz heute 35 % weniger als im Jahr 2019, bevor wir diese Produktlinie auf hookless umgestellt haben.” Und er fügt hinzu: „Für unsere NSW-Räder, also unsere Räder auf höchstem Niveau, haben wir den Preis beibehalten.”
Hinterfragt man also das Marketing von Hookless-Felgen, bleibt nicht viel Signifikantes, selbst ein theoretisch günstigerer Fertigungsprozess schlägt nicht für jeden Hersteller gleich zu Buche: „Größere Hersteller werden wahrscheinlich Einsparungen haben. Aber wir sind im Vergleich immer noch ein sehr kleiner Marktteilnehmer. Für uns macht das keinen großen Unterschied.”, sagt Patrick Brown.
Interessant wären weitere Tests, die Hooked- und Hookless-Felgen mit denselben Innenweiten bei identischem Reifensetup hinsichtlich Grip und Rollwiderstand datenbasiert vergleichbar machen. Belastbare Ergebnisse konnte jedoch keiner der interviewten Hersteller anbieten. Signifikante Performance-Vorteile bieten Hookless-Felgen nach aktuellem Stand also nicht.
Intuitive User Experience? Fehlanzeige!
Im Gegenteil: Da Tubeless-Reifen nur durch speziell geformte Wulstkerne auf einer Hookless-Felge halten, ist die Sicherheit dieser Verbindung vom korrekten Zusammenspiel aus Reifenbreite, Innenweite und Luftdruck im Reifen abhängig. Nutzer von Hookless-Felgen müssen die Kompatibilität zwischen Felge und Reifen vor der Montage prüfen und sehen sich dabei schnell unübersichtlichen bis intransparenten Sicherheitsstandards und Kompatibilitätstabellen gegenübergestellt. Bei der Installation des Reifens auf einer hakenlosen Felge darf gemäß ETRTO-Norm der maximale Reifendruck von 5 bar oder 72,5 psi niemals (!) überschritten werden, selbst wenn auf dem Reifen eine andere Angabe verzeichnet ist – so viel schon mal zur intuitiven User Experience von Hookless-Felgen.
Bei alledem gewähren Reifen- und Felgenhersteller unterschiedlich tiefe Einsichten in die jeweiligen Standards und Prüfverfahren, die sie intern zur Anwendung bringen, bevor ein Reifen für eine Hookless-Felge freigegeben wird. Eine verbindliche Zuständigkeitsregelung zwischen beteiligten Firmen existiert ebenfalls nicht. Es bleibt also praktisch wie rechtlich ungeklärt, in wessen Verantwortungsbereich Prüfung und Kommunikation darüber liegen, ob ein bestimmter Reifen auf eine bestimmte Felge passt. Im schlimmsten Fall könnten sich sogar widersprüchliche Angaben finden. Nathan Schickel von SRAM sagt dazu: „So wie die ISO-Norm geschrieben ist, sollten die Informationen vom Reifenhersteller stammen.” Da der Informationsaustausch jedoch nicht immer ideal verlaufe und die Informationen der Reifenhersteller auch nicht immer die qualitativ hochwertigsten gewesen seien, habe Zipp damit begonnen, eine eigene Kompatibilitätstabelle aufzustellen.
Intransparente Standards
Zwar gibt es Standards von ISO und ETRTO, aber auch die werfen weitere Fragen auf. Wie oben bereits erwähnt, änderte die ETRTO ihre Kompatibilitätsempfehlungen im vergangenen Jahr. Für Hookless-Felgen mit 25 mm Innenweite werden seitdem nur noch Reifen mit einer Mindestbreite von 29 mm empfohlen. Die ETRTO erläutert nicht, warum die Änderung vorgenommen wurde, aber die Schlussfolgerung liegt nahe, dass es auch hier darum geht, dass Reifen nicht von der Felge springen.
Womit wir wieder beim Unfall von Thomas De Gendt wären. Der fuhr einen 28 mm breiten Vittoria Corsa Pro auf einer Zipp 353 NSW-Felge. Mit 25 mm Innenweite. Der springende Punkt: Sowohl Zipp als auch Vittoria hatten die genutzte Reifen-Felge-Kombination vor dem Unfall freigegeben und veröffentlichten nach dem Sturz Statements, in denen sie versicherten, die Abweichung vom ETRTO-Standard sei nicht ausschlaggebend dafür gewesen, dass der Reifen abgesprungen war. Verantwortlich dafür sei De Gendts Zusammenstoß mit einem Objekt auf der Straße gewesen, wodurch die Felge gebrochen und der Reifen abgesprungen sein soll. Kurz darauf änderte Zipp seine Kompatibilitätsangaben für die 353 NSW auf mindestens 29 mm breite Reifen und zog so mit der ETRTO gleich. Nathan Schickel sagt allerdings auch: „Durch einige unserer bestehenden, engen Beziehungen zu Reifen und Reifenmarken gab es Gründe, Freigaben für andere Größen beizubehalten.” Vertrauen in einen Standard stiftet man anders.
Davon einmal abgesehen, möchte wohl niemand auch nur theoretisch von einem Millimeter Breitenunterschied abhängig machen, ob ein Reifen von der Felge springt oder nicht – gerade bei den großen Produktionsabweichungen, denen Reifen schon alleine ihres Materials wegen unterliegen.
