Grenzerfahrungen führen uns an die Ränder unserer gewohnten Wirklichkeit. Es sind die Momente, in denen wir uns gleichzeitig unendlich stark und unendlich schwach fühlen. Grenzerfahrungen sind oft der kürzeste Weg von der Komfortzone zu einem Sehnsuchtsort. Sie beginnen und enden meist mit einem Cappuccino. Auch diese.

Tucson, Le Buzz Bakery, noch 50 Kilometer bis zum Mount Lemmon
Damit ein Berg zum Mythos werden kann, muss er über sich hinauswachsen. Er braucht einen Ort, an dem diejenigen, die ihn erklimmen, seine Geschichte erzählen können. In diesen Geschichten werden ein Asphaltband zur Rampe, eine Rampe zur Mauer und eine Mauer zum Sehnsuchtsort. Der Berg vor uns heißt Mount Lemmon, und die, die seine Geschichte erzählen möchten, treffen sich am liebsten im Café Le Buzz.
Das Le Buzz quetscht sich schüchtern in die Kolonnaden eines Einkaufszentrums im Osten von Tucson. Rechts ein Supermarkt, links ein Friseursalon, davor ein Parkplatz. Ich sitze mit Eric und einem Cappuccino im künstlichen Sprühnebel eines Wasserzerstäubers. Es ist 34 Grad heiß. Der Radius der fallenden Tropfen markiert unsere Komfortzone.


Die Berge hier werden Sky Islands genannt. Inseln im Himmel. Sie erheben sich bis zu 2000 Meter über der kakteengesprenkelten Wüste. Wer eine Sky Island erklimmen möchte, muss verschiedene Klima- und Vegetationszonen durchqueren. Oben kann man im Winter Skifahren. Heute ist kein Winter.
Der Mount Lemmon ist auch eine Himmelsinsel. Aber er ist mehr. Wenn die Menschen im Le Buzz seine Geschichte erzählen, wird der Mount Lemmon zum amerikanischen Stelvio, zum Alpe d’Huez Arizonas oder zum Mont Ventoux der Wüste. Manche sagen, er sei der beliebteste Road Climb der USA. Mit meist nur 5 % Steigung ist er nicht besonders steil, aber mit 50 Kilometern besonders lang. Er beginnt auf 800 Metern zwischen gigantischen Saguaro-Kakteen und endet auf 2800 bei einer Sternwarte. Ein Sehnsuchtsort.



Das Le Buzz ist der Startpunkt für Sehnsüchtige, das Basecamp für Grenzerfahrungs-Junkies. Hier trifft sich die Road-Bike-Community von Tucson, um vorzugsweise frühmorgens den Aufstieg zu wagen. Wer zu spät startet, den bestraft die Wüste.
Wir starten zu spät und ohne Road-Bike. Das Mondraker Arid ist ein Gravel-Bike. Aber darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Es ist 13:15, 35 Grad. Raus aus der Komfortzone.

Rio Rico, Tankstelle, 20 km bis zur Mexikanischen Grenze
Neuer Tag, andere Grenze. Hier gibt es keinen Zerstäuber und keinen Cappuccino. Die Komfortzone ist der klimatisierte Verkaufsraum einer chromblitzenden Chevron-Tankstelle. Wasser, Gatorade und Erdnussbutter-Chocolate-Fudge-Cookie-Crisp-Riegel. Ich bin allein unterwegs, nur ich und das Arid.
Rio Rico klingt nach türkisblauem Wasser, üppiger Vegetation und springenden Fischen. Leider gibt es weder Fluss noch Reichtum. Fische auch nicht. Nur ein paar zufällige Häuser und Zäune, die willkürliche Grenzen zwischen Grundstücken und Wildnis ziehen. Die Fallhöhe zwischen Namensversprechen und Tankstellenrealität ist enorm.
Rio Rico ist kein Le Buzz. Rio Rico ist kein Sehnsuchtsort. Oder doch?

