Was bewegt Menschen dazu, 1.000 km nonstop zu fahren? In Schaffhausen gab es Mitte August genau 192 Personen, die diese Frage hätten beantworten können. Die TORTOUR ist das größte, mehrtägige Nonstop-Ultracycling-Event der Welt und schafft genau das, was viele Golfturniere nicht schaffen.

Tortour 2016 granfondo cycling ultracycling kpmg iwc schaffhausen joko vogel tortour schaffhausen (59 von 346)

39 h und 59 min, exakt diese Zeit hat Lionel Poggio – der diesjährige TORTOUR-Sieger und der neue Schweizer Meister im Ultra-Cycling – für die rund 1.000 km lange Strecke mit 13.000 Höhenmetern benötigt. Die Siegerin Nicole Reist hat knapp 3,5 h länger gebraucht. Was treibt Sportler dazu an, so die Limits auszureizen?

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„Für kein Geld der Welt würde ich da mitfahren“, sagt mir ein Teambegleiter am Samstagmorgen, nachdem sein Team bereits 800 km absolviert hat. Und dieser Mann muss es wissen. Er arbeitet bei KPMG, hat tagtäglich mit Zahlen zu tun und mittlerweile schon volle 26 h im Begleitfahrzeug verbracht. Dort kriegt er naturgemäß alle Höhen und Tiefen des Vierer-Teams mit und kommt zum Schluss: „Die TORTOUR kann man rational nicht erklären.“

20 min Schlaf, das ist alles, was KPMG-Teamchef Beat abkriegen wird in den 31 h, die sein Team letztendich für die Strecke braucht. Wach halten ihn eine gesunde Überdosis Red Bull, Guarana-Shots und der eiserne Wille, seinen aufgestellten Zeitplan einzuhalten. Müssten die Fahrer einzeln starten, würden einige vielleicht aufgeben. Aber der Wille, für das Team alles zu geben, ist einfach gewaltig – trotzt einiger technischer Defekte, die insbesondere in den Nachtstunden unglaublich kräftezehrend sind.

Doch wer sind diese Fahrer bei der TORTOUR? Ein bunter Mix aus Schweizer Elite, (Ex-)Radprofis und Ultrasportlern finden sich auch dieses Jahr wieder unter den Teilnehmern der TORTOUR. Die Namen auf der Starterliste würden sich auch die meisten Golfturniere wünschen: Unternehmen wie Samsung, Allianz, Bosch, Deutsche Bank oder KPMG stellen Teams und fast scheint es so, als ob die Frage „Welcher Konzern hat das erfolgreichste Management?“ nicht anhand der Jahresbilanz, sondern bei diesem Rennen beantwortet werden würde.
Bereits vor dem Start wird klar, dass einige Alpha-Tiere klare (Sieges-)Ambitionen haben und mit penibler Vorbereitung, gezieltem Training und Supportteam maximale Leistung bringen wollen – doch Rennen sind wie die freie Wirtschaft: Man kann planen, kalkulieren und sich richtig vorbereiten. Und dann passiert doch etwas Unvorhergesehenes.

Tortour

Die TORTOUR ist ein Event der Maximen und Superlative, bei der selbst die kürzeren Distanzen den „normalen“ Rennradfahrer erzittern lassen. SPRINT heißt die mit 370 km kürzeste Renndistanz, TORTOUR die längste Distanz mit 1.000 km, dazwischen liegt die CHALLENGE mit 520 km.

Der organisatorische Aufwand ist enorm. Dazu gehört natürlich auch das richtige Support-Car. Vom Tesla über Sprinter bis hin zum Fiat Cinquecento ist alles mit dabei. VW-Busse dominieren zwar ganz klar die Flotte der populärsten Teamfahrzeuge (teils schön, teils mit Sponsorenaufdrucken komplett überladene Designs), die inoffizielle Wertung für das beste Begleitfahrzeug gewinnt jedoch ein ausgemusterter Krankenwagen.

Auf 1.000 km sieht, fühlt, riecht und erlebt man verdammt viel. Da wären Plattfüße, leere Akkus, GPS- und Funkgeräte, die den Geist aufgeben. Geschlossene Bahnübergänge oder rote Baustellenampeln sind nach 30 h im Sattel dann echte Highlights … nicht! Daher ist es manchmal gut, wenn die Fahrer zu erschöpft sind, um zu merken, wo sie da vorbeifahren: Atomkraftwerke, Werbeschilder für Relax-Massagen, stehende Kühe, stinkende Felder, lecker duftende Imbissbuden.

Selbst verstörende Kunst fand sich am Wegesrand – wobei sich in diesem Fall manch ein Fahrer gut damit hätte identifizieren können. Nach 950 km ist jeder Kilometer ein Kampf.
Selbst verstörende Kunst fand sich am Wegesrand – wobei sich in diesem Fall manch ein Fahrer gut damit hätte identifizieren können. Nach 950 km ist jeder Kilometer ein Kampf.
Fisch, Fleisch und Melonen? Selbst das wäre besser als das 30-stündige Drei-Gänge-Menü der Fahrer: Energie-Riegel, Energie-Gels, Energie-Drinks.
Fisch, Fleisch und Melonen? Selbst das wäre besser als das 30-stündige Drei-Gänge-Menü der Fahrer: Energie-Riegel, Energie-Gels, Energie-Drinks.
Eines der schönsten Straßenschilder für die Fahrer: Schaffhausen – das Ziel naht!
Eines der schönsten Straßenschilder für die Fahrer: Schaffhausen – das Ziel naht!

Insbesondere die Nacht ist die Feuerprobe für die Athleten. Wer sich hier gut schlägt und das Durchhaltevermögen nicht (ganz) verliert, kann das Rennen machen. Denn synchron zur aufgehenden Sonne kommt auch die Motivation zurück. Und die braucht man.

Schließlich gewinnt man die TORTOUR nicht nur mit den Beinen, sondern vor allem mit dem Kopf. Und vermutlich ist es genau das, was so viele Manager und Firmen anzieht. Eine neue Bewährungsprobe, eine neue Herausforderung. Das zu schaffen, was viele für unmöglich halten.

Mehr Infos und Ergebnislisten findet ihr hier.


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Text & Fotos: Robin Schmitt