Ein dramatischer Post-Gewitterhimmel huldigt deinem Strava PR, die Abendsonne zaubert lange Schatten auf den Asphalt und vor dir liegt nichts als Belohnung. Rückenwind, die letzte Kuppe, und da ist er, dieser Moment, der mehr ein Gefühl ist. Alles ist leicht. Alles ist gut. Biken kann glücklich machen. Und Glück macht süchtig. Wie entsteht das Drop-Bar-High?
Vieles von dem, was wir als individuelle Glückserfahrung wahrnehmen, ist schnöde Biochemie. Hormone steuern, wie wir die Welt wahrnehmen. Sie machen uns stressresistenter, mutiger und glücklicher. Wenn Hormone die Zutaten im Glücks-Cocktail sind, ist das Bike der Barkeeper. Einmal self-confidence in the drops? No Problem. Schon nach 30 Minuten hat das monotone Pedalieren die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse so reguliert, dass weniger Stresshormone ausgestoßen werden. Jetzt noch ein Shot Dopamin und eine Prise Serotonin, und plötzlich umweht dein Ego ein Hauch von Pogačar. Oder doch lieber ein Sex-on-the-Bike? Muskel-Training bringt die Testosteron- bzw. Östrogen-Produktion auf Touren – neue Aero-Laufräder und 3D-gedruckte Sättel natürlich auch.
Aber genug der profanen Bio-Nummer. Schließlich sind wir ja nicht nur Opfer der Evolution, sondern Drop-Bar-Biker. Eine hochentwickelte Spezies, die bewusst entscheidet, welchen Stressoren sie sich aussetzt oder wo sie ihr Glück sucht. Ein guter Ausgangspunkt ist (Achtung: keine Ironie) unsere Website oder App. Wir versuchen, euch die ganze Bandbreite an Zugängen zum Thema Bike zu bieten. Von abgefahrenen Parts und High-End-Bikes, über magische Orte und epische Adventures, bis hin zu ebensolchen pseudo-philosophischen Artikeln zum Thema Glück. Wer will, kann also die eigene Inspiration erstmal im Windschatten der Begeisterung anderer ins Rollen bringen. Doch selbst die bewegendste Fremderfahrung ersetzt nicht das eigene Erleben. Der Konsum von Content ist immer nur Vorglühen, die Party steigt auf dem Bike. Also lieber 30 Minuten selbst durch den matschigen Kartoffelacker pflügen, als eine Stunde durch Robins sonnentriefende Searching for Paradise-Pics scrollen.
Na, zurück aus Ibiza? Dann ab aufs Bike. Aber halt! Ist die Route perfekt gewählt? Habe ich das ideale Wetterfenster abgepasst? Und welche Brille passt zum Kit? Optionen sollen uns Freude bringen, stattdessen sorgen sie meist für Frust. Auf der Suche nach dem Optimum irren wir durch den unendlichen Möglichkeitsraum, um uns irgendwann im Konjunktiv zu verlieren. Egal ob beim paralysierenden Starren aufs Regenradar oder beim hundertsten Vergleich von Laufrad-Specs, es gibt einen Sweet Spot für Entscheidungen. Wer ihn verpasst, prokrastiniert und ist unglücklich. Die Art, wie wir Entscheidungen treffen, ist oft entscheidender als die Entscheidung selbst. Also lieber mal an der Endorphin-Bar den Surprise-Cocktail bestellen, statt zu warten, bis der Dopamin-Jockey den Rausschmeißer spielt.
Glück braucht Raum, um sich entfalten zu können. Und Glück braucht Überraschungen. Mit Regenradar, Routenplanung, Puls- und Wattmessung, Gels und Riegeln, Kreditkarten und Handys haben wir den natürlichen Lebensraum des Unerwarteten beschnitten und den Zufall in Ketten gelegt. In einem mit schrillen Warntönen abgesteckten Herzfrequenz-Korridor folgen wir mit gesenktem Blick einer pixeligen Linie und wissen schon vor dem Start, wann wir das Koffein-Gel brauchen, um die 13,7 % Maximalsteigung bei Kilometer 61,4 bewältigen zu können. Der Ride verkümmert zum Erfüllungsgehilfen einer vordefinierten Erwartungshaltung. Das macht vielleicht fit, aber macht es Freude?
Doch keine Sorge. Nicht alles ist planbar, und selbst im Unterlenker können wir dem Zufall nicht entkommen. Kurz-kurz-Rider, die im Hagelsturm fassungslos auf das Sonnen-Icon der Wetter-App starren; eine Baustelle, die uns mit 30-mm-Reifen auf einen wunderschönen Singletrail zwingt und der nette Opi, der irgendwo im Keller noch Flickzeug hat und uns, weil wir zu blöd sind, den eng sitzenden Tubeless-ready-Reifen von der Felge zu bekommen, mit einem Butterbrot als Wegzehrung zum nächsten Bahnhof fährt. Glück entsteht mit ziemlicher Sicherheit dort, wo die Verzweiflung der Erkenntnis weicht, dass das große Drama bloß ein Türöffner zu einem besonderen Erlebnis oder einer neuen Erfahrung ist. Manchmal braucht es eben das Gewitter, um zwei Stunden später aus einer Kneipe zu taumeln und festzustellen, dass der Himmel sogar nüchtern der Hammer wäre – das Schicksal hat es sich trotzdem nicht nehmen lassen, etwas Alkohol in unseren Dopamin-Cocktail zu mixen.
Glück braucht aber noch mehr als (un)-glückliche Zufälle. Glück braucht Muße. Es ist schwer, liegengebliebenen Aufgaben oder gefühlten Verpflichtungen zu entfliehen. Auch ist das Bike kein Life-Hack gegen Stress oder Depressionen. Radfahren funktioniert nicht als Mittel zum Zweck, Radfahren funktioniert als Selbstzweck. Dinge dürfen passieren, mit Open-End ohne Termindruck.
Wenn all das nicht glücklich macht, zieht der Endorphin-Mixer noch ein letztes Geheimnis aus dem Shaker. Egal wie unfit, egal wie viel Wind, egal wie öde die Strecke, am Ende gibt es auf jedem Ride den Moment, der sich richtig anfühlt. Du darfst ihn nur nicht suchen, sonst findet er dich nicht. Er taucht aus dem Nebel auf, er reitet auf dem Rückenwind, er grinst dir aus der leeren Cappuccino-Tasse ins Gesicht. Auf einmal macht es Sinn, genau jetzt, genau hier zu sein. Und es macht glücklich.
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Text: Nils Hofmeister Fotos: Julian Lemme