Wenn man mit anderen Radfahrern über Grenzerfahrungen spricht, landet man fast zwangsläufig bei Maximalsteigungen, Höhenmetern und Wattwerten. Doch nicht jede Grenzerfahrung ist körperlich. Es gibt psychische, soziale und wahrscheinlich auch spirituelle Grenzerfahrungen. In Rio Rico kann man die Grenze noch anders erfahren.
Kurz hinter der Tankstelle biegt eine Schotterpiste von der Ruby Road ab. Ein Viehgitter markiert den Beginn einer Farm. Magere Kühe stehen im Schatten magerer Bäume. Die Sonne hat den Sand zu Staub geschmolzen. Natürlich ist es heiß. Fast jeder Strauch hat Stacheln, fast jedes Tier ist giftig. Klapperschlangen, Skorpione, Taranteln … Ich achte panisch darauf, den Trail nicht zu verlassen.
Nicht alle, die hier unterwegs sind, möchten gesehen werden. Abseits der sandigen Piste führen Trampelpfade durch die Halbwüste. Sie folgen ausgetrockneten Bächen, kreuzen steile Hänge und winden sich durch die stacheligen Sträucher. Sie führen nach Norden. Bis Rio Rico und darüber hinaus. Ich fahre nach Süden.


Tucson, Windy Point, noch 15 Kilometer bis zum Mount Lemmon
Mit dem Bike auf einen Berg und wieder herunterzufahren, ist für mich das Selbstverständlichste der Welt. Mehr noch, ich fühle mich dabei so bei mir wie sonst nur selten. Gleichzeitig kann ich auch Leute verstehen, die das für vollkommen dämlich halten. Es ist viel zu heiß, viel zu weit und viel zu anstrengend. Ein verschwenderisches Verblasen von Energie und körpereigenen Ressourcen. Eine unnötige Tortur. Am Arid liegt es nicht. Das Gravel-Bike schlägt sich tapfer auf dem Tarmac und ist viel zu leicht, um als Entschuldigung für schwache Beine herzuhalten.
Ein Meer aus Schweiß ergießt sich über das filigrane Oberrohr, wertvolle Mineralien fließen über die Straße und versickern im aufgeplatzten Asphalt. Vielleicht wächst ja ein Kaktus daraus, denke ich mir, weil ich ja sonst nichts zu tun habe, außer zu pedalieren. Warum macht man das? Eric meint, letztlich geht es beim Biken immer um Freiheit.
Einen halben Liter Schweiß später formt sich in meinem glühenden Schädel ein leiser Widerspruch. Wie frei bin ich, wenn ich mir Pedalumdrehung für Pedalumdrehung beweisen muss, dass ich eine vorgegebene Route bis zu einem definierten Endpunkt abspulen kann? Denn ohne diesen Gipfelmoment ist der Berg nicht bezwungen, sind alle Mühen umsonst.

Freiheit wäre jetzt, anzuhalten, im Schatten einer der Felsformationen einzuschlafen, um dann im Abendlicht, ohne einmal treten zu müssen, bis zum nächsten Fast-Food-Tempel zu rollen und dort die Core Body Temperature mit einem XXL-Milkshake auf unter 40 Grad herunterzukühlen. Wäre es nicht die größere Leistung, mir zu beweisen, dass ich mir nichts beweisen muss?
Mit einem schmatzenden Geräusch reißt mich der Bidon aus meiner gedanklichen Exit-Strategie. Der letzte lauwarme Wassertropfen verdampft in meinem dehydrierten Körper und offenbart eine der besonderen Herausforderungen des Mount Lemmon: Wasser. Zwischen Le Buzz und der nächsten Wasserquelle am Visitor Center liegen 35 Kilometer und etwa 1700 Höhenmeter. Erfahrene Lemmonistas legen daher geheime Wasserdepots am Rand der Strecke an.

Irgendwo, 10 Kilometer bis zur mexikanischen Grenze
Auch hier legen Menschen Wasserdepots an. Allerdings nicht geheim. Blaue Flaggen über der Wüste weisen den Weg zu den lebensrettenden Tonnen. Wer hier Wasser sucht, der ist auf keinem hedonistischen Selbstverwirklichungstrip und wird seine Aktivität später auch nicht auf Strava hochladen. Die Berge hier haben nichts Mythisches. Sie sind einfach da. Sie stehen den Menschen im Weg, die von hier nach Norden wollen, und sie stehen den Menschen im Weg, die hier einen Zaun bauen wollen.
Geschätzte 500.000 Menschen überqueren pro Jahr illegal die Grenze zwischen Mexiko und den USA. Viele von ihnen, südlich von Rio Rico, in Nogales. Denn hier endet der Grenzzaun. Ein ebenso lückenhaftes wie beeindruckendes Bollwerk, das sich über Hunderte von Kilometern schnurgerade durch die Wüste fräst und plötzlich einfach aufhört. Das Ende des Zauns ist kein schlechter Ort, um eine Grenze zu überqueren.


