Unter der Bezeichnung „Gran Fondo“ kursieren mittlerweile die unterschiedlichsten Interpretationen des italienischen Rennformats. Höchste Zeit also, Klarheit zu schaffen! Was steckt hinter der Tradition? Warum kann man manche Gran Fondos gewinnen, manche nicht? Und wer braucht einen Gregario?

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Die Tradition des Gran Fondo geht zurück auf den Kern der italienischen Radsport-Szene: wettkampforientiert, fast schon rücksichtslos, und Vollgas von der ersten bis zur letzten Pedalumdrehung. Typischerweise genießen Nachwuchsfahrer im italienischen Profizirkus Welpenschutz bis zum Alter von 25 Jahren. Danach haben sie drei Optionen:

1. Im Idealfall bekommen sie einen Profivertrag und steigen auf zu Höherem und Besserem.
2. Sie hängen melodramatisch ihr Rad an den Nagel und betrauern das Ende ihrer Radsportkarriere mit Geschichten, die mit Sätzen beginnen wie „Eigentlich war ich für eine Profikarriere bestimmt, aber …“.
3. Sie entscheiden sich dafür, Gran Fondos zu fahren.

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Und genau das ist der Grund, warum Gran Fondos so verdammt hart sind. Als Plan B für unzählige gescheiterte Radprofis geht es in den ersten Reihen von Gran Fondos schnell zu, um nicht zu sagen: sehr schnell. Fügt man dem noch eine Prise Prestige, etwas ewiges Lokalheldentum und ein sattes Preisgeld hinzu, bekommt man eine ungefähre Vorstellung davon, wie unglaublich kompetitiv Gran Fondos sind – aber wir sprechen hier ausdrücklich von echten, italienischen Gran Fondos. Es geht jedoch nicht nur um Taktik, Renn-Funk und Teamfahrzeuge, das trifft nur auf einen Bruchteil der Tausenden zu, die an diesen Veranstaltungen teilnehmen (schließlich heißen sie nicht umsonst Breitensportevents). Wenn man diese Events mit irgendetwas direkt vergleichen möchte, wäre das am ehesten ein Marathonlauf. Bei Gran Fondos startet man, ähnlich wie bei großen Stadtmarathons, mit den Besten der Welt im selben Rennen. Und genau wie in London, Berlin oder Boston gibt es vorn ein Rennen, während weiter hinten die Leute darum kämpfen, einfach nur ins Ziel zu kommen.

Welchen Namen man also einer solchen Massenradveranstaltung auch immer geben mag – sei es Sportive, Cyclosportive, Sportif oder Étape – einiges ist immer gleich. Dem Großteil der Fahrer geht es bei Gran Fondos darum, an wunderschönen Orten Rad zu fahren, sich mit Gleichgesinnten anzufreunden und im Anschluss leckere lokale Spezialitäten zu genießen. Selbst mit einer Podiums-Platzierung erhält man noch lange keinen Profivertrag. Vielleicht lässt ein Podium kurzzeitig das „Was wäre wenn?“ aus den Gedanken verschwinden und streichelt das geschundene Ego ein wenig, aber letztendlich sind diese Events keine World-Tour-Klassiker – obwohl man angesichts des Gedrängels und der aufgeheizten Stimmung in der Spitzengruppe vor dem ersten großen Anstieg schnell feststellt, dass sich diese Info nicht zu allen durchgesprochen hat.

La pancia della gara [Das Innerste des Rennens]

Fahrer und Grundprinzipien der italienischen Szene mal beiseitegelassen, bestehen Gran Fondos traditionell aus drei unterschiedlichen Strecken: corto (kurz), medio (mittel) und lungo (volle Distanz). Das macht sie für alle Fahrertypen zugänglich – obwohl man immer im Hinterkopf behalten sollte, dass wir hier von Italien reden. Geh also davon aus, dass die Anstiege steil und hart sind.

Die meisten dieser Events bestehen aus einer großen Runde. Aber wenn sich deine Beine am Renntag nicht so anfühlen, wie sie sollten, besteht häufig die Möglichkeit, würdevoll auf eine kürzere Strecke abzubiegen. Leider werden nur ein paar der größten Gran Fondos in Italien auf gesperrten Straßen ausgetragen. Der Rest findet mit Verkehrsregelung statt oder mit Polizeieskorte und zwischen dieser und dem Besenwagen genießen die Radfahrer Vorfahrt.

