Vor dem Kauf eines Gravel-Bikes muss man viele Entscheidungen treffen: Speed oder Komfort? 650B oder 700C? Shimano oder SRAM? Doch wenn ihr ernsthaft darüber nachdenkt, euch ein neues Bike zuzulegen, dann gibt es eine noch wichtigere Frage: Sollte es überhaupt ein Gravel-Bike oder vielleicht doch ein Mountainbike werden?
Inhaltsverzeichnis
- Das Testfeld
- Gravel oder Mountainbike?
- Geometrie, Sitz- und Fahrposition
- Die Tester
- Wo haben wir getestet?
- Das vielseitigste Bike im Test
- Die Konkurrenz
Die Gravel-Bikes von heute sind die Mountainbikes von gestern! So oder so ähnlich hallt es nur zu oft in der Kommentarfeldern der Posts und Artikel zum Thema Gravel wider und auch wir haben unseren Konzeptvergleich entsprechend reißerisch überschrieben. Graveln, das ist dieser scheinbar unprätentiöse Raum zwischen Rennrad-Fans und Mountainbikern. Ein befriedeter Bereich, in dem der Trail-Rider auf den Roadie trifft und die leichten Bikes mit ihrer Agilität und ihrem Speed feiert. Die gemeinsame Plattform, auf der eingefleischte Rennradler den Asphalt hinter sich lassen und ein ganz neues Naturerlebnis zelebrieren. Aber sind Gravel-Bikes wirklich so anders als die Mountainbikes von gestern? Wo hört Gravel auf? Wo fängt MTB-Terrain an? Soll ich mir überhaupt ein Gravel-Bike kaufen, wenn ich abseits der Straße Spaß haben bzw. mein Trail-Fully einmal gegen etwas Flotteres tauschen will? Liegt die Antwort möglicherweise in der Mitte – und sind MTB-Hardtails ein perfekter goldener Schnitt oder ein weichgespülter Kompromiss?
Das ist kein reiner Bike-Test – wir vergleichen Bike-Konzepte anhand von sechs Vertretern.
Für diesen Vergleichstest haben wir für euch 6 Bike-Konzepte unter die Lupe und in den Test genommen. Jedes Bike ist der Stellvertreter einer Kategorie und zu jedem dieser Bikes gibt es unzählige Modell-Alternativen auf dem Markt. Uns geht es hier also nicht nur um einen Vergleich der Bikes selbst, sondern darum herauszufinden, welches Bike-Konzept tatsächlich das vielseitigste ist. Der potenzielle Einsatzbereich ist weit, denn wir testen von Asphalt über Gravel- und Waldwege bis hin zu Pfaden und Trails. Wir sagen euch, welches Bike-Konzept zu euch passt. Testsieger ist das Konzept, das für möglichst viele Einsatzzwecke geeignet ist.
Die Test-Bikes im Überblick
Für die Zusammenstellung unseres Testfelds haben wir uns die aus unserer Sicht progressivsten und innovativsten Vertreter der einzelnen Gattung herausgepickt. Uns geht es natürlich auch um den Fahreindruck der Bikes selbst, doch viel wichtiger ist die Frage, wie sich das jeweilige Konzept auf unserem Test-Track schlägt und wie vielseitig es tatsächlich in der Praxis ist.
Das brandneue BMC URS LT, das Canyon Grizl CF SL 8 1by, das Fustle Causeway TRAIL Lite und das Lauf True Grit vertreten insgesamt die Rennlenker-Fraktion. Dabei nimmt jedes Bike eine Sonderposition ein: Während das URS LT für alle vollgefederten Gravel-Bikes steht, vertritt das Fustle Causeway alle ungefederten Gravel-Bikes mit progressiver, vom Mountainbike inspirierter Geometrie. Das Canyon Grizl ist der Vertreter des klassischen und ungefederten „European“-Gravel-Bikes. Das Lauf True Grit ist ein repräsentatives Gravel-Bike-Hardtail mit Federgabel und verfügt über die brandneue SRAM XPLR-Collection.
Die Fahne der Mountainbikes und der Fraktion der geraden Lenker wird gleichermaßen vom BMC Twostroke 01 ONE und vom Trek Supercaliber 9.8 GX hochgehalten. Ersteres setzt als Mountainbike-Hardtail auf eine progressive Geometrie mit langem Reach, recht flachem Lenkwinkel und kurzem Vorbau. Ein Trend, der bei zahlreichen neuen Cross-Country-Hardtails zu beobachten ist. Das Trek geht fürs Team der vollgefederten Mountainbikes an die Startlinie. Mit seinem in den Rahmen integrierten Dämpfer und der Hinterbau-Konstruktion, die ohne Umlenkungen auskommt, nimmt es hier eine gewisse Sonderstellung im Bereich der vollgefederten Mountainbikes ein.
Natürlich können unsere Stellvertreter ihre jeweiligen Bike-Genres nicht gänzlich substituieren. Als „Gravel-Fully“ verfügt das BMC URS LT lediglich über ein Elastomer am flexiblen Hinterbau, das Trek ist ein Cross-Country-Race-Fully und wird niemals ein Trail- oder Enduro-Bike vertreten können. Um die Frage zu klären, wo Gravel aufhört und wo MTB anfängt, ist das aber auch gar nicht so relevant. Gravel-Bikes mit weniger Reserven als das Canyon schieben ihren Einsatzbereich gleichermaßen weiter in Richtung Asphalt und Speed, wie es Mountainbike-Fullys mit mehr Federweg in Richtung Trail und Steinfelder tun.
In der nachfolgenden Tabelle findet ihr eine Übersicht unseres Testfelds. Besonders spannend für uns: Die Gewichtsdifferenz zwischen dem leichtesten und dem schwersten Bike beträgt gerade mal zwei gefüllte Trinkflaschen. Manch ein Gravel-Bike ist sogar schwerer als ein Mountainbike! Alle Test-Bikes setzen auf ein Schaltgruppen-Setup ohne Umwerfer und verhältnismäßig wenig unterscheiden sich auch die Reifendimensionen. Denn alle Bikes rollen auf Reifen mit einem Innendurchmesser von 622 mm – wobei die Außendurchmesser deutlich variieren. Zwischen dem schmalsten und dem breitesten Reifen liegen nur 17 mm.
