Der Markt von Gravel- und Allroad-Bikes expandiert enorm. Doch was ist der Unterschied und worauf kommt es an? Wir haben die Produktmanager von Cervélo und FOCUS befragt und geben euch Einblicke, um leichter durch komplexe Zusammenhänge zu navigieren und eine potenziell anstehende Kaufentscheidung zu erleichtern.

Gravel-Bike, Allroad-Bike, Adventure-Bike, Endurance-Bike, Rennrad? Der Markt ist überschüttet mit Bike-Kategorien. Doch was sagen sie aus? Braucht man etwa für jeden Einsatzzweck ein eigenes Bike? In den letzten Jahren hat es viele Weiterentwicklungen gegeben, gleichzeitig werden aber auch alte Weisheiten überrollt.

Der Terminus „Gravel-Bike“ – oft wird er durchs Dorf getrieben. Was also ist ein Gravel-Bike, was ein Allroad-Bike – und welche Fahrertypen sprechen sie an? Wir wollen wissen, wie die Fahrrad-Industrie denkt, und haben bei Cervélo und FOCUS nachgefragt. Macht die Kategorisierung in dieser Form überhaupt einen Sinn?

Vom Watt- zum Lebensgerät

„Gravel ist nicht gleich Gravel“. Philip Spearman, Global Product Marketing Manager bei Cervélo, beginnt gleich mit einer Ungleichung. „Manche setzen den Begriff Gravel mit unbefestigten Feldwegen oder dicht bepacktem Schotter-Untergrund gleich. Andere definieren ihn durch sehr losen, unebenen Untergrund – eher wie ein Gelände, das man mit einem Hardtail-Mountainbike unter die Räder nimmt.“

Hier ist man schon mitten im Geschehen, denn die Frage, worin sich Gravel- und Allroad-Bikes unterscheiden, lässt sich laut Philip anhand zweier Faktoren beantworten: „Reifengröße und Einsatzzweck sind entscheidend. Prinzipiell sind die Geometrien von Rennrädern und Gravel-Bikes zwar austauschbar, aber die Forderung nach Reifen mit über 35 mm Breite bedingen eine entsprechende Konstruktion, um sie aufnehmen zu können.“

Klar: Rahmen und Gabel geben vor, wie breit die Reifen sein können. Hat das aber einen Einfluss auf das Handling? Der Produktmanager des kanadischen Bike-Herstellers hat hier eine eindeutige Antwort: „Durch den größeren Platzbedarf werden die Kettenstreben länger, als wir es für Rennräder mit hoher Performance erwarten würden. Das Gleiche gilt für das Cockpit und die Gabel.“

Wie immer – es gibt zwei Seiten einer Medaille. Während längere Kettenstreben die Stabilität auf losem Untergrund erhöhen, beeinträchtigen sie laut Philip aber auch die Performance. „Wenn wir ein schnelleres und reaktionsfreudigeres Handling suchen, wie bei einem Performance-Rennrad, dann verwenden wir in der Regel kürzere Kettenstreben, was mit einem kürzeren Nachlauf einhergeht. Für das Caledonia setzen wir auf 415 mm, für das R5 auf 410 mm.“

Auch FOCUS hat ein ganz klares Statement, wenn es um die Segmente Gravel- und Allroad-Bikes geht. „Ein Allroad-Bike ist für uns immer noch ganz klar ein Rennrad, das überwiegend auf der Straße gefahren wird, mit dem man aber keine Angst vor schlechten Radwegen oder einer Forstautobahn haben muss“, beschreibt Colin Pfister, Product Manager bei FOCUS. Für die Stuttgarter Bike-Schmiede geht es dabei um Bikes, die komfortabel sind und straßenorientierte sportliche Fahrer ansprechen, denen eine gute Zeit auf dem Rad wichtiger ist als ein Wettkampf. Das Allroad-Bike also ein Gute-Laune-Touren-Rad mit Schwerpunkt Straße. „Das Gravel-Bike hingegen sehen wir als idealen Bikepacking-Begleiter. Raus in die Natur, Abenteuer mit und auf dem Rad und vor allem good times – all das steht dabei im Vordergrund. Dementsprechend haben wir die Entwicklung des ATLAS ausgelegt.“ Das Gravel-Bike also ein Gute-Laune-Touren-Rad mit Schwerpunkt Offroad und Bikepacking. Wir brauchen es genauer und bohren tiefer.

