Die wirklich guten Dinge im Leben beginnen oft mit einer blöden Idee: „Lasst uns für einen Römer nach Augsburg fahren!“ Es war Sommer, es war 2020 und 18 Jungs und Mädels aus Stuttgart sattelten ihr Fixed-Gear-Bike und machten sich auf den Weg. Über eine Fahrt jenseits der Vernunft und über die Suche nach dem ultimativen Abenteuer.

Fixed Gear, das bedeutet: ein Gang, kein Leerlauf – Purismus radikal. Weniger geht nicht. Das Fixie ist auf das Wesentliche reduziert und man muss sich nicht darum kümmern, ob die Kette gerade im richtigen Gang ist. Nichts lenkt ab, es gibt keine Unterbrechung im Mantra der nicht enden könnenden Pedalumdrehung. Das unaufhörliche Pedalieren stellt eine der direktesten Verbindungen zwischen Mensch, Bike und Umwelt her. Man taucht ab in das Erlebnis, nimmt alles um sich herum auf und ist gleichzeitig ganz bei sich. Um genau das wieder einmal zu erfahren, war ich zusammen mit den Mitgliedern des Heaven and Hell Cycles Club und den Stuttgarter Velohelden unterwegs von Stuttgart nach Augsburg – ursprünglich, weil irgendjemand die Idee hatte, dass wir dort unbedingt einen Römer* essen müssen. Gedankenfetzen, Gespräche und Begegnungen von banal bis surreal begleiteten uns auf 175 km.

* Anmerkung der Redaktion: Augsburger Tradition zum Essen – der Römer ist eine herzhafte Semmel mit Kümmel, perfekt zur bayerischen Brotzeit.

Freitagabend, 18.37 Uhr
Gerade kam das brandneue Specialized S-Works Tarmac SL7 durch die Tür. Ich war gerade dabei, frisches Lenkerband auf mein altes FIXIE Inc. Floater zu kleben. Wie hättet ihr reagiert, wenn eine der heißesten Rennrad-Neuvorstellungen 2020 vor euch steht? Ich habe kurzerhand den Fixed-Gear-Rahmen für 100 € gesattelt und begonnen, alles umzupacken. Die Vorfreude auf meine vermutlich schrägste Tour des Sommers ist nun dabei, Zenit zu buchstabieren.

In der Nacht, 1.10 Uhr
Das Bike ist jetzt endlich fertig gepackt. Noch schnell die Beine rasieren, damit morgen wenigstens der Look passt, wenn es die Form schon nicht tut. Eine Trinkflasche, ein Gang, 175 km to go. 4 h Schlaf müssen es richten. Es wird die bis dato längste Tour der Saison werden und vor dem Einschlafen kreisen die Gedanken: 1.300 Höhenmeter – passt der Gang? Auf der Ebene wollen wir ja auch nicht trödeln – passt der Gang? Wird das ein entspannter Samstag werden oder die Wochenend-Grenzerfahrung des Jahres? Jetzt ist das Bike schon auf das Nötigste reduziert und trotzdem bleibt mir die innere Diskussion nicht erspart. Der Zweifel nagt: War das doch alles eine blöde Idee?

Weniger geht (fast) nicht: die Leichtigkeit des Seins.

Samstagmorgen, 6.02 Uhr
Mein Kumpel Hannes hat nur eine Flasche dabei und kein Gepäck.
„Hey, wo sind denn deine Sachen?“
„Ich hab ein Bike und ein Handy. Das reicht.“
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich es hier mit Zuversicht, Naivität oder dem puren Abenteuergeist zu tun habe. Bevor ich dazu komme, mich gedanklich weiter im Kreis zu drehen, gibt es das Briefing von Marc, dem Initiator der Tour. Zu seinen Füßen liegen noch die letzten Spuren des Stuttgarter Nachtlebens.
„Gut, gibt es noch Fragen? Dann rollen wir los.“
Ein Gang, kein Leerlauf, alles wird gut.

Hannes ohne Gepäck, dafür mit viel Attitüde,…
… Scheiß drauf, lass rollen!

Samstagmorgen, 10.00 Uhr
(Zwischen-)Erkenntnis des Tages: Die Faxe-Dose passt in die Rapha Cargo Pants. Einziger Downer: Das Bein wird ganz schön kalt. Aber für dänisches Bier kann man schon mal Opfer bringen.

Je früher, desto Bier – heute sinkt für Sie: das Niveau.

Samstagmorgen, 11.14 Uhr
„Keine Lust auf Weißwurst-Frühstück?“
„Dann check mal Fischbrötchen. Die sind super.“
„Ja, aber ich bin Veganer.“
„Hmm … Fisch ist ja auch mehr Gemüse als Tier.“
Mich beschleicht das leise Gefühl, dass uns schon jetzt der Bezug zur Realität ein ganz klein wenig abhandenkommt. Andererseits: Was will man von einer Gruppe Menschen erwarten, die 175 km auf dem Fixie fahren für ein glorifiziertes Brötchen?

Irgendwann ist mal gut mit den guten Vorsätzen …

Samstagmittag, 12.17 Uhr
Hightech aus einem anderen Jahrhundert. Das Fixie ist auf langen Strecken dankbar, denn das Pedal kommt immer wieder zurück. Am Berg musst du natürlich anders fahren als mit dem Schalter, aber das geht schon auch mal mit einem Gang und ohne Leerlauf – alles wird gut.