Modell | Schaltgruppe | Laufräder | Reifendimension | Gewicht | Preis |
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BMC Twostroke 01 ONE (Zum Test) |
SRAM GX Eagle AXS | DT Swiss XR 1700 SPLINE | 29″ x 2,35″ | 9,89 kg [L] | 5.499 € |
BMC URS LT ONE (Zum Test) |
SRAM Force eTap AXS | CRD-400 SL Carbon | 700 x 40C | 9,52 kg [L] | 7.999 € |
Canyon Grizl CF SL 8 1by (Zum Test) |
Shimano GRX RX800 | DT Swiss G1800 | 700 x 40C | 9,12 kg [M] | 2.699 € |
Fustle Causeway TRAIL Lite (Zum Test) |
Shimano GRX RX800 | HUNT 4 Season Gravel Disc X-Wide | 700 x 45C | 10,04 kg [M/L] | 3.500 € |
Lauf True Grit SRAM XPLR Edition (Zum Test) |
SRAM XPLR AXS Rival | ZIPP 303 S | 700 x 40C | 9,82 kg [L] | 5.750 € |
Trek Supercaliber 9.8 GX (Zum Test) |
SRAM GX Eagle | Bontrager Kovee Pro 30 | 29″ x 2,20″ | 10,6 kg [L] | 5.499 € |
Ø 9,83 kg | Ø 5.158 € |
Unumstritten ist dieses Testfeld das diverseste, das wir je bei GRAN FONDO zusammengestellt haben. Was auf den ersten Blick abenteuerlich erscheint, ist in Anbetracht der neuesten Produktvorstellungen nur sinnvoll, denn Fakt ist: Gravel-Fullys werden von weiteren Herstellern vorgestellt werden. Braucht es überhaupt derartige Produkte, wo der Markt doch bereits so viele Teilbereiche abzudecken scheint? Unser Testfeld versucht, die Bike-Gattungen widerzuspiegeln und zu vereinen, die auf der Bandbreite von Straße über kompakte und lose Schotterpiste bis hin zu Waldweg, Pfad und Trail am vielseitigsten abschneiden würden. Damit sind wir wieder einmal auf der Suche nach dem Heiligen Gral: dem Bike für alles, dem ultimativen Allrounder, der One-Bike-Kollektion. Gravel-Bikes sind unbestritten eine Antwort auf den eben angesprochenen Einsatzbereich, aber Gravel bedeutet längst nicht überall das Gleiche. Wie kommt es zu einem derart diversen Verständnis vom Graveln? Es folgt ein Erklärungsversuch.
Gravel ist nicht gleich Gravel: USA vs. EU
Was in der Überschrift noch erschreckendes Potenzial für einen Kalten Krieg 2.0 hat, ist in Wahrheit ungleich weniger dramatisch. Fakt ist jedoch, dass das Grundverständnis vom Gravel-Fahren westlich des Atlantiks häufig ein anderes ist als in Europa. Die US-Amerikaner porträtieren sich dabei nur zu gerne als die Urväter des Gravel-Trends und zeichnen ein Bild von 10 m breiten Schotter-Autobahnen, die sich kerzengerade über Tausende Kilometer wilde Landschaften ziehen. Highspeed auf den harten und kompakten Gravel-Pisten, aufsteigende Staubwolken und stylishe Halstücher – eine leichte und befreiende Ästhetik, die für Teile der regelkonformen Rennrad-Gemeinde in Europa nur allzu verlockend war. So brach der Gravel-Boom vor einigen Jahren auch diesseits des Atlantiks aus und mit Rennen wie den Kopfstein- und streckenweise auch Schotter-Klassikern in Frankreich und Flandern, Beach-Races in den Niederlanden oder den traditionsreichen weißen Straßen in Italien fühlte man sich schnell auch hier – ihr ahnt es schon – als Gründer der Gravel-Bewegung.
Die Euphorie war und ist riesig, doch stellt man beim Graveln in Europa schnell fest, dass die hiesige Infrastruktur nur in den seltensten Fällen aus kerzengeraden Schotterautobahnen oder 10 m breiten, kompakten Schotterpisten besteht. Staubwolken, wilde und karge Landschaften? Kakteen? Fehlanzeige! Dafür Landwirtschafts- und Waldwege, Rückegassen und Seitenstraßen – aufgebrochener Asphalt, Lehmböden, felsige Trails, faustgroße Steine, enge Kurven. Für viele europäische Gravel-Fans erschließen sich Produkte wie Aero- oder Race-Gravel-Bikes auf ihrem täglichen Ride zwischen Kleingartenanlagen und Kuhweiden nicht direkt. Vielseitigkeit scheint Trumpf! Andersherum runzelt die Gravel-Crew zwischen Kansas und Oregon die Stirn über grobstollige Bikes mit Federung und Rennlenker. Denn alles, was die Leute dort brauchen, ist ein Rad, mit dem sie mit 25 mph (≈ 40 km/h) über die Fire-Roads fliegen können. 60 mm tiefe Aero-Felgen? Ein Muss!
Das eingeschränkte Vorkommen perfekter Gravel-Autobahnen in Europa und die Charakteristik des hiesigen Wegenetzes sind jedoch nur ein Grund, weshalb es Gravel-Biker mehr und mehr in das ursprünglich klar abgesteckte MTB-Terrain treibt. Auch das sogenannte Underbiking spielt eine wichtige Rolle!
Gravel oder doch Mountainbike? Von Underbiking und Overbiking
Als Underbiking versteht man Touren, bei denen man sich in anspruchsvolleres Terrain begibt – mit einem Bike, das dem Einsatzbereich nicht gewachsen ist. Wenn man also beispielsweise mit dem Gravel-Bike ins MTB-Revier aufbricht. Anders als beim zuvor geschilderten wegenetzbedingten Shift in Europa vom Schotter hin zu MTB-Gebiet sprechen wir hier von einer bewussten Entscheidung: runter von der Schotterpiste und rein in den Trail. Versierte Piloten können so aus der altbekannten Hausrunde wieder einen spannenden Ride werden lassen. Und gewissermaßen kann man auch bei Rennen wie Strade Bianche, Paris-Roubaix oder bei den Schotterpassagen der Tour de France zum gewissen Maß von Underbiking sprechen. Klar wird hier auch: Für Einsteiger oder für den entspannten Ride, bei dem man einfach mal abschalten will, ist das nichts! Immerhin sind die Anforderungen an Fahrtechnik und körperliche Fitness hier maximal groß.
Overbiking ist das genaue Gegenteil und bezieht sich auf Situationen, in denen ein Bike mit mehr Reserven während einer Fahrt unterfordert wird – ein Extrembeispiel wäre ein Enduro-Mountainbike auf einem asphaltierten Radweg. Overbiking ist im Zweifel für eine Vielzahl von Anwendern sinnvoller als Underbiking, da es in der Regel zu einem Plus an Sicherheit führt. Obwohl Gravel-Bikes per se sehr vielseitig sind, kann es vorkommen, dass das eigene Bike auf einer Gravel-Runde in manchen Momenten under- und in anderen overequippt ist – weil die Strecke einfach noch vielseitiger ist als das Bike. Die Tendenz wird aber immer in Richtung underequippt gehen, da sich erfahrungsgemäß viele Biker weiterentwickeln und im ständigen Wettkampf in Sachen „höher, schneller, weiter“ auch gerne noch tiefer in unbekanntes Terrain vordringen. Dem tragen Hersteller Rechnung, indem sie versuchen, die Gravel-Bikes mit Komponenten wie Federgabeln so vielseitig wie möglich zu machen und den Einsatzbereich sinnvoll zu erweitern – denn im Zweifel sollte ein Bike lieber over- als underequippt sein.
