Was macht ein Bike für über 10.000 € so besonders, wenn man ein fast identisches Bike von anderen Herstellern für weniger als die Hälfte kriegen kann? Wie bestimmen wir den Wert von Dingen? Und was ist eigentlich wahrer Luxus?

Um über Handwerkskunst, Leidenschaft und modernen Luxus zu diskutieren, haben wir drei Menschen eingeladen, die es wissen müssen: Chris Reitz, den Enkel von Ferry Porsche und ehemaligen Chefdesigner von Alfa Romeo, den Ex-Profi und Unternehmer Christian Meier sowie Ex-Racer, Ingenieur und UNNO-Bikes-Gründer Cesar Rojo.

Die Präzision einer Panerai Radomis 1930, die Silhouette eines Porsche 904 GTS, die Exklusivität eines 100 % handgefertigten Carbonbikes, die Zubereitung eines leckeren Kaffees oder die Faszination eines Custommade-Rennrades – so unterschiedlich die Leidenschaften der Teilnehmer unserer Talkrunde ausfallen mögen, so ähnlich ist ihre Einstellung: Als Kreative, Unternehmer und Visionäre haben sie es geschafft, ihre Träume zu verfolgen.

Im weitläufigen Ambiente des Skye Coffee in Barcelona brachten wir diese drei Individuen zusammen und ließen uns überraschen. Ein jeder durfte seinen Lieblings-Designobjekt mitbringen. Belebt durch eine feine Dosis kräftigen Kaffees verwandelten sich die neugierigen Blicke in hitzige wie tiefgründige Diskussionen, die den Rahmen dieses Magazins sprengen würden. Deshalb folgen hier die spannendsten Highlights.

Alles andere als Standard

Für viele sind die sündhaft teuren Top-Modelle von Santa Cruz oder Specialized nicht mehr exklusiv genug. Boutique-Bikes und exklusive Custom-Aufbauten erleben deshalb eine wahre Renaissance, die Handwerkskunst, Kreativität und Individualismus zelebriert. Im UK sind Custom-Stahl-Fullys angesagt, in Barcelona entwickelt und produziert Cesar Rojo mit UNNO exklusive Carbonbikes in streng limitierter Kleinserie. Custom-Lackierung bei Trek Project One? Wartezeiten von über einem halben Jahr für ein Bike, das gut und gerne 10.000 € kostet, nehmen immer mehr Menschen billigend in Kauf – wenn das Ergebnis nur außergewöhnlich und einzigartig genug ist. Woher kommt die Bereitschaft dazu?

In Zeiten von Massenproduktion und ständiger Verfügbarkeit ist der emotionale Wert eines Produktes immer seltener gegeben. Vieles ist ersetz- oder austauschbar geworden: 1-Click-Buy auf Amazon, Prime-Lieferung, Ding-Dong – keine 24 Stunden vergehen mehr zwischen Bestellungen und Lieferung. Wo bleibt da der Reiz? Christian Meier betont nicht zu Unrecht, dass Wartezeiten nicht nur ein Gefühl der Vorfreude erzeugen, sondern auch eine höhere Wertschätzung erlauben und dem Käufer die Zeit geben, eine emotionale Bindung zum Produkt aufzubauen. Der persönliche Austausch mit dem Schöpfer deines Objekts der Begierde, das Wissen, dass eine Person mit Handwerkskunst und Liebe zum Detail etwas Individuelles nur für dich erschafft und das sehnsüchtige Warten auf die Fertigstellung deines Produkts – das alles ist weit mehr wert als ein Klick auf Amazon. Als Kaffee-Narr und Besitzer von zwei der besten Cafés in Girona (es gibt Nordamerikaner, die nur wegen seines Kaffees eine Reise nach Girona unternehmen!) weiß Christian, dass Menschen nicht nur wegen des guten Kaffees zu ihm kommen. Sondern auch, weil sie den kurzen menschlichen Kontakt am Morgen suchen: ein freundliches Hallo und ein zwischenmenschliches Element, das ein Kaffeeautomat zu Hause nicht bieten kann.

Ist Back to Basics also das Vintage, von dem alle reden? Betrachtet man moderne Stahlbikes. könnte man es fast denken, aber der Schein trügt. Zeitloses Design und ein Sinn für Tradition heißen noch lange nicht, dass etwas nicht up to date sein kann. Uhren sind das beste Beispiel: Viele Modelle bewahren den Vintage-Charakter mit klassischen Formen, gehen technisch aber absolut mit der Zeit. Die Uhrenbranche mag verstaubt wirken, ist aber unglaublich innovativ. Ein Beispiel sind magnetische Felder, wie sie von Induktionskochfeldern oder iPads ausgelöst werden; sie können die Präzision einer Uhr ernsthaft beeinflussen. Während der Look der Uhr gleich bleibt, werden also permanent technische Details geändert, wird mit Materialien experimentiert, um in der sich ändernden Umgebung eine zeitgemäße Performance abzuliefern.