Der fette Freiheitsbegriff

Für FOCUS spielt der Begriff „Freiheit“ eine entscheidende Rolle, wie Colin erklärt. „Am stärksten lassen sich die Segmente durch die Reifenfreiheit unterscheiden. Und durch speziell aufs Graveln zugeschnittene Komponenten, Rahmendetails wie Anschraubpunkte und die angepassten Geometrien“.

Auch Cervélo geht die Lehrstunde Platzbedarf und Reifenfreiheit differenziert an. „Wir schränken das Allroad-Modell in der Reifenfreiheit so ein, dass es im Zusammenhang mit dem Road-Einsatzzweck Sinn macht. Aerodynamik und Rollwiderstand müssen dabei genauso berücksichtigt werden wie die Steifigkeit, Festigkeit und das Gewicht des Rahmens. Soll das Bike aber vorwiegend auf gröberen Schotter genutzt werden, müssen wir ermöglichen, voluminösere Reifen zu fahren. Hier sind dann strukturelle Änderungen am Rahmen erforderlich, was auf Kosten von Steifigkeit und Gewicht geht.“

Wir halten fest: Je mehr Reifenfreiheit ein Rad hat, desto freier kann dessen Fahrer über den Einsatzzweck entscheiden. Die Reifenfreiheit ist beim Einsatzzweck ein wichtiger Indikator, aber bei Weitem nicht das einzige Unterscheidungsmerkmal.

All-in-one, all right, Allroad – gibt es diese Bike-Kategorie überhaupt?

Der Begriff „Allroad“ mag – ebenso wie das Buzzword „Gravel“ – viel Interpretationsspielraum liefern, für Cervélo gibt es hier jedoch eine klare Linie. Sie sehen Rennräder nicht als empfindliche Maschinen, die nur fürs Watt-Füttern prädestiniert sind. Philip nennt uns ein Detail, das uns aufhorchen lässt: „Wir bezeichnen das Caledonia nicht als „Allroad-Bike“, sondern als „Modern-Road-Bike“. Noch eine Bike-Kategorie? Nein, hier können wir Entwarnung geben. Dem kanadischen Hersteller geht es dabei um eine Erweiterung der Art und Weise, wie sie den Sport leben wollen. „Ein Modern-Road-Bike ist kein Fahrrad, mit dem man alles fahren kann, sondern ein Update, das die Bedürfnisse des leistungsorientierten Rennradfahrers erfüllt“, erklärt uns Philip. Es geht um längere Fahrten, die auch mal Abstecher auf unebenen Seitenstraßen und Pflasterwegen im feinsten belgischen oder Roubaix-Stil bedeuten und dabei Komfort und Geschwindigkeit vereinen. Der Trend breiter Reifen hat hier seine ganz eigene Facette. „Bei leistungsorientierten Rennrädern filtern größere Reifen Vibrationen durch Fahrbahnunebenheiten besser weg und der Rollwiderstand wird verringert, was den Komfort erhöht. Bei Gravel-Bikes hingegen geht es um erhöhte Traktion und Pannensicherheit auf unbefestigten Wegen. Dass Piloten mit größeren Reifen auf mehr Untergründen fahren können, ist ein großer Vorteil, aber letztendlich nur eine positive Ergänzung und kein ausschlaggebender Faktor für die Wahl moderner Reifen-Setups.“

Für FOCUS gehen die Entwicklungen zu Allroad- und Gravel-Bikes Hand in Hand mit dem Einsatzgebiet und der Kundengruppe, die man ansprechen möchte, wie uns Colin berichtet. „Dadurch, dass wir uns bei FOCUS bereits vor dem Entwicklungsstart intensiv damit befassen, werden anstehende Entscheidungen immer unter diesen Gesichtspunkten getroffen und so können die Produkte klarer unterschieden werden. Das Allroad-Bike ist ein Rennrad und spricht folglich den Straßenfahrer an. Es ist die moderne Interpretation und Weiterentwicklung des klassischen Endurance-Rennrads.“

Wir notieren: Das Allroad-Bike ist also im Grunde weder ein „offroadigeres“ Endurance-Bike noch ein abgespecktes Gravel-Bike. Es ist vielmehr eine Evolutionsstufe, eine Weiterentwicklung und Konzepterweiterung des Rennrads. Ein Rennrad, das neben Fahrdynamik und Spritzigkeit auch den Aspekt Komfort mit ins Auge fasst. Es ist das Rennrad mit dem breitesten Einsatzbereich und eben nicht ausschließlich gemacht für absolute Höchstleistungen im Renneinsatz.