Wir wollen mit diesem Vergleichstest die Frage beantworten, ob Mountainbikes oder Gravel-Bikes die besseren Komplizen bei diesen Grenzgängen sind, für wen sich welche Optionen eignen und wo die Stärken der einzelnen Konzepte liegen. Doch bevor wir anfangen, gilt es die Grundlagen von gefederten Fahrwerken zu verinnerlichen. Wir haben uns daher Verstärkung aus der MTB-Redaktion unseres Schwestermagazins ENDURO geholt und erklären euch die zentralen Punkte.
Hardtail? Fully? Die Begriffsklärung
Es ist nur wenige Jahrzehnte her, da stellte sich die Frage „gefedert oder ungefedert“ noch gar nicht. Denn die ersten Mountainbikes waren – wie viele konventionelle Gravel-Bikes heute – sowohl an der Gabel als auch am Heck ungefedert. Mit dem Einsatz von Federgabeln entwickelten sich diese Bikes zu den sogenannten Hardtails. Dank sehr ausgereifter Federgabeln können MTB-Hardtails wie das BMC Twostroke mit 100 mm Federweg heute auch ohne Federung am Heck noch immer sehr kompetitiv hinsichtlich ihrer Fahrperformance sein. Auch im Gravel-Bereich setzt sich nicht nur die Nomenklatur, sondern auch die Technik der Mountainbiker durch. Zwar ziehen die meisten Gravel-Hardtails viel weniger Federweg an der Gabel vor, doch das Grundprinzip bleibt gleich. Ein Beispiel dafür ist die RockShox Rudy Ultimate-Federgabel mit 30 mm Federweg am Lauf True Grit SRAM XPLR Edition.
Fullys – kurz für Full-Suspension-Mountainbikes – sind Bikes, die sowohl eine Federgabel an der Front als auch eine Federung am Heck haben. Beim Mountainbike hat sich als hintere Federung der Federdämpfer durchgesetzt. Dank ihm und dem beweglich gelagerten Hinterbau kann das Hinterrad Hindernissen ausweichen. Das Trek Supercaliber ist mit seinem teilweise in den Rahmen integrierten Dämpfer zwar nicht auf den ersten Blick als Fully zu erkennen, setzt aber auf das klassische MTB-Fully-Konzept. Auch erste Gravel-Bikes können bereits als Fullys bezeichnet werden. Statt einem schweren Dämpfer und einer komplexen Hinterbaukinematik haben sie allerdings meist einfache Federelemente, die wenige Zentimeter Federweg generieren. Ein Beispiel dafür ist das BMC URS LT mit der BMC Micro Travel Technology.
Sowohl Gabel als auch Dämpfer sind in der Mountainbike-Welt echte Hightech-Produkte und verfügen gleichermaßen über Feder wie Dämpfung. Die Härte der Feder lässt sich in der Regel über den Luftdruck an das Fahrergewicht anpassen. Das ist entscheidend, denn der korrekte SAG, also wie weit die Gabel bzw. der Dämpfer allein vom Gewicht des Fahrers einfedert, ist für die optimale Funktion unerlässlich. Schließlich müssen Gabel bzw. Dämpfer auch ausfedern können, um den Kontakt zum Untergrund (sprich die Traktion) nicht abreißen zu lassen. Während die Feder dafür sorgt, dass das Laufrad ein- oder ausfedern kann, kontrolliert die Dämpfung genau diese Bewegung durch Reibung. Beim Einfedern passiert das über die Compression-Dämpfung aka Druckstufe, beim Ausfedern über die Rebound-Dämpfung, die man auch Zugstufe nennt. Systemen ohne Dämpfung fehlt es an dieser definierten Kontrolle der Bewegung, weshalb sie sich oftmals aufschaukeln oder ihren Federweg viel zu schnell freigeben und harsch durchschlagen. Egal ob Fully oder Hardtail, das beste Federsystem ist nur so gut, wie es auf seinen Fahrer und dessen Gewicht, Größe und Fahrstil eingestellt ist.
Außer der Federhärte lässt sich bei den Mountainbike-Systemen mit Drehreglern die Stärke der Dämpfung anpassen. Auch der Lock-out, der das Einfedern verhindert, ist in den meisten Fällen Teil der Compression-Dämpfung. Obwohl die Technik komplex, schwer und teuer ist, kommt sie bereits bei den ersten Gravel-Bikes zum Einsatz. Viele Hersteller setzen aber auf einfachere Systeme aus Elastomeren. Sie ersetzen die Funktion der Feder und liefern durch ihre Reibung beim Komprimieren auch ein gewisses Maß an Dämpfung. Um sie wirklich an den Fahrer anzupassen, müssen Elastomere mit der entsprechenden Härte gewählt werden. Es wird also ein Tausch der Elastomere fällig.
Was ist diese Compliance und was bringt sie mir?
Wenn wir bei GRAN FONDO von Compliance sprechen, dann bezieht sich das meistens auf den Komfort, den ein bestimmtes Bauteil oder das Bike-Konzept insgesamt durch seine Nachgiebigkeit des Materials und die entsprechende Konstruktion bietet. Rahmen oder einzelne Bike-Komponenten verfügen dann über eine sinnvolle Compliance, wenn sie nicht nur nachgeben/federn, sondern diese Bewegung auch durch Reibung in ihrem Inneren dämpfen, wie das bei den Federelementen vom Hardtail oder Fully passiert. Nehmen wir das Beispiel Lenker: Ist seine Nachgiebigkeit zu wenig gedämpft, glaubt man, einen nervösen Pogo-Stick in den Händen zu halten. Gute Compliance meint also nicht nur die Verformung eines Bauteils, sondern bezieht auch immer dessen Dämpfung mit ein. Irgendwo zwischen zu steif und harsch bzw. zu weich, indirekt und schwammig liegt der Sweetspot, der dem Einsatzbereich des Bikes angemessen sein muss. Das Problem dabei: Was für kleine und leichte Fahrer extrem harsch ist und alle Vibrationen nahezu ungefiltert weitergibt, mag für einen schweren Fahrer genau das richtige Maß an Komfort liefern. Bei einigen Bike-Brands wird die Rahmen-Compliance – bspw. durch das Carbon-Layup – an jede Rahmengröße angepasst. Das ist teuer und aufwendig, lässt aber trotzdem Personen außer Acht, die in Sachen Gewicht aus der Norm fallen: 2 m große Fliegengewichte und 1,50 m kleine Muskelprotze werden von den Herstellern in der Regel nicht berücksichtigt.