Und genauso ist es mit den Stahlbikes. Optisch sind sie zeitlos, doch technisch gibt es einige Modelle, die absolut zeitgemäß und modern sind. Trendig geformte Carbonmodelle hingegen sind wie Apple-Watches: spannend und innovativ – aber dabei der rasanten Entwicklung so stark unterworfen, dass man ihnen schon nach kurzer Zeit ansieht, wie alt sie sind. Wer vererbt schon eine Apple Watch an seinen Sohn?

Doch es geht nicht nur um das Design, sondern auch um die Funktion. Beleuchtet man die anhaltende Popularität der Caféracer, dann merkt man, dass es sich um zeitlose Spaßmaschinen handelt. Es sind simplere Produkte, die jeder verstehen und reparieren kann. Das Designstudio von Chris Reitz modernisiert und individualisiert unter anderem alte Triumph-Modelle. Für viele seiner Kunden ist die Performance moderner Motorräder so extrem und fast schon gefährlich geworden, dass sie sich nach gemütlicheren und zeitloseren Modellen sehnen, die dem permanenten Wettrüsten gänzlich entsagen.

Ist Carbon noch besonders?

Ganz sicher nicht! Denn mittlerweile kommt es nicht auf das Was, sondern auf das Wie an. Mit Carbon kann man nach wie vor vollkommen andere Rahmendesigns realisieren. Dennoch gibt es auch im Carbonrahmenbau beeindruckende Handwerkskunst. Cesar hat die Carbonfertigung mit UNNO Bikes auf die Spitze getrieben: Auf 15 Stück limitierte Modellzahlen, alles in Barcelona handgefertigt – von der CNC-Form über die Carbon-Schnipsel bis hin zum Carbon-Legen, Backen und Finish. Wow. Die gleiche Faszination strahlt der 904 GTS aus, dessen Karosserie erstmalig aus Verbundwerkstoffen gefertigt wurde und der mit seinen fließenden Formen Designer-Herzen schmelzen lässt.

„Fahrräder sind echte Retro-Produkte“, sagt Cesar Rojo, „auch wenn sie aus Carbon sind.“ Denn es kommt nicht nur auf das Produkt an, sondern auch darauf, wie es genutzt wird. Ungeachtet der technischen Innovationen, der elektronischen Schaltungen und Fahrwerke, ein Rad ist für die meisten Personen noch immer ein analoges Produkt: Aufsteigen, lostreten – simpel.

Für 29.700 DM wurde der damals auf rund 100 Stück limitierte 904 GTS unter dem Namen Carrera GTS vertrieben. Heute werden einzelne Modelle für über 2 Mio € versteigert. Was definiert also den Preis, was den Wert eines Luxusproduktes?

Traditionellerweise sind Luxusprodukte sehr teuer und exklusiv, wie Chris aber auch sagt „oftmals nutzlos“. Es wäre zu einfach, „teuer“ und „als Luxus anerkannt“ mit wahrem Luxus gleichzusetzen, schließlich hängt die Definition von jedem Einzelnen ab. Luxus muss in diesem Kontext nicht einmal produktbezogen sein, für viele ist es Zeit oder ein besonderes Erlebnis, für andere ein Fernseher oder ein Kühlschrank. Je unsicherer man selbst ist, desto eher klammert man sich an die gesellschaftlich anerkannten Status- und Luxussymbole.

„Abschalten zu können ist ein wahrer Luxus“, wirft Christian ein. „Warum soll ich überhaupt abschalten wollen?“, kommt der Einwand. „Zeit ist ein wahrer Luxus.“ „Warum Zeit nehmen, wenn man bereits macht, was einem gefällt?“ Das Resümee eines langen Diskussionsabends bringt uns an den Anfang unserer Betrachtung zurück: Leidenschaft. Sie bestimmt, wie viel Emotionen, Geld und Zeit wir bereit sind, zu investieren, sie ist die irrationale wie unberechenbare Kenngröße des wahren Luxus. Denn was ist schon etwas wert, wenn es einem selbst nichts wert ist?


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Text: Charles Nicholson, Robin Schmitt Fotos: Brazo de Hierro