Gran Fondos sind als Rennformat auf das Jahr 1970 und auf Nove Colli zurückzuführen. Wie der Name vermuten lässt, führt der Nove Colli über neun Anstiege und zählt noch heute zu den populärsten Veranstaltungen des Landes. Das wird allein durch die Teilnehmerzahlen klar, wenn tausende Fahrer in Startwellen auf die Strecke geschickt werden und Staus am ersten Anstieg entstehen. Wenn es um die wahre Essenz des Gran Fondos gehen soll, empfehlen wir den Maratona dles Dolomites und La Campionissimo – beide mit Rennethos in Reinform, das die besten Fahrer Italiens anlockt.

Heutzutage geht es bei Gran Fondos nicht mehr nur um Positionen oder Streckenrekorde, obwohl die Gewinner normalerweise mit großem Getöse quer durch Italien gefeiert werden. Der Kern dieser Events sind die Tausenden Fahrer, die wegen der simplen Freude an der Sache einige der fordernsten Radrouten abkurbeln. Auch die Ergebnisse fallen unterschiedlich aus, da einige Events rechtlich dazu verpflichtet sind, die Finisher-Namen in alphabetischer Reihenfolge aufzulisten anstatt wie üblich nach Platzierung; das hängt jedoch vom Land, der jeweiligen Gesetzgebung und auch von der Tradition ab.

Italien im Vergleich zu Deutschland:

Die Situation in Deutschland stellt in gewisser Weise eine Besonderheit dar. Die Dopingaffäre um Telekom in den 00er Jahren wirft auch heute noch einen langen Schatten auf den Profi-Radsport und so hat sich abseits des Lizenzsports eine eigene unabhängige Rennszene gebildet. Mittlerweile haben die „Jedermann-Rennen“ allerdings nur noch wenig mit dem Ursprungsgedanken gemein. Der BDR (Bund Deutscher Radfahrer) hat sich der Rennen angenommen, nachdem diese rasch an Popularität gewonnen hatten, und organisiert mittlerweile sogar eine Deutsche Meisterschaft (German Cycling Cup). Startberechtigt sind auch Lizenzinhaber und so manches Jedermann-Team ist besser organisiert als Bundesligamannschaften. Die Preisgelder sind höher, die Kurse interessanter und so zieht es viele in diese neue „Rennklasse“ ab, worunter der lizensierte Amateurradsport in Deutschland aktuell stark zu leiden hat. In der Dynamik stellen Jedermann-Rennen wohl das Pendant zum klassischen Gran Fondo dar – dennoch zeigt der deutsche Markt hier eine große Lücke, die es in Zukunft zu füllen gilt!

Für weniger rennorientierte Fahrer gibt es in Deutschland die „Radtourenfahrt“, kurz RTF. Bei diesen Veranstaltungen rückt der Wettkampfgedanke in den Hintergrund. Obwohl weder Zeiten genommen noch Platzierungen ausgefahren werden, kann das Tempo durchaus hoch sein, sodass ein bisschen Rennfeeling aufkommt. Auf den ausgeschilderten Strecken gilt es diverse Kontrollstellen und Verpflegungspunkte zu passieren – Straßensperrungen gibt es in der Regel keine. Die Streckenführung bemüht sich häufig, die touristischen Highlights der Region abzudecken, und so ist es nicht verwunderlich, dass „RTF“ früher auch als Radtouristikfernfahrt beschrieben wurde. Trotzdem sollte man nicht auf sein Rennrad verzichten, denn mit einer Wochenendtour für die Familie haben RTFs dann doch nichts gemein.

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Italien im Vergleich zum Rest Europas:

Breitensport-Radveranstaltungen gibt es in ganz Europa, obwohl die erfolgreiche Adaption des Massenstarts nach Gran-Fondo-Manier und des Ethos der Teilnehmer nur in Frankreich und Österreich wirklich funktioniert hat, und zwar in Form der französischen Cyclosportives wie Marmotte und Trois Ballons und der österreichischen Berggiganten Ötztaler Radmarathon, Giro d’Arlberg und so weiter. Dann gibt es da noch ein paar andere spezielle Events in Europa (z. B. Mallorca 312), die den Gran-Fondo-Massenstart und das Ethos der Teilnehmermassen effektiv umgesetzt haben. Events wie L’Étape du Tour oder Sportives im Vereinigten Königreich haben entweder ein Startfenster (den sogenannten französischen Start) oder schicken die Teilnehmer stoßweise auf die Strecke, um das Verkehrsaufkommen auf den Straßen zu entzerren. Auf dem Papier mag kein großer Unterschied ersichtlich sein, aber diese Staffelstarts stehen in großem Kontrast zu den Massenstarts der Gran Fondos im italienischen Stil, bei denen man unbedingt Erfahrung darin haben sollte, in großen Gruppen zu fahren – stell dich darauf ein, dass es ein ziemlich nervöses Gezerre im Feld sein wird, bis ihr an den ersten Anstieg kommt.