Nachdem es in der Welt des Rennlenkers jahrzehntelang um absolute Steifigkeit bei möglichst geringem Gewicht ging, haben viele Bike-Hersteller nun den Vorteil der Compliance verinnerlicht und setzen immer häufiger auf Flex an genau den richtigen Stellen. Denn Steifigkeit ist vor allem für die Lenkpräzision, High-Speed-Stabilität und den Vortrieb unerlässlich. So setzt BMC beim Twostroke-Hardtail auf spezielle Rohrformen und Carbongelege, um am Heck richtig viel Komfort zu bieten. In Kombination mit den nachgiebigen Sattelstützen kann auch ein Hardtail richtig viel Komfort am Heck generieren. Bei Bikes ohne Federgabel spielt die Compliance an Gabel und Cockpit eine wichtige Rolle. Durch den Flex ergibt sich ein gewisser „Federweg“ am Lenker, der Schlaglöcher und Vibrationen zwar nicht einebnen, aber ihnen den Schrecken nehmen kann. Bei dieser Art von Compliance steht die Vibrationsdämpfung im Vordergrund. Sie ist am besten, wenn die Compliance spendenden Komponenten clever und ganzheitlich aufeinander abgestimmt sind. So fühlt sich ein Lenker mit viel Compliance in einem sonst sehr steifen Bike schnell unnatürlich und schwammig an. Sind aber Cockpit, Laufradsatz und Reifen jeweils kleine Compliance-Quellen für sich, so ergibt sich eher eine ausgewogene Fahr-Performance.
Aktive Fahrwerke: Komfort vs. Traktion
Bei der Federung eines Bikes kommt es nicht nur auf die Frage zwischen Fully und Hardtail an, sondern auch darauf, ob das Federelement primär die Traktion oder den Komfort des Bikes erhöhen soll. Die absenkbare, aber auch federnde RockShox Reverb AXS XPLR-Sattelstütze dient im federnden Active-Ride-Modus in erster Linie dem Komfort am Hintern statt der Traktion am Hinterreifen. Dahingegen macht der Fully-Hinterbau des Trek Supercaliber das Überrollen von Hindernissen sowohl einfacher (Traktion) als auch komfortabler. Auch ein gefederter Vorbau wie der Redshift ShockStop (zum Test) oder der Vecnum freeQENCE, kann nicht die gleiche Performance bringen wie die RockShox Rudy-Federgabel. Sie bieten zwar in etwa gleich viel Federweg, entkoppeln aber lediglich das Fahrergewicht vom Bike, wobei die ungefederte Masse höher bleibt. Ihr seht: Die Grenzen zwischen Komfort und Traktion sind fließend. Die entscheidende Frage für die Gesamtperformance von Feder- bzw. Fahrwerkskomponenten ist: An welcher Stelle wird wie viel Federweg generiert und wie ist das Verhältnis von gefederter zu ungefederter Masse? Am meisten Traktion generiert ein Fahrwerk, wenn es den Fahrer – bzw. seinen Schwerpunkt – in einer möglichst gleichmäßigen, geradlinigen Bewegung verharren lässt, während die Reifen dem ruppigen, ungleichmäßigen Untergrund permanent folgen können.
An welcher Stelle wird wie viel Federweg generiert und wie ist das Verhältnis von gefederter zu ungefederter Masse?
An dieser Stelle ist es Zeit für ein wenig Selbstreflexion: Denn ihr selbst seid das schwerste Bauteil eures Bike-Fahrer-Systems, liefert aber auch am meisten Federweg. Schließlich können sowohl eure Arme als auch eure Beine – wenn ihr sie nur lasst – als Feder- und Dämpfungssystem richtig große Schläge problemlos wegschlucken. Die Grundvoraussetzung dafür ist allerdings, dass ihr ausreichend Bewegungsfreiheit auf eurem Bike habt. In der Front spielt in dieser Frage vor allem die Lenkerergonomie eine entscheidende Rolle: Verharrt ihr beim Rennlenker in den Drops, sind eure Ellbogen bereits angewinkelt – dann können eure Arme nur bedingt als „Federgabel“ fungieren. Anders sieht es bei den breiten MTB-Lenkern von BMC oder Trek aus, die euch automatisch in eine Art Liegestützposition bringen, von der ihr euren gesamten Oberkörper (Brust, Schultern und Arme) zur Stoßabsorption nutzen könnt und dabei richtig viel „Federweg“ generiert.
Bei den Beinen ist die Sache ähnlich gelagert, denn eines ist klar: Wer den Stelvio erklimmen oder das Unbound-Gravel-Race meistern kann, hat auch genug Muskulatur in den Beinen, um richtig heftige Schläge von Wurzeln und Steinen zu absorbieren, sobald sich die Schotterautobahn in einen ruppigen Trail verwandelt. Das Problem: Richtig viele Bikes im Test geben euch mit ihrem hohen Sattel nicht ausreichend Bewegungsfreiheit, um den natürlichen Federweg eurer Beine auszunutzen. Neben den offensichtlichen Komponenten wie den absenkbaren Sattelstützen am Lauf True Grit und am Fustle Causeway beeinflusst bei Bikes mit starren Stützen vor allem der Sitzwinkel die Bewegungsfreiheit im Stehen. Das BMC Twostroke mit seinem besonders steilen Sitzwinkel von 75° bietet im Stand nur wenige Zentimeter Freiraum zwischen Gesäß und Sattel, während das Trek mit seinem ausgesprochen flachen Sitzwinkel von 71° sicherlich die doppelte Bewegungsfreiheit liefert. Egal ob steil oder flach, wer das Potenzial seiner Beine nicht nur beim Kampf gegen die Gravitation, sondern auch im Zusammenspiel mit ihr voll ausnutzen möchte, kommt an einer absenkbaren Sattelstütze mit mehreren Zentimetern Hub nicht vorbei. Einbußen, die man bei der Nutzung einer Dropperpost leider hinnehmen muss, sind das im Vergleich zur normalen Stütze deutlich höhere Gewicht, das noch dazu weit oben am Bike positioniert ist, die höhere Komplexität durch die Ansteuerung und eine gewisse Versteifung des hinteren Rahmendreiecks, was sich negativ auf den Komfort im Sitzen auswirken kann. Auch hier wird klar: Bewegungsfreiheit vs. Gewicht, Komplexität und Komfort – es bleibt letztlich ein gewisser Trade-off.
