Wenn man sich die neuen Rennrad-Modelle für 2019 anschaut, kommt man nicht daran vorbei den Begriff „Aero“ in den Mund zu nehmen. Wir lassen für euch die neuesten und heißesten Aero-Bikes gegeneinander antreten. Was können die Aero-Racer und wo sind die Limits? Brauchen wir Aero auf dem Ride mit den Kumpels? Wir beantworten diese und viele weitere Fragen rund um das Thema Aero.

Der legendäre Sieg von Greg LeMond 1989, bei dem er Laurent Fignon den Sieg der Tour de France beim finalen Einzelzeitfahren auf der Champs-Élysées aus den Fingern riss, war ein Wendepunkt in Sachen Aerodynamik. Wurde das Thema zuvor noch kaum beachtet, realisierte die Radsportwelt plötzlich, welche Unterschiede ein einfacher Zeitfahrlenker machen kann. Heute ist das Thema “Aero” nicht mehr aus dem Profisport wegzudenken und auch die Jedermänner und Coffee-Racer finden Gefallen an den voluminösen Aero-Geschossen. Man könnte fast meinen, dass die Aerodynamik zum Kern der Bike-Designs geworden ist. Dabei sollte man aber beachten, dass viel mehr dazugehört schnell zu sein, als auf dem windschnittigsten Aero-Bike zu sitzen.

Wer schon einmal die Hand aus einem fahrenden Auto gehalten hat, weiß, wie sich das anfühlt, wenn der Luftwiderstand exponentiell mit der Geschwindigkeit steigt. Das bedeutet, bei doppelter Geschwindigkeit ist der Luftwiderstand viermal so groß. An den physikalischen Gesetzmäßigkeiten können wir nichts drehen, aber zwei Aspekte kann man sehr wohl verbessern: die Umströmung von Bike und Fahrer sowie die Widerstandsfläche, die wir dem Wind bieten.

Genau an ebendieser Umströmung – dem sogenannten cw-Wert – setzen die Ingenieure der Bikehersteller an, um sie noch effizienter und aerodynamischer zu machen. Dabei kommen optimierte Rohrformen, integrierte Kabelführungen bis hin zu speziell designten Abrisskanten zum Einsatz. Man sollte sich aber vor Augen führen, dass die Verringerung des cw-Wertes nur geringe Vorteile im Gegensatz zur Verkleinerung der Widerstandsfläche bringt. Denn über 75% des Luftwiderstands entfallen auf den Fahrer.Was bedeutet das?

Die Widerstandsfläche zu verringern ist der effizienteste und wohl günstigste Weg schneller zu werden. Und wie lässt sich das erreichen? Eine aerodynamische Position auf dem Bike ist der Joker in Sachen Geschwindigkeit und ein im Wind flatterndes Gilet ruiniert weit mehr, als wir uns je mit einem Aero-Bike erkaufen können.

Worauf kommt es bei Aero-Bikes an?

„Aero is everything!?“ Braucht es wirklich nur eine gute Aerodynamik um schnell zu sein? Sicher nicht! Wir erinnern uns zurück, als die Hersteller auf der Jagd nach Testsiegen im Labor immer steifere Bikes gebaut haben, die irgendwann fast unfahrbar wurden. Sehen wir dasselbe Phänomen nun mit neuem Schwerpunkt? Bei einigen Herstellern scheint es so. Hierauf kommt es wirklich an, um schnell zu sein:

Handling

Wer zwar auf der Geraden schnell ist, aber in jeder Kurve und technischen Abfahrt wertvolle Zeit verliert, zieht schnell den Kürzeren. Auf dem Papier unterscheiden sich die Geometrien der Bikes nur marginal, da sie unter anderem alle nach UCI-Reglement designed wurden. Auf der Straße zeigt sich aber schnell, ob ein Konzept funktioniert – hier gibt es riesige Unterschiede! Je nach Fahrkönnen des Piloten sorgt ein sicheres oder komfortableres Bike für schnellere Zeiten als das aerodynamischste Geschoss.