Doch die Grenze beginnt schon weit vor der Grenze. Mit Quads, Helikoptern, Wärmebildkameras und Trucks durchkämmt die Border Patrol die grenznahen Wüstenregionen auf der Suche nach Geflüchteten, Drogen und Kartell-Angehörigen. Wer nicht gesehen werden will, bewegt sich bei Nacht und abseits der Wege.
Auf einer Kuppe steht ein Border-Patrol-Truck.
“You need water?” – “No thanks.” – “Warm day to be riding out here?” – “Absolutely.”
Als Gravel-Biker scheine ich unverdächtig. Nicht ganz dicht, aber unverdächtig. Die Piste steigt Richtung Grenze weiter an. Der Weg wird zur Rampe, die Rampe zur Mauer.
Ich stehe an der Grenze. Nicht mein Sehnsuchtsort, aber ein Sehnsuchtsort.

Tucson, Whitetail Campground, noch 11 Kilometer bis zum Mount Lemmon
Die Felsformationen werfen lange Schatten, andere Biker tauchen strahlend aus dem Gegenlicht auf, und fast 2000 Meter unter uns färbt sich die Wüste rot. Es ist spät. Zu spät?
In meinem Kopf habe ich ein Bild. Ich sehe zwei Fahrräder, eine Sternwarte und den roten Kreis der untergehenden Sonne. Leider ist der Sonnenuntergang näher als die Sternwarte. Ich schaue Eric an. Er scheint ein anderes Bild im Kopf zu haben: eine rauschhafte Abfahrt und Margaritas.


Jetzt weiterzufahren würde bedeuten, die letzten 10 Kilometer im Dunkeln bei schnell fallenden Temperaturen zu pedalieren und fröstelnd im Finstern irgendwo im Nirgendwo zu enden. Die Grenze zwischen episch und idiotisch ist manchmal fließend. Wir entscheiden uns gegen episch und für magisch. Der Sonnenuntergang am Windy Point ist jedes Gramm Salz wert, das in unseren Augen brennt.
Die Dämmerung ist kurz. Autoscheinwerfer und Straßenlaternen zeichnen die Silhouette von Tucson in die Dunkelheit. Das Licht vergeht. Irgendwo in dem undefinierbaren Blau liegt die Grenze. Wir steigen in den Van, fahren zum Hotel, duschen, essen und trinken Margaritas.

An der Grenze
Wenn Menschen hier in Fahrzeuge steigen, sind es meist illegale Einwanderer, und die Fahrzeuge sind Pick-up-Trucks der Border Patrol. Die Menschen nähern sich dem Zaun von der einen, die Pick-up-Trucks von der anderen Seite. Die einen auf Trampelpfaden, die anderen auf einer steilen Schotterstraße.
Diese Straße wird gerade betoniert. Ein Bauarbeiter fegt mit einem Besen den Staub von der grauen Oberfläche. Am Ende eines hunderte Kilometer langen Grenzzauns, an einem Ort, an dem Menschen in der Wüste verschwinden, kehrt ein Mensch ein Stück Straße, das fünf Meter weiter im Staub endet. Normalität im Ausnahmezustand.
Er sieht mich und stutzt.
“You need water?” – “No thanks.” – “Warm day to be riding out here?” – “Absolutely.”



Ich folge dem Zaun nach Osten. Große Baumaschinen bringen mehr Beton. Der Weg ist bizarr: 30 % hoch, 30 % runter. Selbst Komoot ist überrascht. Ich schiebe rauf, ich rutsche runter, immer im Halbschatten der Stahlstreben. Ab und zu fehlt ein Stück vom Grenzzaun.
Am Straßenrand liegen leere Wasserflaschen und ein Regenschirm. Ein Regenschirm? Ein Regenschirm. Die Sonne flackert durch die Stahlstreben. Ich stemme mich in die letzte Steigung. Im Gras liegt ein pinker Kinderrucksack.
Grenzerfahrungen führen uns an die Ränder unserer gewohnten Wirklichkeit. Es sind die Momente, in denen wir uns unendlich stark und unendlich schwach zugleich fühlen.






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Text: Nils Hofmeister Fotos: Josh Becker / Nils Hofmeister / Ivan Marruecos