Viele offene Fragen
Neben der ETRTO stellt auch die ISO Sicherheitsstandards für die Verwendung von Hookless-Felgen auf. Nach ISO-Maßgaben muss ein Reifen 110 % des maximal zugelassenen Drucks auf einer Hookless-Felge für fünf Minuten halten, ohne abzuspringen, um als kompatibel zu gelten. Ein Reifen auf einer Felge mit Haken muss nach ISO hingegen 150 % des maximal zugelassenen Reifendrucks für dieselbe Zeit halten können.
Konkret bedeutet das: Einen Faltreifen mit einem maximal zugelassenen Reifendruck von 8,2 bar bzw. 120 psi könnte man auf 12,4 bar (180 psi) pumpen, bis er von einer Hooked-Felge springt. 4,2 bar (61 psi) Toleranzbereich. Liegt die ISO-Norm bei 110 %, kann sich der Reifen bei einem zugelassenen Höchstdruck von 5 bar (72,5 psi) jederzeit von der Felge lösen, wenn der Druck auf 5,5 bar (80 psi) ansteigt. Ein Toleranzbereich von gerade mal 0,5 bar. Ein Druckunterschied, der für Ralf Eggert durchaus herbeigeführt werden kann: „Druckschwankungen von 0,5 bis 0,6 bar erreicht man durch Sonneneinstrahlung oder eine höhere Außentemperatur recht schnell.“
Warum dieser Unterschied zwischen Hooked- und Hookless- Felgen bei der Standardisierung gemacht wird, bleibt ein Geheimnis der ISO. Auch Nathan Schickel kommentiert: „Jeder in unserem technischen Team würde es begrüßen, wenn der ISO-Standard strenger wäre. Sogar die Reifenhersteller teilen uns in hundert Prozent der Fälle mit, dass sie die ISO-Normen ebenfalls für zu niedrig halten. Zugleich testet jedes Unternehmen, das ich kenne, weit über diesen Standard hinaus.”
Passend dazu gibt Schwalbe auf seiner Website an, entsprechende interne Testverfahren anzuwenden. Die Reichshofer testen demnach alle Produkte auf das 1,6-fache des maximal zulässigen Luftdrucks für Reifen bzw. Felgen für eine Dauer von 60 Minuten. Das klingt beruhigend. Wenn Verbraucher allerdings Angaben zu internen Prüfverfahren recherchieren müssen, bevor sie sich für Felge und Reifen entscheiden können, bedeutet das zusätzlichen Aufwand. Falls man sich überhaupt auf Angaben zu internen Prüfungen verlassen möchte und transparente Informationen auffindbar, nachvollziehbar und verständlich sind. So informationsfreudig wie Schwalbe sind nämlich längst nicht alle Hersteller. Und haben wir nicht schon genug damit zu tun, im Blick zu behalten, ob genügend Dichtmilch im Reifen ist, unsere Bremsen entlüftet und die Akkus unserer Schaltungen, Headunits, Leistungsmesser und Radargeräte geladen sind?
Zu weiterer Unsicherheit führen Statements von Brands, die sich öffentlich gegen Hookless-Felgen aussprechen – wegen Sicherheitsbedenken. So auch Ralf Eggert von DT Swiss in unserem Interview: „Bei der Sicherheit gibt es keinen Kompromiss. Deswegen nehmen wir die höhere Komplexität bei der Herstellung für Hakenfelgen im Hochdruckbereich, also für Road-Laufradsätze, in Kauf.”
Richtig gefährlich kann es also werden, wenn Hookless-Felgen serienmäßig an Bikes verbaut werden und Endkunden mit weniger technischem Know-how und Erfahrung gar nicht über die spezielle Handhabung informiert sind, eventuell nicht einmal wissen, was sich für eine Technologie mit ihren Achsen dreht. Diesem Risiko sollten Händler durch Aufklärung und Beratung unbedingt entgegentreten.
Stay hooked
Auch wenn Hookless-Felgen bei ordnungsgemäßem Betrieb nicht zwingend ein Sicherheitsrisiko darstellen, bleiben viele Fragen offen und große Kundenvorteile sind schwer erkennbar. Es drängt sich vielmehr der Eindruck auf, bestimmte Hersteller tauschen mit der Fertigung von Hookless-Felgen gesteigerte Produktsicherheit gegen größere Gewinnmargen, zumindest bei ihren High-End-Produkten.
Fahrer, die sich bei der Wahl ihrer Bereifung weder einschränken wollen noch einen ganzen Tag mit Reifendruck, -breiten und Felgeninnenweiten beschäftigen möchten oder können, sollten bei Hakenfelgen bleiben. Wer wirklich das ganze Paket modernster Bike-Technologien schnüren will, die Marginal Gains auch nach dem Komma sucht und keine Angst vor zusätzlichem Aufwand hat, kann auch unbesorgt zu Hookless-Felgen greifen. „Wenn richtig angewendet, funktioniert das System.”, sagt selbst Ralf Eggert.
So oder so: Man ist gut beraten, sich umfassend zu informieren und auf Hersteller zu setzen, die transparent machen können, dass gewählte Produkte miteinander kompatibel sind – damit das eigene Bike nicht auch irgendwann mit abgesprungenen Reifen an einer Leitplanke lehnt und man selbst noch ganz woanders.
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Text: Dorian Steinhoff Fotos: Jan Richter