Die Bike-Segmente heute und morgen

Auf die Frage nach aktuellen und zukünftigen Entwicklungen nennt uns Colin einen Trend, den auch wir schon länger beobachten: „Auf dem Markt gibt es aktuell immer noch viele Gravel-Bikes, die möglichst viele unterschiedliche Einsatzgebiete abzudecken versuchen.“ Schnell, leicht, racy und gleichzeitig perfekt für den Bikepacking-Trip, den Offroad-Einsatz im ruppigen Gelände und gespickt mit möglichst vielen Anschraubpunkten. Wie wir es auch bei vielen weiteren Bike-Brands beobachten, wird es für FOCUS hier künftig eine stärkere Trennung der Einsatzgebiete geben. „Viele Hersteller haben bereits zwei unterschiedliche Gravel-Bikes in ihrem Portfolio, die in ihrer Ausrichtung einem gewissen Einsatzgebiet zuzuordnen sind. Wir sehen hier die Kategorisierungen Gravel-Race und das etwas breiter aufgestellte Bikepacking. Wenn wir uns jetzt unter den oben genannten Gesichtspunkten Allroad anschauen, so unterscheiden sich direkt der Einsatzzweck und auch die Kundengruppe.“

Cervélo betont, dass – entgegen der noch immer weit verbreiteten Meinung – Komfort und Leistung nicht gegensätzlich sind. Laut Philip wurde das Konzept Modern-Road-Bike für Fahrer entwickelt, die auch auf variablen Fahrbahnoberflächen schnell unterwegs sein möchten, Steifigkeit und Handling eines Race-Bikes wünschen, aber auch den Komfort größerer Reifen und die damit verbundene Widerstandsfähigkeit gegen Reifenpannen. „Mit 42 mm Reifenfreiheit kann es [das moderne Rennrad = Caledonia] locker einen 34-mm-Reifen aufnehmen, hat aber eine Geometrie, die für eine Reifengröße von 28-30 mm optimiert ist.“, erklärt Philip. Der Hintergrund? „Es fährt sich wie ein Rennrad und bietet gleichzeitig die Vielseitigkeit und Stabilität, die es in dieser Kategorie bisher noch nicht gab. Gravel-Bikes dagegen werden für die Stabilität auf losem Untergrund optimiert. Dazu gehört die Anpassung der Fahrgeometrie an großvolumigere Reifen, damit das Rad auf unebenem, felsigem oder unberechenbarem Untergrund nicht zu nervös wird.“ Bei all dem Fokus auf das Laufrad-Reifen-System ist für Cervélo auch wichtig zu betonen, dass nicht zuletzt die Scheibenbremse hier gänzlich neue Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet hat.

Es wird klar: Wir befinden uns in dynamischen Zeiten, in denen es viele Überschneidungen bei der Bike-Nutzung gibt. Philip zufolge besteht für Cervélo die Wahl normalerweise darin, das beste Fahrrad für jede Anwendung zu entwerfen und konstruieren, anstatt zu behaupten, dass es alles gleichermaßen gut kann. „Es wird immer Abstriche bei der Leistung geben müssen, wenn man von einer Plattform verlangt, dass sie sowohl mit 45-mm-Reifen als auch mit 25-mm-Reifen umgehen kann. Ein Gravel-Bike wie das Áspero bietet die nötige Steifigkeit, um sportlich auf Asphalt eingesetzt zu werden, ABER das Fahrverhalten wird mit einem Reifen in ‚Straßengröße‘ beeinträchtigt. Denn der Trail [also die Geometrie der Gabel] ändert sich natürlich, und da die Kurbeln näher am Boden sind, besteht ein erhöhtes Risiko, dass man beim Pedalieren in Kurven schneller aufsetzt.“

Carbon oder Alu – Was bedeutet das Rahmenmaterial für das Einsatzgebiet?

Geht es um die Materialfrage, nennt FOCUS zunächst einen Faktor, den wir alle gut kennen: „Grundsätzlich bestimmt eher der gewünschte Preispunkt des Rads das Rahmenmaterial – egal, ob Allroad oder Gravel. Jedoch spielt in der Allroad-Kategorie, zumindest für FOCUS, Alu keine Rolle mehr. Hier erwartet der Kunde einen leichten Carbon-Rahmen.“ Anders sieht es im Gravel-Markt aus, wie Colin beschreibt: „Es hat sich gezeigt, dass sich gerade Bike-Einsteiger eher für ein Gravel-Bike entscheiden oder dass das Gravel-Bike das zweite oder dritte Rad im Keller ist und hier mehr auf den Preis geachtet wird. Folglich gibt es hier eine hohe Nachfrage nach Alu-Bikes.“ Auf unsere Frage nach dem Marktverhältnis zwischen beiden Bike-Segmenten nennt uns FOCUS eine höhere Nachfrage bei Gravel-Bikes als bei Allroad-Bikes, wobei sie bei beiden Segmenten insgesamt steigen würde.