Sicherheit

Ob es der Zielsprint, die Serpentinen-Abfahrt oder die lockere Ausfahrt in der Gruppe ist – in allen Situationen will man seinem Bike voll und ganz vertrauen können. Hierbei geben die Bremsperformance, eine hohe Laufruhe und ein präzises und ausbalanciertes Handling den Ton an. Eine gewisse Gutmütigkeit, die kleine Fahrfehler verzeiht und Unebenheiten der Straße ausbügelt, helfen die Oberhand zu behalten, oder besser „Rubber side down“. Fehlt all das, ermüdet man schnell, verkrampft auf dem Bike und liegt schneller auf der Nase als einem lieb ist. Laufräder haben hier auch einen großen Einfluss – so gibt es erhebliche Unterschiede bei der Umströmung von Aero-Laufrädern. Während das eine Laufrad bei starkem Seitenwind kontrollierbar und souverän bleibt, jagen andere Laufräder mit identischer Felgentiefe dem Fahrer Schweißperlen auf die Stirn.

Komfort

In Sachen Komfort sei angemerkt, dass wir über den relativen Komfort verglichen zu aerodynamisch-optimierten Race-Bikes wie dem Canyon Aeroad Disc oder dem 3T STRADA sprechen. Ein Vollblut-Aerobike wird sich schon aufgrund der steifen Aero-Formen schwer tun, ein vergleichbares Level an Komfort zu erreichen wie etwa das Specialized S-Works Tarmac. In dieser Kategorie ermöglicht ein hohes Level an Komfort kein stundenlanges Cruisen über raues Terrain, sondern die Möglichkeit eine effiziente und aerodynamische Sitzposition lange halten zu können.

Design und Qualität

Bei einem Testfeld, welches sich geschlossen über der 10.000 € Grenze bewegt, sind die Erwartungen entsprechend hoch. Hier muss nicht nur die Performance stimmen, sondern auch das Design und die Qualität. Dabei spielt nicht nur die Ästhetik eine wichtige Rolle, sondern auch das Thema Integration, formschöne Übergänge der Aero-Elemente, aber auch die Geräuschkulisse und Verarbeitungsqualität. Wer schon beim Bart ölen und Socken zurecht zupfen Wert auf Details legt und den Pre-Ride-Espresso zelebriert, macht nur ungern Abstriche beim Style des neuen Aero-Racers.

Das Testfeld

Im Testfeld des Aero-Bike-Tests schauen wir uns die neuesten Kreationen der Big-Player genauer an und lassen diese gegeneinander antreten. Den neuesten Wurf der Schweizer Edelmarke BMC hätten wir gerne im Test mit aufgenommen, aber leider war kein Testbike verfügbar. Einen ausführlichen Einzeltest der BMC Timemachine 01 Road ONE findet ihr aber bereits auf unserer Website.

Bike Reifen Schaltgruppe Gewicht Preis
Specialized S-Works Venge 2019

Specialized Turbo Cotton, 320 TPI, 700 x 26 mm Shimano DURA-ACE Di2 7,19 kg 10.999 €
Cannondale SystemSix Hi-MOD DURA-ACE Di2 Vittoria Rubino Speed, 700 x 23C Shimano DURA-ACE Di2 7,66 kg 10.499 €
Trek Madone SLR 9 Disc 2019 Bontrager R4 320, 320 TPI, 700 x 25C Shimano DURA-ACE Di2 7,63 kg 11.499 €
Specialized S-Works Venge 2019 | 7,19 kg | 10.999 €
Cannondale SystemSix Hi-MOD DURA-ACE Di2 | 7,66 kg | 10.499 €
Trek Madone SLR 9 Disc 2019 | 7,63 kg | 11.499 €

Tops und Flops

Oftmals sind es die Details, die den Unterschied machen: gelungene Integration, erstklassige Ergonomie und mit bedacht gewählte Komponenten. Hier findet ihr alle Tops und Flops der Bikes aus unserem Vergleichstest.