Unterschied Gravel-Bike und MTB: Geometrie, Sitz- und Fahrposition
Wie wir bereits etabliert haben, liegen riesige Unterschiede zwischen Gravel-Bikes und MTBs natürlich in den Fahrwerken bzw. in der Art der Komfort- und Traktionsquellen. In diesem Kapitel geht es uns jetzt sowohl um die Geometrie-Unterschiede der beiden Bike-Welten als auch um die Abweichungen hinsichtlich Sitzposition und der sogenannten Fahrposition – also dem Fahren im Stehen auf dem Trail. Kann es sinnvoll sein, die Breite des Einsatzbereichs von Gravel-Bikes und MTBs anhand der Geometrietabelle festzumachen?
Mit diesem Vergleichstest wollen wir das vielseitigste Konzept finden, das in den unterschiedlichsten Einsatzbereichen überzeugen kann. Spontan kommt man dabei zum Schluss, dass eine maximal MTB-inspirierte Geometrie für alle Offroad-Einsätze von Vorteil sein müsste und ein möglichst nah am Rennrad gehaltenes Geometrie-Setup vermutlich auf der Straße und kompakten Untergründen überzeugen wird. Sollte das so sein, stellt sich die Frage: Was sind die wichtigsten Geo-Werte und welchen Einfluss haben sie (in der Theorie) auf das Handling? Und können wir überhaupt nach einem Blick auf Geo-Tabellen verlässlich sagen, welches Bike wo am besten funktioniert?
Was Geometrietabellen uns sagen – und was nicht
Wir haben uns drei Werte herausgepickt, die für viele als maßgebliche Einflussfaktoren auf das Handling und die Sitzposition auf dem Bike gelten: Reach, Sitzwinkel und Lenkwinkel. Bei jedem der drei Werte zeigen wir euch im Folgenden, warum er isoliert betrachtet wenig aussagt.
Der Reach ist einer der markantesten Unterschiede, wenn man die Geometrietabellen von Mountainbikes sowie Rennrädern vergleicht und nicht selten Quelle unendlicher Diskussionen und Verwirrungen. Moderne MTBs verfügen über einen längeren Reach ab 430 bis 485 mm – bei progressiven Enduro-Bikes können es je nach Größe auch schon mal über 500 mm sein. Bei Gravel-Bikes beläuft sich der Reach in der Regel auf 370 bis 425 mm. Wie gestreckt oder kompakt man letztlich auf dem Bike sitzt, hat dabei jedoch weniger mit dem Reach zu tun, als man denken mag. Macht man die Sitzposition allein an ihm fest, werden Sattelauszug und Stack komplett außer Acht gelassen, was zu falschen Schlüssen führt. Wenn ein Bike einen langen Reach mit einem kurzen Vorbau und einem steilen Sitzwinkel kombiniert, kann dabei die gleiche Sitzposition herauskommen wie bei einem Bike mit kurzem Reach, langem Vorbau und flachem Sitzwinkel.
Um es mit den Worten des Bike-Fitting-Gurus Bastian Marks zu sagen: „Der Reach ist für mich eher der Handling-Aspekt und definitiv auch sehr wichtig. Denn ein gewisser Reach lässt das Fahrrad besser, sicherer in der Kurve fahren. Aber selbst hier fehlt wieder der Blick auf den Lenkwinkel. Die isolierte Betrachtung ist das Problem. Für mich lässt der Reach den wichtigsten Fitting-Faktor raus, das ist der Sitzwinkel.“ Den vollständigen Artikel zur Wahrheit über Bike-Fitting findet ihr hier.
Der Reach allein macht keine Sitzposition!
Beim Sitzwinkel unterscheiden wir zwischen steil, also 78° bis 73°, und flach, also 72° bis 70°. Der Sitzwinkel wird bei Gravel-Bikes in der Regel in Bezug zum Tretlager und der Oberkante des Sitzrohrs angegeben. Der tatsächliche Winkel des Sitzrohrs spielt dabei keine Rolle, da es oftmals nicht direkt im Tretlager mündet. Steile Sitzwinkel haben besonders bergauf einen Vorteil, da man tendenziell etwas weiter vorne sitzt und mehr Druck auf dem Vorderrad behält, das dadurch weniger leicht zu steigen beginnt. Ihr Nachteil: Durch die weit nach vorne gerichtete Sitzposition lastet mehr Druck auf den Händen, was zu Beschwerden führen kann. Auch die nicht zwingend vorteilhafte Drehposition der Knie kann Probleme bereiten. Oftmals hat eine sehr steile Einheit aus Sattelstütze und Sitzrohr außerdem weniger Compliance.
Die Diskussion um den Sitzwinkel muss jedoch dann relativiert werden, wenn man einen sehr großen Sattelauszug hat oder aber das Sitzrohr abgeknickt ist – so wie es bei vielen MTBs vorkommt. Ist Letzteres der Fall, so kommt es real zu einem viel flacheren Sitzwinkel als dem, der in der Geometrietabelle steht. Denn im MTB-Bereich wird mittlerweile fast ausschließlich mit der Angabe des effektiven Sitzwinkels gearbeitet, also dem Winkel einer Linie zwischen gedachter Sattelhöhe und der Mitte des Tretlagers. Bei einem sehr weiten Auszug des Sattels über diese gedachte Höhe hinaus flacht der Sitzwinkel in der Praxis jedoch häufig weiter ab. Ergebnis: Man sitzt viel weiter hinten, das Bike beginnt schneller zu steigen. Ebenfalls spannend in diesem Zusammenhang: Verschiebt man den Sattel auf der Stütze, lässt sich dadurch der reale Sitzwinkel je nach Länge des Verstellbereichs um knapp 2° anpassen.
Die Angabe der Sitzwinkel unterscheidet sich also grundlegend. Arbeitet man bei MTBs vorrangig mit der gedachten Sattelhöhe – die es übrigens auch unmöglich macht, Mountainbikes miteinander zu vergleichen –, zieht man beim Gravel-Bike die realen Werte heran. Wie bereits angesprochen, müssen diese aber nicht zwangsläufig dem Winkel des Sitzrohrs entsprechen. Wir halten fest: Ein Vergleich ist nicht sinnvoll! Im Spannungsfeld zwischen Gravel-Bikes und MTBs verliert der Sitzwinkel ohnehin seine Bedeutung, sobald man aus dem Sattel geht – also von der Sitzposition in die Fahrposition wechselt. So nennen es zumindest die Mountainbiker, alle Roadies unter euch kennen das nur aus dem Sprint.
