Ausgabe #006 Special

Sei ein Pionier. Finde was Neues.

Verdammt, diese Adrenalinschübe sind die stärkste Droge der Welt und keine Regierung der Welt kann sie besteuern oder regulieren.

Auch wenn unsere Gehirne in Helme gepresst sind, ist darin immer noch genügend Platz für die Entscheidung, nichts als Spaß zu haben.

Doch was passiert, wenn unsere Freude nachlässt oder man sie ganz verliert? Wir können uns entweder neu erfinden oder das wiederholen, was wir bereits vor 20 Jahren getan haben.

Wenn du 90 bist. Ja genau, wenn du dir nicht mehr aus eigener Kraft die Hose zum Pinkeln runterziehen kannst, dann weißt du, dass es vorbei ist. Erledigt. Sieh dich im Spiegel an, wie sich deine Augen mit Tränen füllen, während du an all die Dinge denkst, die du nicht getan hast, weil du sie nicht für lohnenswert gehalten hast.
Oder vielleicht doch. Vielleicht hast du dich dafür entschieden, all die Dinge, die dir durch den Kopf schwirrten, einfach zu machen. Und vielleicht hast du dir dabei auch den Arsch aufgerissen. Wenn es so ist, dann gibt es keinen Grund, Tränen zu vergießen. Wenn es so ist, dann wirst du dich in diesem Spiegel anschauen können und noch breiter grinsen als Iggy Pop auf dem Cover von Lust for Life. Ja oder nein. Das Leben ist eine verdammte Aneinanderreihung von Entscheidungen.

Entscheidungen wie zum Beispiel an dem Tag, an dem du Asphalt gegen Schotter getauscht hast. Deine Freunde haben die Augenbrauen hochgezogen. „Meinst du das wirklich ernst, dort entlang zu fahren?“, haben sie gesagt. Ein paar Wochen später folgten dir einige der Spötter die Straße runter, bespritzten die „Made-in-Taiwan“-Sticker an ihren ansonsten makellosen Carbonrahmen mit Dreck. Wer weiß, vielleicht hast du Gravel Riding erfunden, du wusstest es bloß nicht.

Entscheidungen wie die, 25 mm breite Reifen zu fahren, während alle anderen mit 23ern und 7 bar unterwegs waren. Kein Komfort, kein Grip, nur Speed. Irgendwann merkt es auch das Peloton und wechselt zu 25 mm, aber du fährst längst 28er.
Oder damals, als du die Lycraklamotten weggeworfen hast, weil du nicht mehr wie eine Presswurst aussehen wolltest, und stattdessen deine 200-km-Tour in lässigen Shorts gefahren bist. Wer weiß, vielleicht bist du der Erfinder von New Road, du wusstest es bloß nicht.

Auch wenn unsere Gehirne in Helme gepresst sind, ist darin immer noch genügend Platz für die Entscheidung, nichts als Spaß zu haben. Doch was passiert, wenn unsere Freude nachlässt oder man sie ganz verliert? Wir können uns entweder neu erfinden oder das wiederholen, was wir bereits vor 20 Jahren getan haben.
Wir müssen an den Punkt zurückfinden, wo uns das Fahrrad nichts als Glück und Freiheit gab. Lass das Garmin zu Hause, kauf dir einen handgemachten Stahlrahmen, zieh dir ein Wolljersey an, tanz in Unterhosen durchs Haus, wenn du alleine bist. Du kannst immer noch sagen, Tom Cruise in „Lockere Geschäfte“ sei dafür verantwortlich.

  Still like that old time rock ‘n’ roll
that kind of music just soothes the soul
I reminisce about the days of old
with that old time rock ‘n’ roll

Erinnerungen an Tage, an denen alles sofort Sinn ergab, sobald wir in die Pedale traten. Die gehen nicht weg. Der Adrenalinkick, den wir immer noch jedes Mal spüren, wenn wir 600 Watt Leistung aus unseren Oberschenkeln pressen, oder wenn wir uns wie das Alphatier des Rudels fühlen, weil wir ein mörderisches Tempo von 40 km/h vorgeben. Verdammt, diese Adrenalinschübe sind die stärkste Droge der Welt und keine Regierung der Welt kann sie besteuern oder regulieren.

Wir haben ein Scheißglück. Das ist dir klar, oder? Dann hast du noch mal Glück, denn du bist noch keine 90 Jahre alt. Ich auch nicht. Das heißt, wir haben noch Zeit – Zeit, uns zu entscheiden, ob wir mit 90 weinend oder lachend vor diesem Spiegel stehen werden. Dieser Spiegel wird uns nicht verurteilen, ob wir auf Wolke Sieben gelebt oder auf den glühenden Kohlen des Teufels getanzt haben. Der Spiegel wird uns nicht verurteilen, bevor er uns ins Paradies oder in die ewige Verdammnis wirft. Gott sei Dank.

Doch bevor wir an diesem letzten Augenblick der Reflexion angelangt sind, gibt es unendlich viele Alternativen. Du kannst dich entscheiden, ob du dich der Zerstörung von KOMs widmen oder dir eine Auszeit auf Dreck und Schotter gönnen willst, weil dir vom Geruch des heißen Asphalts mittlerweile schlecht wird. Fahr diesen handgefertigten Rahmen, der die Ersparnisse deiner Familie gekostet hat – es kommt wirklich nicht drauf an. Tu alles Menschenmögliche, und tu auch all das, was dir unmöglich erscheint. Du entscheidest.

Das Wichtige ist: Du musst etwas Neues finden.

Diane:
Du wirst auch nicht jünger. Die Zeit, Musik und die Drogen ändern sich. Du kannst nicht den ganzen Tag hier rumhängen und von Heroin und Siggy Pop träumen.
Mark „Rent Boy“ Renton:
Er heisst Iggy Pop.
Diane:
Von mir aus, der Typ ist sowieso tot.
Mark:
Er ist nicht tot, er war im letzten Jahr auf Tour. Tommy hat ihn gesehen.
Diane:
Worum es geht ist: Du musst was Neues finden.*

*aus dem Film Trainspotting, 1996.

Autor: Alberto Álvarez Illustrationen: Julian Lemme


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