Samstagmittag, 13.57 Uhr
Tritt für Tritt kämpfen wir uns voran. Je schwerer die Beine, desto existenzieller die Gedanken: Was zum Teufel mache ich hier eigentlich? War das vernünftig? Apropos Vernunft: Was passiert mit einem, wenn man kurz davor steht, 30 zu werden? Familienplanung? Hauskauf? Manche machen es wie GRAN FONDO-Gründer Robin und kaufen sich mit einem 911er-Porsche das Traumauto, während ich überlege, welche Uhr es denn sein soll. Ist das jetzt schon die Midlife-Crisis?
In dieser Gruppe bin ich noch nie gefahren und die daraus resultierende Unsicherheit hat mich zu Beginn des Rides immer wieder nach vorn getrieben. Die Front des Feldes ist schließlich meistens der sicherste Platz. Und irgendwie will ich das Ding jetzt auch im Wind zu Ende fahren. Aber warum eigentlich? Muss ich jemandem etwas beweisen oder muss ich mir zeigen, dass ich so einen Ride auf dem Fixed-Gear-Bike ohne Probleme abreißen kann? Egal wie man es dreht, mit Vernunft hat das hier gerade alles nicht so richtig zu tun.
Ein Gang, kein Leerlauf – wird alles gut?

Auf Sinnsuche: Chefredakteur Ben und Kumpel Fabi.

Samstagnachmittag, 14.47 Uhr
Wir alle kennen diesen einen Typen, der vorne fährt und mit seinen Manövern die Leute hinter ihm verunsichert. Selfies gehören da auch dazu. Heute bin das wohl ich. Bis vor wenigen Minuten war ich noch tief versunken in mein Gespräch mit Fabi, jetzt ist es mal wieder an der Zeit, unsere Heldentaten für die Nachwelt festzuhalten. Bereits jetzt, noch ein gutes Stück vor der Ziellinie, glorifizieren wir unser heutiges Werk und stellen fest: Nach all den Stürzen in der Vergangenheit steckt in uns genügend Metall, um einen Terminator zu bauen. Okay, wir sind jetzt nicht wie Patrick Seabase und fahren mit dem Fixie über die Alpen, aber Beine aus Stahl haben wir auch … oder eben zumindest Schlüsselbeine. Meine Zweifel von letzter Nacht und heute Morgen treten in den Hintergrund. Dasselbe passiert mit unseren kollektiven Römer-Gelüsten. Genauso spontan, wie wir unsere Fahrt wegen dieses speziellen Brötchens gestartet haben, lassen wir jetzt die Mägen der Mehrheit sprechen. Und die verlangen nach Pizza – so sehr, dass wir sie am Zielort schon beinahe riechen können. Der süße Duft von frischem Teig, Tomaten und Euphorie vermischt sich mit den Gerüchen der verschwitzten Bibs aller Mitfahrenden.
„Lass mal fertig machen, das Ding!“ Immer noch ein Gang, kein Leerlauf, es wird richtig gut.

Mit dabei: Stuttgarter Velohelden und Heaven and Hell Cycling Club.

Samstagnachmittag, 16.02 Uhr
Endlich in Augsburg. Check-in im City-Hostel. Schlüssel abholen und ab zum Bib-Dip im Proviantbach. Danach gibt es meterweise Pizza, bezahlt wird bequem mit Bargeld im Sitzkreis. Auf dass das feuchte Sitzpolster unserer Bibs über Nacht über unseren Köpfen trockne – ’n Gudn!

Immer flexibel bleiben: Wenn man eigentlich auf einen Römer nach Augsburg fährt, sich dann aber für Pizza entscheidet.
175 km mit nur einem Gang
doch am Ende wird alles gut.

Samstagabend, 21.34 Uhr
Begrüßung in der Bar Susis Hexenhaus:
„Hi, ich bin Fabi!“
„Hallo Barbie.“
Ähm … ja, fast dasselbe. So schnell hat man seinen Spitznamen für den Abend weg. Aber das war nicht die einzige Erkenntnis des Tages, denn wir wissen jetzt auch, was man für ein gelungenes Abenteuer braucht:
1. Einen Gang
2. Keinen Leerlauf
3. Die Zuversicht, dass am Ende immer alles gut wird

Der Off-Bike-Dress-Code war klar: Klickschuhe 24/7.
Nach der Bar ist vor dem Ride. …
… Der Besuch in Susis Hexenhaus hat deutliche Spuren hinterlassen.

175 km von Stuttgart nach Augsburg. Zwanglos mit dem Handy dokumentiert. Mit einem Gang, ohne Leerlauf. Die Reduktion auf das Wesentliche war definitiv ein besonderes Erlebnis. Auch wenn das unendliche Treten in gewisser Weise eine Grenzerfahrung war, kann man doch verdammt viel erreichen, wenn man sich nur einfach darauf konzentriert, einen Pedaltritt nach dem nächsten zu machen. Es wird bestimmt nicht unser letztes Abenteuer in dieser Form bleiben. Denn wir wissen jetzt, es braucht eigentlich nicht viel, um anzukommen – in Augsburg und bei sich selbst.


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Text: Benjamin Topf, Susanne Feddersen Fotos: Benjamin Topf, Heaven and Hell, Velohelden Stuttgart