Wasser ist das einzige Element, das im festen Zustand leichter ist als im flüssigen – deshalb schwimmt es.

„Das wird ein Traumtag zum Eiswandern“, lacht der sympathische Mittvierziger in der orangefarbenen Outdoor-Kleidung, die hier auf dem Parkplatz irgendwie jeder trägt. Ich schaue skeptisch in den wolkenverhangenen Himmel. Es ist 7 Uhr und die ganze Nacht hat es in Strömen geregnet. Unser Tagesprogramm, mit den Gravelbikes eine Runde um Marifret zu drehen, liegt im Schlamm begraben. Der Gedanke, auf dem See Schlittschuh zu laufen, erscheint mir absurd. Der Schwede lacht. „Im Frühling ist hier alles möglich, aber der Regen heute Nacht hat das Eis quasi erneuert. Wie bei einer Eismaschine im Eishockeystadion gefriert der Regen sofort, wenn er auf das Eis trifft, und macht es wieder neu und glatt. „Die Sonne wird heute den ganzen Tag scheinen.“

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Seine offene Art und gute Laune sind ansteckend, ebenso wie die ausgelassene Stimmung seiner Gruppe. Es ist ein erfrischendes Potpourri aus Jung und Alt, Sport und Geselligkeit. Schlittschuhlaufen ist in Schweden Nationalsport. An schönen Wochenenden kommen Hunderte von Schlittschuhläufern aus den Stockholmer Vereinen mit Bussen nach Marifet. Ich erzähle von unserem ursprünglichen Plan, rund um Marifet Gravelbiken zu gehen, als mir eine verrückte Idee kommt.

Schon mal Radfahrer auf dem Eis gesehen? Der Mann mit dem angegrauten Dreitagebart, der sich mir als Henrik Swenson vorgestellt hat, lacht wieder: „Ein Freund von mir macht das ab und zu, aber ich selbst habe noch niemanden mit einem Rad auf dem Eis gesehen – aber möglich ist es.“ Daniel und ich schauen uns an. Unsere Bikes haben wir schon zu Hause auf Spikes umgerüstet, denn die sind selbst bei den Straßen hier in Schweden obligatorisch.

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Tun ist wie reden – denke ich und frage Henrik Swenson, was er von meiner Idee hält, unsere Tour auf den See zu verlegen. Sein Lachen weicht einem abschätzenden Blick auf uns und unsere Räder. „Mit dem Eis da draußen ist nicht zu spaßen. Auch wenn es jetzt im Februar an vielen Stellen bis zu 60 Zentimeter dick ist, muss man sich auskennen. Ich fahre hier schon seit meiner Kindheit, jeden Winter um die 3000 Kilometer, aber ich habe immer noch großen Respekt vor dem Eis und der Natur. „Versteht mich nicht falsch, aber man steigt nicht einfach aus dem beheizten Hymer und kann das.“ Mein enttäuschtes Gesicht muss Bände gesprochen haben…
„Es wäre doch schade, wenn ihr den weiten Weg umsonst gemacht hättet“, lacht Henrik Swenson wieder und nach einer 20-minütigen Sicherheitseinweisung willigt unser Guide ein, dass wir seiner Gruppe folgen dürfen.

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„Säkerheten först!“ Sicherheit geht vor.

Die erste Regel lautet: „Fahre nie alleine“. Das gilt für gefrorenes Wasser genauso wie für flüssiges Wasser beim Tauchen. Zweitens: „Vergiss nie deine Notfallausrüstung“, erklärt Henrik und zeigt auf seinen Rucksack. Die Notfallausrüstung darin besteht aus drei Dingen: einer Trillerpfeife, zwei Eispickeln und einem kleinen Beutel mit einer 20 Meter langen reißfesten Leine. Manche haben zusätzlich einen aufgeblasenen Luftsack im Rucksack. „Es empfiehlt sich auch, Ersatzkleidung dabei zu haben“, sagt Henrik augenzwinkernd.

Dann geht es los und ich kann aus tiefstem Herzen sagen, dass uns trotz 60 Zentimeter Eis und 260 Spikes der Arsch auf Grundeis geht. Es fühlt sich einfach falsch an, ein Rad auf diese endlos erscheinende Fläche zu setzen.

Henrik gibt das Tempo vor. Mit mehr als 30 Stundenkilometern gleiten wir bei strahlendem Sonnenschein über das perfekte Eis. Er und seine drei Freunde haben sich für heute eine 100-Kilometer-Tour vorgenommen. Nur das leise Surren unserer Spikes stört die Stille ein wenig.

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Der Mälaren ist mit 1.000 Quadratkilometern der drittgrößte See Schwedens und damit etwa doppelt so groß wie der Bodensee. Wenn im Spätherbst die Temperaturen bis weit unter den Gefrierpunkt fallen, verwandelt sich die Seenlandschaft westlich von Stockholm quasi über Nacht in ein Paradies für Schlittschuhläufer. In Schweden beginnt die Schlittschuhsaison bereits bei einer Eisdicke von 4,5 Zentimetern. Das erste Eis – „Black Ice“ – ist extrem fest und klar.

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Spezielle Eiskarten zeigen, wann und wo die Seen zuerst zufrieren. Im Frühling ist das Eis ständig in Bewegung. Durch Tageswärme öffnen sich Risse, die nachts wieder zufrieren können. Das Eis unter unseren Reifen wechselt ständig seine Farbe. Mal ist es klar, mal milchig trüb mit bizarren Schollen aus zerbrochenem Eis. Wir fahren mit unseren Rädern dorthin, wo man sonst nur mit dem Boot hinkommt. Inseln, kilometerweit vom Ufer entfernt, ziehen vorbei. Es ist schwer, diese vollkommene Stille und Weite zu beschreiben. „An perfekten Tagen kann man auf dem Mälaren bis zur Mündung in die Ostsee fahren“, erzählt Henrik. Er prüft regelmäßig mit einer spitzen Stange die Dicke des Eises, besonders in Ufernähe und bei Rogues, gefährlichen Wasserströmungen, die das Eis instabil machen.

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Am frühen Nachmittag machen wir Pause auf einer Insel. Wir treffen Björn Ericson und seine Frau, beide über 70 und begeisterte Eiswanderer. „Wir sind auf dem Weg zum größten Kuchenbuffet Schwedens“, erzählt Björn verschmitzt. Wir folgen ihnen zum Schloss Taxinge, dessen Slottscafé berühmt für seine „Fika“ ist. Nach Kuchen und Zimtschnecken fällt der Abschied doppelt schwer. Zurück an der Anlegestelle in Marifret sehen wir gerade noch die Sonne über Schloss Gripsholm untergehen.

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Zeit für einen letzten Traum: Vom Eis – ins Eis. Daniel schaut ungläubig auf mein Outfit – Badehose. Echt jetzt?


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Text & Fotos: Daniel Geiger