Tops

Aero kann sich so gut anfühlen
Dank des IsoSpeed-Dämpfers ist das Trek Madone ein wahres Komfort Wunder
Radwechsel wie die Profis
Mit dem Speed Release am Cannondale sind Radwechsel auf Profiniveau kein Problem
Integration und Ergonomie auf höchstem Niveau
Trek und Specialized trumpfen in Sachen Cockpit mit toller Ergonomie, Integration und das alles bei voller Kompatibilität mit Standard Lenkern
Find me if you can
Eine wunderschöne Lösung: Specialized versteckt die Di2-Junction-Box in der Sattelstütze.

Flops

Keine engen Kurven
Beim Cannondale limitieren die Kabel und Leitungen den Lenkeinschlag, was das Risiko mit sich bringt die Kabel zu beschädigen
Wo ist die Power?
Das teuerste Bike im Test ist das Einzige ohne Wattmessung. Das hätten wir beim Trek Madone gerne anders gesehen.
Unschöne Einblicke
Die Übergänge am Steuerrohr sind am Cannondale unschön gelöst, denn es bietet beim Einlenken Einblicke, die man nicht erwartet hätte
Alles andere als komfortabel
Die Vittoria Rubino Pro am Cannondale bauen zwar bedeutend breiter als 23 mm, generieren aber in Kombination mit dem steifen Laufradsatz wenig Komfort

Erkenntnisse

Integration wird groß geschrieben. Bei allen Bikes im Test sieht man ein sehr hohes Maß an Integration – von innen verlegten Zügen, versteckter Di2-Junction-Box, versteckten Sattelklemmen bis hin zum integrierten GPS-Mount. Dabei zeigt sich jedoch, dass man die Zugänglichkeit für den Service am Bike und die Alltagstauglichkeit nicht aus den Augen verlieren darf. Denn wenn man Profi-Schrauber sein muss, um den Sattel höher zu stellen, ist bei der Bike-Konstruktion definitiv etwas schief gelaufen. Insbesondere Aero-Bikes der vergangenen Jahre hatten hier große Defizite. Die neue Generation an Aero-Bikes ist hier deutlich minimalistischer und praktischer unterwegs.

Service nur vom Profi? Das hohe Maß an Integration zusammen mit dem Trend zur hydraulischen Scheibenbremse macht es für den Jedermann immer schwerer, selbst am Bike zu schrauben. Gerade in Sachen Zugänglichkeit der Kabel und Leitungen, Wartung bei Fehlern der elektronischen Schaltung und Wechsel der Bremsflüssigkeit müssen die Hersteller noch einiges tun und wir hoffen hier noch mehr clevere Lösungen zu sehen, wie die Klappe unter dem Flaschenhalter am Trek Madone.

Effizienz und Steifigkeit. Alle Bikes im Test zeigen ein sehr hohes Maß an Effizienz im Antritt und auch die Cockpit-Einheiten sind um einiges steifer als konventionelle Lenker-Vorbau-Kombinationen. Der Steifigkeit fällt dann aber der Komfort zum Opfer, Trek schafft es dank zusätzlichem Dämpfungselement – dem IsoSpeed-Dämpfer, der das Sattelrohr vom Rahmen entkoppelt – den Komfort der Aerorahmen auf ein gutes Niveau zu heben.

Kompakt regiert! Alle Testbikes setzen sowohl bei der Wahl der Kurbel als auch beim Drop des Lenkers auf kompaktere Versionen, was für die Normalsterblichen wie uns die deutlich bessere Wahl ist. Eine Semi-Kompakt-Kurbel bietet einen tollen Kompromiss aus hoher Endgeschwindigkeit und guten Kletterreserven. Ein kompakterer Lenker mit kleinerem Drop verkleinert den Unterschied zwischen Ober- und Unterlenker, was das Fahren in der aerodynamischen Position für viele Fahrer deutlich angenehmer gestaltet.