Geht es auf dem Trail im Stehen bergab, zeigt sich der Einfluss des Lenkwinkels auf das Fahrverhalten. Er müsste eigentlich Lenkkopfwinkel heißen und vernachlässigt in der Geometrietabelle Faktoren wie Gabelversatz und Nachlauf. Dennoch beschreibt er, wie weit das Vorderrad – in Fahrposition – von euch weg ist. Je steiler der Trail, desto sicherer fühlt ihr euch mit einem flachen Lenkwinkel, weil ihr weniger Gefahr lauft, euch nach vorne zu überschlagen als mit einem steilen Lenkwinkel. Doch auch im Flachen bringt vor allem der längere Radstand eines Bikes mit flachem Lenkwinkel mehr Laufruhe ins Bike. Das zeigt sich zum einen auf schnellen Trails und zum anderen bei Highspeed auf der Straße oder der Forst-Autobahn. Für kleine Schläge oder Seitenwind ist das Bike dann weniger anfällig, erfordert aber auch spürbar mehr Nachdruck, um Hindernissen auszuweichen. Außerdem tendieren Bikes mit flachem Lenkwinkel bei geringen Geschwindigkeiten zu einer kippeligen Front. Mit einem steilen Lenkwinkel wird das Fahrverhalten sehr direkt. Mit einem solchen „schnellen“ Handling lassen sich bergauf und in der Ebene so manche Wurzeln, Schlaglöcher oder sich öffnende Autotüren gekonnt umfahren. Bei hohen Geschwindigkeiten verlangen derartige Bikes jedoch nach einer führenden Hand und feinfühligen Lenkmanövern.
Die genauesten Geometriedaten bringen nichts, wenn sie falsch verstanden werden
Am wenigsten Aussagekraft haben Geometriedaten dann, wenn sie von ihrem Leser falsch interpretiert werden. So hat, wie bereits angesprochen, der Reach beim Mountainbike keine Aussagekraft über die Sitzposition und auch beim Gravel-Bike ist er nur einer von vielen Faktoren. Das Handling eines Bikes auf einzelne Geometriedaten zu reduzieren, ist grundlegend falsch. Die Faktoren der Geometrie beeinflussen sich gegenseitig. Die Laufruhe eines Bikes wird z. B. nicht nur von einem flachen Lenkwinkel bestimmt, sondern auch von Faktoren wie der Tretlagerhöhe, der Länge des vorderen Rahmendreiecks und den Kettenstreben oder auch dem Versatz der Federgabel. Ganz entscheidend ist obendrein das Fahrwerk.
Die wichtigste Message kommt jetzt: Die Geometrien von MTBs und Gravel-Bikes miteinander zu vergleichen, ist kompliziert und ohne absolutes Expertenwissen nicht sinnvoll. Richtig gelesen, können Geometrie-Tabellen Indizien für einen bestimmten Einsatzbereich eines Bikes sein. Welche Performance das Bike dann aber in der Praxis in diesem Einsatzbereich hat, hängt von zig Faktoren ab – Ausstattung, Cockpit-Setup, Satteleinstellung, Gewichtsverteilung, Fahrwerkssetup, Reifendruck etc.
Und es wird noch komplizierter, denn die Geometriedaten von Mountainbikes beziehen sich auf den ausgefederten, statischen Zustand. Speziell bei vollgefederten Bikes hat jedoch der Hinterbau enorme Auswirkungen auf die Geometrie und die verändert sich schon, sobald man sich auf das Rad setzt. Besitzt ein Rad bspw. einen sehr antriebsneutralen Hinterbau mit hohem Anti-Squat, der sich unter Kettenzug auseinanderzieht, dann ist der Sitzwinkel bergauf steiler als bei einem Bike, das unter Last wegsackt. Mehr zu diesem Thema findet ihr bei unserem Schwestermagazin ENDURO im Artikel „Die große Verwirrung“.
Welche Rolle spielen die Reifen an Gravel-Bike und MTB?
Reifen sind bei allen Bikes die einzigen Kontaktpunkte zum Boden und damit hochrelevante Parts – klar! Gerade im Systemvergleich von Gravel-Bikes und MTBs wird aber eines deutlich: Was beim MTB das Fahrwerk ist, ist beim ungefederten Gravel-Bike überwiegend der Reifen. Was heißt das? An modernen vollgefederten Mountainbikes findet man nicht selten Einstellmöglichkeiten für Highspeed- und Lowspeed-Druckstufe, -Zugstufe, Luftkammergröße und Luftdruck – und all das für Gabel und Dämpfer. Somit hat man nicht nur zahlreiche Einstellmöglichkeiten, was Dämpfung, Traktion und Komfort des Bikes angeht, sondern kann obendrein auch auf dessen Handling in bestimmten Fahrsituationen Einfluss nehmen.
Beim Gravel-Bike hingegen muss der Reifen all diese Aufgaben übernehmen. Seine Eigenschaften und nicht zuletzt die Kombination mit einem bestimmten Laufradsatz sind hier die wichtigsten Stellschrauben, die zur Verfügung stehen. Der Wechsel vom Laufrad-Reifen-System am traditionellen Gravel-Bike ist jedoch leider bedeutend teurer und umständlicher als ein einfacher Dreh an der blauen Druckstufen-Schraube der MTB-Federgabel. Wer keine Federgabel einsetzen möchte, für den bleiben die Reifen das beste und effektivste Upgrade am Bike, und wer auf der Suche nach einem Gravel-Reifen ist, sollte sich daher unseren umfangreichen Gravel-Reifen-Vergleichstest mit den 12 wichtigsten Reifenmodellen im direkten Vergleich keinesfalls entgehen lassen.
Reifen sind das beste und effektivste Upgrade am Bike.
Auch unterschiedliche Laufrad-Dimensionen haben einen bedeutenden Einfluss auf das Einsatzgebiet eines Bikes. Hier können wir allgemein zwischen dem kleineren Laufrad-Maß – also 27,5” bzw. 650B – und den großen Laufrädern mit 700C bzw. 29” unterscheiden. Die Gleichung 700C = 28” = 29” ist in dem Zusammenhang ebenso richtig wie falsch, denn: Alle drei Bezeichnungen beziehen sich auf den Außendurchmesser der Felge. Der Innendurchmesser der Reifen (= Außendurchmesser der Felge) ist mit 622 mm identisch. Da jedoch das Reifenvolumen mit steigender Reifenbreite ebenfalls anwächst, kommt man auf unterschiedlich große Reifenaußendurchmesser. Unser Artikel zum Thema „Die richtige Laufradgröße am Gravel-Bike – 700C vs 650B im direkten Duell“ bringt hier weiter Licht ins Dunkel, wenn es um die Unterschiede zwischen den einzelnen Laufradgrößen geht.