Cervélo verwendet für den Bau seiner Fahrräder ausschließlich Carbonfasern, wie Philip betont: „Einige Hersteller heben Carbon als ‚Marke‘ hervor. Dabei kommt es aber darauf an, das richtige Material und die richtigen Module zu verwenden. Denn so lässt sich sicherstellen, dass das Fahrrad in erster Linie robust und widerstandsfähig ist und an den richtigen Stellen über entsprechende Steifigkeitswerte verfügt. Das Gewicht steht dann an dritter Stelle. Wir haben hier eine klare Philosophie: ‚Wir verwenden das richtige Material an der richtigen Stelle‘ – das ist es, was ein gutes Carbon-Bike ausmacht.“

Allroad- oder Gravel-Bike? Was brauchst du?

Nachdem wir das Thema nun dank unserer Gesprächspartner detailliert beleuchtet haben, wird klar: Pauschale Antworten sind nicht möglich. Wir versuchen es trotzdem und wollen euch bei eurer Kaufentscheidung eine konkrete Richtlinie geben. Denn so könnt ihr eure Bedürfnisse und die Merkmale des Bikes sinnvoll zusammenbringen – und dabei ganz nebenbei eine für euch sinnvolle und praktikable Kategorisierung von Bikes vornehmen!


Reifen bis 28 mm Breite

  • Du bist ambitionierter Profi- oder Hobby-Racer bzw. siehst dein Bike ausschließlich als Sportgerät.
  • Bei der Jagd nach Sekunden kommt es dir auf maximale Performance und Aerodynamik an.
  • Du bist nur auf Asphalt unterwegs: 100 % Asphalt, 0 % Gravel.


Reifen zwischen 28–36 mm Breite

  • Du liebst hohe Geschwindigkeit und dynamische Fahreigenschaften.
  • Radfahren ist deine Leidenschaft und du willst Fahrspaß auf allen Distanzen, Komfort ist wichtig.
  • Du bist überwiegend auf Asphalt unterwegs: 80 % Asphalt, 20 % Gravel.


Reifen zwischen 36–45 mm Breite

  • Du bist gerne flott unterwegs und schätzt ein stabiles Handling, das sich durch ein Plus an Laufruhe und Sicherheit auszeichnet.
  • Du willst grenzenlos Radfahren und keine Chance auslassen, nach rechts oder links ins Ungewisse abzubiegen.
  • Du bist immer im gemischten Terrain unterwegs: 50 % Asphalt, 50 % Gravel.


Reifen ab 46 mm Breite

  • Geschwindigkeit ist für dich keine bestimmende Maßeinheit, du rechnest nur in Erlebnissen und willst für jedes Szenario vorbereitet sein.
  • Du entkommst gerne der Zivilisation und ihrer Geräuschkulisse. Dabei begibst du dich im Explorer-Modus gerne auch mit Gepäck ins Unbekannte.
  • Auf der Straße sieht man dich nur, wenn es gar nicht anders geht: 5 % Asphalt, 95 % Gravel.

Unser Fazit


Ob Gravel- oder Allroad-Bikes – Bike-Kategorisierungen sind nicht absolut. Vielmehr hängen sie vom Standpunkt einer Marke und vor allem vom Endkonsumenten ab. Denn entscheidend ist der Einsatzbereich, auf den die Reifendimensionen dann einen riesigen Einfluss haben. Während Allroad-Bikes als moderne Rennräder Spritzigkeit und Komfort vereinen, geht den Gravel-Bikes der Entdecker-Drang nie aus. Allen gemeinsam sind die einverleibten Endorphine – schließlich geht es um maximalen Fahrspaß.


Hat dir dieser Artikel gefallen? Dann würde es uns sehr freuen, wenn auch du uns als Supporter mit einem monatlichen Beitrag unterstützt. Als GRAN FONDO-Supporter sicherst du dem hochwertigen Bike-Journalismus eine nachhaltige Zukunft und sorgst dafür, das die New-Road-Welt auch weiter ein kostenloses und unabhängiges Leitmedium hat. Jetzt Supporter werden!

Text: Simone Giesler, Benjamin Topf Fotos: Philipp Schwab