Der Ton macht die Musik. Die voluminösen Rahmen der Aero-Bikes sind nicht nur windschnittig, sondern bieten auch einen großen Resonanzkörper. Dies bedeutet, dass nicht nur Schläge und eventuelles Knacken deutlich lauter sind, sondern auch ein Überraschungsangriff beim Ortsschildsprint fast unmöglich ist, da die Geräuschkulisse das Heranrollen ankündigt. Schnell, laut… leider geil!

Aero aber Safety first. Der Aero-Tuck, den man immer wieder im Profi-Peloton zu sehen bekommt mag zwar schnell sein, aber man sollte die Sicherheit nicht aus dem Auge verlieren. Bodenwellen oder anderweitige Überraschungen können böse enden, wenn man nicht schnell genug wieder auf dem Sattel sitzt. Die Alternative? Kopf runter, Beine ans Oberrohr, so ist man fast genauso schnell unterwegs, hat aber volle Kontrolle. Denn ein zerrissenes Trikot und blutüberströmte Beine sind zwar “epic shit” im Fernsehen, aber am eigenen Leib definitiv nicht zu empfehlen.

Disc rules! Noch vor nicht allzu langer Zeit waren sie im Profi-Peloton heiß umstritten, heute sind Scheibenbremsen kaum mehr wegzudenken. Die verbauten Highend-Gruppen gewährleisten eine tolle Bremsperformance in allen Lebenslagen. Zudem bieten die steifen Rahmen eine gute Grundlage, die Bremskraft aufnehmen zu können, ohne unruhig zu werden. Trotzdem kommt es auf die Balance an und wir bevorzugen weiterhin ein 160/140 mm Setup der Bremsscheiben für eine gute Kraftverteilung.

Die Aero-Bikes im direkten Vergleich

Alle drei Kontrahenten versprechen extrem aerodynamisch zu sein, kommen mit fast identische Geometrien, bringen das Thema Integration auf ein neues Level, kosten alle über 10.000 € und könnten doch nicht unterschiedlicher sein. Das agilste und in Profihand extrem schnelle Specialized Venge ist das leichteste und flinkste im Test, erfordert aber eine erfahrene Hand. Das Cannondale bringt neue Ideen und muskulöse Formen, wirkt aber zum Teil disproportional und lässt eine essenzielle Komponente vermissen: den Komfort. Serienmäßige Wattmessung bieten sowohl das Specialized als auch das Cannondale – ein dickes Plus für alle Daten-Freaks unter uns. Letztendlich benötigt es aber ein perfektes Allround-Paket aus Komfort, Sicherheit und Laufruhe, um auf Dauer aerodynamisch und schnell unterwegs zu sein. Und genau dies schafft keiner so gut wie das Trek Madone SLR 9 Disc 2019. Ein klarer Testsieg für das komfortable Technikwunder!

Fazit

Das neue Trek Madone SLR 9 Disc 2019 ist nicht nur das schnellste Aero-Race-Bike, sondern auch die beste Wahl für alle normalsterblichen Fahrer. Es bietet verdammt viel Speed, viel Design und Technikfaszination – und überraschend viel Komfort.
Trotz des Aero-Trends sollte man sich nicht verrückt machen lassen. Was willst du alles der Aerodynamik opfern?

Wer kann, der kann – und deshalb knallen wir mit dem Trek Madone über die Straßen unserer Heimat, während wir das Gefühl der Freiheit unseres im Wind wehenden Gilets genießen. Wer wirklich aero sein möchte (auch wenn er nicht gerade wie Greg LeMond an einem Einzelzeitfahren auf der Champs-Élysées teilnimmt), weiß, worauf es ankommt. Aerodynamik ersetzt kein Training – das gilt nicht nur für die Muskeln, sondern vor allem für die Flexibilität: Möge der Clevere gewinnen!


Alle Bikes im Test

Cannondale SystemSix Hi-MOD DURA-ACE Di2 | Specialized S-Works Venge 2019 | Trek Madone SLR 9 Disc 2019

Dieser Artikel ist aus GRAN FONDO Ausgabe #010

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Text: Fotos: Benjamin Topf