Die Bandbreite der Schaltung und ihr Einfluss auf das Einsatzgebiet von Gravel-Bikes und MTBs
Am Mountainbike sind 1-fach-Antriebe mittlerweile und zu Recht die Norm, und auch die Mehrzahl der Gravel-Bikes verfügt darüber. Mit Kassetten in Dimensionen von bis zu 10–52 Zähnen – aktuell erreicht man das nur mit SRAM Eagle-Schaltgruppen – bieten diese Antriebe eine ähnliche Übersetzungsbandbreite wie ein 2-fach-Kompaktantrieb und vereinfachen das Schalten im Gelände deutlich. Zusätzlich reduzieren sich der Wartungsaufwand, die Fehleranfälligkeit, der Verschleiß sowie das Gesamtgewicht des Antriebs. Einen Nachteil hat der 1-fach-Antrieb jedoch: Die Schaltsprünge sind gerade bei riesigen 10–52er-Kassetten deutlich größer als bei Schaltgruppen mit zwei Kettenblättern. Beim 2-fach-Antrieb hat man also kleine Gangsprünge und kann häufig die perfekte Kadenz treten, während die Sprünge beim 1-fach-Antrieb größer sind und man im Zweifel etwas zu schwer oder zu leicht tritt. Der Trade-off der beiden Systeme lautet also: Größe der Gangsprünge vs. Komplexität der Schaltung, Verschleiß und Gewicht.
Der klassische Antrieb mit zwei Kettenblättern und kleinerer Kassette hat auch am Gravel-Bike durchaus seine Berechtigung. Ein Vertreter hierfür ist beispielsweise die Shimano GRX RX800 2×11-Gravel-Schaltgruppe. Vor allem an Bikes, die mindesten zu 50 % auf Asphalt bewegt werden, sind die kleineren Gangsprünge absolut sinnvoll. Auch 1-fach-Antriebe mit gemäßigten Gangsprüngen wie SRAM XPLR-Schaltgruppen können auf Asphalt Sinn machen – nämlich dann, wenn man durch die Wahl des korrekten Kettenblatts das persönliche Optimum gefunden hat. Klar ist auf jeden Fall: Die verbaute Schaltung und ihre Abstimmung haben einen großen Einfluss auf das Einsatzgebiet des Bikes! Letztlich ist der Kompromiss, den ihr eingehen müsst, immer die Größe der Bandbreite im Verhältnis zur Größe der Gangsprünge. Oder anders formuliert: Ihr müsst euch entscheiden, ob ihr lieber den richtigen Gang für jedes noch so steile Terrain habt oder ob ihr immer in der Wohlfühl-Kadenz unterwegs sein wollt.
Hier scheiden sich die Geister: Rennlenker oder Flatbar?
Curly-Bar, Drop-Bar, Rennbügel – egal wie man die Rennlenker auch nennen mag: Wohl kaum eine andere Komponente sorgt für so viel Gesprächsstoff und steht besser als Sinnbild für die Grenze zwischen MTB und Gravel-Bike. Die historische Grenzüberschreitung von John Tomac in den 90er-Jahren einmal ausgenommen, findet man gebogene Lenker an Bikes mit MTB-Setup nur bei Offroad-Bikepacking-Events wie dem Silk Road Mountain Race.
Dort findet man sie aber aus gutem Grund, denn Rennlenker erlauben sehr vielfältige Griffpositionen. Diese sind obendrein derart divers, dass man die eigene Sitzposition und den Neigewinkel des Oberkörpers signifikant verändern kann. Das sorgt für eine Veränderung der virtuellen Oberrohrlänge und des Abstands von Kontaktpunkt Sattel zu Kontaktpunkt Lenker – damit hat man also beinahe drei Bike-Geometrien in einem. Außerdem ermöglichen die verschiedenen Griffpositionen eine Anpassung der eigenen Aerodynamik an die Fahrsituation und eine Änderung der Gewichtsverteilung auf dem Bike, ohne dass man dafür aus dem Sattel gehen muss. Zusätzlich ist der Rennlenker für viele von euch wohl auch einfach das gewohnte Tool. #dropbarsnotbombs
Das größte Pro des Rennlenkers ist das größte Contra des Flatbars.
Was spricht dann noch gegen den Rennlenker? Knifflig wird es mit ihm in Fahrsituationen, in denen ein aufrechter Oberkörper gefragt ist – also z. B. auf steilen Bergabfahrten. Für eine maximale Bike-Kontrolle bietet sich hier zwar die Unterlenkerposition an, doch mit ihr gelangt der Schwerpunkt sehr weit nach vorne und häufig sinkt der Kopf und damit der Blick direkt aufs Vorderrad. Mangelnde Vorausschau beim Fahren und ein größerer Hang zum Überschlag sind die Folge. In Lenkerpositionen, in denen der Oberkörper aufrecht bleibt, ist die Bremse wahlweise gar nicht zu erreichen oder nur eingeschränkt gut zu bedienen. Ein Plus an Sicherheit würde hier also eine höhere Griffposition inkl. Bremsbereitschaft bieten.
In genau diesen Situationen weiß der Flatbar zu glänzen. Hier ist ein Bremsen mit einem Finger jederzeit möglich und so verbleiben genügend Finger für den sicheren Halt am Griff. Sein längerer Hebel bietet außerdem mehr Kontrolle in kniffligen Situationen. Am Flatbar gibt es nur eine Griffposition und damit kann der Lenker spezifisch auf diese Position hin optimiert werden. So können Fahr- und Sitzposition optimal ausbalanciert und hinsichtlich der gewünschten Performance angepasst werden. Gleichzeitig ist das jedoch auch der größte Kontrapunkt des Flatbars: Eine Variation der Griffpositionen ist – wenn überhaupt – nur im kleinsten Maße möglich. So sitzt man eingerastet in ein und derselben Position und kann nur eingeschränkt durch eine Änderung der Körperposition auf die jeweilige Fahrsituation eingehen. Ungewohnt für alle Roadies – und auch die muskulären Beanspruchungen sind ungewohnt.
Wer hat getestet? Die Tester und worauf es ihnen ankommt!
Besondere Zeiten verlangen nach besonderen Maßnahmen – und ein besonderes Testfeld nach besonderen Testern. Dem Anlass entsprechend gestaltete sich unsere Test-Crew so vielfältig wie die Bikes. Was macht ihre Mitglieder aus und welches Bike aus dem Test passt am besten zu wem? Vorhang auf für das Testteam!