Um die prekäre Situation für weibliche Teilnehmer etwas zu beruhigen, lassen manche Gran-Fondo-Organisatoren die Frauen aus dem ersten Startblock starten – egal auf welchem Leistungsniveau sie sind. Es ist tendenziell verstörend anzuschauen, wenn in der ersten Gruppe die Frauen mit starrem Blick ihr Bestes tun, um die Arroganz und Aggressivität der Testosteron-Bomber um sich herum von sich fernzuhalten. Unvergessen der Gran Fondo Marco Pantani 2011, bei dem eine der Top-Frauen hartnäckig alle männlichen Fahrer ohrfeigte, die ihr und ihrem Gregario zu nahe kamen. Was – oder wer – ist ein Gregario? Gregarios sind die besten Freunde, Bodyguards und Windfänger der weiblichen Fahrer für diesen Tag, die sie im Grunde genommen über die Strecke ziehen. Das gehört zur üblichen Praxis in italienischen Gran Fondos, also nicht aufregen oder überrascht reagieren, wenn du von einem solchen Paar überholt wirst. Denn diese Ladys sind stark. Dennoch hilft es, einen Windschattengeber zu haben, wenn man durch ein 60 km langes Tal kurbeln muss. An alle Frauen da draußen: Für Wettkämpfe kann es eine gute Idee sein, sich einen Freund bzw. Gregario zu suchen.

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Italien im Vergleich zum Rest der Welt

Ein weiteres Land, das vor Kurzem den Begriff „Gran Fondo“ für seine Events übernommen hat, sind die USA. Inzwischen schießen dort immens viele Gran Fondos aus dem Boden, darunter der Gran Fondo New York, der Gran Fondo Hincapie oder der Gran Fondo Levi Leipheimer. Dadurch lässt sich nur schwer feststellen, welche Rennen den original italienischen Rennflair verströmen – und welche einfach nur Gran Fondo heißen.

Es heißt, der Gran Fondo New York sei den italienischen Gran Fondos meisterhaft nachempfunden und ziehe viele Hardcore-Rennfahrer aus der ganzen Welt an, um es mit den lokalen Topfahrern aufzunehmen. Interessant für viele Fahrer dürfte sein, dass die neueren amerikanischen Inkarnationen des Gran Fondo Massenstart-Events sind, bei denen nur in den Anstiegen die Zeit genommen wird. Eine verführerische Option, wenn man auf einen etwas entspannteren Tag in einem organisierten Fahrerfeld aus ist, stellt der Gran Fondo Hincapie dar. Er hat sich als anständige Alternative mit einem anderen Gran-Fondo-Ansatz einen Namen gemacht.

Doch auch, wenn wir mehr als überzeugt davon sind, dass es sich um großartige Events handelt, die ihre Teilnehmer durch einige der schönsten Regionen der USA führen, werden die Traditionalisten unter uns immer darauf beharren, dass Gran Fondos nur in Italien stattfinden. Außerdem verlangt die amerikanische Gesetzgebung, dass sich die Fahrer an die Straßenverkehrsordnung halten, die – hier sind wir uns sicher einig – in Italien eher freimütig interpretiert wird. Schließlich ist es dem Sieg nicht gerade zuträglich, an Ampeln und Stoppschildern anhalten zu müssen. Wenige, sehr gut organisierte Rennen in den USA haben jedoch durch Zusammenarbeit (und das Zahlen von hohen Gebühren) mit der Polizei und den Behörden auch durchweg gesperrte Straßen und damit einen reibungslosen Ablauf.

Weshalb auch immer du also an Gran Fondos teilnimmst, sei es wegen Ruhm und Reichtum, um eine gescheiterte Profi-Karriere wettzumachen, deinen Körper an seine Grenzen zu bringen oder einfach über Strecken zu radeln, die Teil der Radsportgeschichte sind – eines haben alle Rennen gemeinsam: massenhaft spektakuläre Routen und die tolle Atmosphäre am Ende. Und für alle, die nicht in den Alpen wohnen, sind sie ein toller Grund, dort einmal hinzureisen und die Anstiege zu erklimmen, die man sonst nur vom Fernsehen kennt. Außerdem beginnt der beste Teil des Gran Fondo sowieso erst hinter der Ziellinie: mit einem wohlverdienten Bier.


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Text: Johan Filberto Fotos: Johan Filberto, Noah Haxel, Robin Schmitt, GFNY, Freddy Planinschek