Wo und wie haben wir getestet? Unser Test-Loop
Reales Fahrverhalten bei Wind und Wetter auf unterschiedlichen Untergründen statt Excel-Tabellen, theoretischer Daten und Labormessungen: Beim Vergleich unseres Testfelds haben wir uns an den Praxiserfahrungen auf den Test-Rides orientiert und nicht an den Kenngrößen auf dem Papier. Deshalb haben wir alle Bikes auf einer vorher abgesteckten Teststrecke rund um St. Vigil in den Dolomiten getestet. Zwischen dem Piz de Plaies, dem Albergo Alpino Pederü und der Berghütte Lavarella haben wir im Naturpark Fanes-Sennes-Prags perfekte Testbedingungen vorgefunden. Unser Test-Loop hatte alles zu bieten, was ein Gravel-Ride und eben auch eine MTB-Tour so hergeben. Das waren die Sektionen der Teststrecke:
Der Straßen-Pass
Eine perfekt asphaltierte Passstraße mit bis zu 15 % Steigung. Hier mussten die Bikes bergauf ihre Kletterkünste beweisen. Im anschließenden Downhill haben wir das Fahrverhalten bei hohen Geschwindigkeiten, in weiten Kurven und bei Ausweichmanövern getestet. Außerdem wichtig: Wie schnell kommt ein Bike auf Touren und wie gut kann es den Speed halten?
Die Gravel-Passage
Runter vom Asphalt und über den Schotter scheppern! Die Schottersektion unseres Test-Loops bot einen Mix aus kompakten, feinen Schotterstücken und Passagen mit faustgroßem, losem Geröll. Kurze steile Rampen, hängende Kurven und mehrere Schotter-Spitzkehren boten ausreichend Gelegenheit, um das Fahrverhalten des Testfelds unter die Lupe zu nehmen. Hier haben wir darauf geachtet, wie agil ein Bike auf einer Skala von quirlig/verspielt bis laufruhig/träge ist. Wird es bei schnellen Richtungswechseln unruhig oder schaukelt sich gar auf? Wie werden die Lenkimpulse des Fahrers umgesetzt und wie verändert sich das Kurvenverhalten des Bikes bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten? Ein gutes Allround-Bike zeichnet sich durch eine harmonische Balance aus Agilität und Laufruhe aus. Die Impulse des Fahrers sollten direkt umgesetzt werden, ohne das Bike aus der Ruhe zu bringen.
Im Explorer-Modus durch den Nationalpark
Auch auf Abstechern über verschiedenste Waldwege und -pfade mussten die Bikes beweisen, was sie draufhaben. In der Ebene ging es über weite Distanzen mit Wurzelteppichen, weichem Sand oder Trampelpfaden. Dabei mussten die Bikes zeigen, ob sie den Spagat zwischen Komfort und Vortrieb schaffen. Hier ist Traktion King. Und auch ein einfach zu kontrollierendes Bike hilft dabei, entspannter ans Ziel zu kommen und die Fahrt mehr zu genießen. Nur wer sich zu 100 % auf sein Material verlassen kann, ist in der Lage, ohne Bedenken Neues zu entdecken und sicher ans Ziel zu kommen.
Neben der Traktion ist eben auch der Komfort wichtig. Zu viel Compliance kann aus jeder noch so schönen Tour einen schwammigen Albtraum machen. Das Gleiche gilt allerdings für unnötig versteifte Bikes, die selbst die kleinste Unebenheit ungefiltert an den Fahrer weitergeben. Für uns war daher ausschlaggebend, das Komfortlevel des gesamten Bikes zu betrachten. Deshalb haben wir das Zusammenspiel aus der Eigendämpfung von Reifen sowie Rahmen-Set und der Compliance sämtlicher Anbauteile in den Blick genommen und damit die Frage geklärt: Wie gut ist das Dämpfungsverhalten des Systems?
Das Trail-Stück: Let’s get down to business
Die Dolomiten sind bekannt für ihre unendlichen Trails. Statt auf den verblockten hochalpinen Pfaden mit handballgroßem Geröll und Absturzgefahr haben sich unsere Test-Bikes auf flowigen Trails bewiesen, die , extra für Mountainbikes ausgebaut waren. Anliegerkurven, Bremswellen, Steilstücke und der eine oder andere Sprung haben die Stärken und Schwächen der Bikes in diesem Terrain offenbart.
Die Tops und Flops unseres Vergleichstests
Oftmals sind es die Details, die den Unterschied machen: gelungene Integration, erstklassige Ergonomie und mit Bedacht gewählte Komponenten. Hier findet ihr alle Tops und Flops der Bikes aus unserem Systemvergleich von Mountainbikes und Gravel-Bikes.
Tops
Flops
Das vielseitigste Bike-Konzept im Test: Das Lauf True Grit SRAM XPLR Edition
Boom! Nach einer intensiven Testwoche in Südtirol geht das Lauf True Grit in der SRAM XPLR Edition als vielseitigstes Bike-Konzept und dadurch auch als Testsieger vom Platz. Kein anderes Konzept im Testfeld leistet sich in einem so breiten Einsatzbereich so wenige Fehler. Wer wirklich nur ein Bike in der Garage haben möchte und sich von Straße bis MTB-Trail alle Optionen offen halten möchte, kommt nicht vorbei an einem Bike-Konzept, wie es das Lauf vertritt.
Platz zwei für das MTB-Fully: Trek Supercaliber 9.8 GX
Genauso vielseitig, jedoch einen Ticken weiter in Richtung Offroad ausgeprägt: das Trek Supercaliber 9.8 GX. Wer die Straße überwiegend meidet und mit der MTB-Griffposition klarkommt, findet hier im Vergleich zum Gravel-Bike das bessere Konzept. In Sachen Vielseitigkeit muss sich das Trek letztlich jedoch dem Konzept des Lauf knapp geschlagen geben. Sehr starker zweiter Platz!
Sind alle anderen Bikes Verlierer?
Die Frage könnte auch heißen: Ist es ein schlechtes Zeichen, wenn die restlichen vier Bike-Konzepte aus dem Vergleichstest nicht so vielseitig sind wie das Lauf oder das Trek? Mitnichten! Ein spezialisiertes Bike ist nicht zwangsläufig ein schlechtes Bike. Längst nicht jedes Bike muss ein Allrounder sein, denn im Umkehrschluss ist auch nicht jeder von euch daran interessiert, immer alles machen zu wollen. Vielseitigkeit hat immer ihren Preis! Ein Bike, das überall gut sein will, ist oftmals nirgendwo das beste. Wenn ihr einen ziemlich klar und eindeutig definierten Einsatzbereich für das Bike eurer Begierde im Kopf habt, wird ein Spezialist in diesem einen Bereich mit hoher Wahrscheinlichkeit immer besser sein als ein Allrounder, der einen maximal breiten Einsatzbereich abdeckt. Schade ist es nur dann, wenn ein spezialisiertes Konzept wie das des Fustle aufgrund einzelner Bauteile nicht komplett aufgeht. Also nein, die anderen Bikes sind keine Verlierer! Ihr solltet genau schauen, für welchen Einsatzbereich wir sie empfehlen und könnt dementsprechend entscheiden, was für euch das beste Bike-Konzept ist.
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Text: Benjamin Topf, Felix Stix Fotos: Benjamin Topf, Peter Walker